olken

- Charles M. Schulz, Nobody's perfect, Charlie Brown. Greenwich Conn. 1968 (Fawcett Crest, zuerst ca. 1962)

Wolke (2) Einmal vor dem Ausbruch der Pest, ich glaube, es war im März, sah ich eine Menschenmenge auf der Straße, und ich schloß mich zur Befriedigung meiner Neugier an und fand, daß sie alle in die Luft starrten, um zu sehen, was einer Frau nach deren Aussage deutlich erschien, und das war ein weißgekleideter Engel, der ein feuriges Schwert in der Hand hatte und es über seinem Haupt schwang oder schwenkte. Sie beschrieb jeden Teil der Gestalt eindringlich, zeigte ihnen die Bewegung und die Form, und das arme Volk ging darauf so eifrig und bereitwillig ein: »Ja! ich sehe es ganz deutlich!« sagte einer, »da ist das Schwert, so deutlich, wie es nur sein kann. « Ein anderer sah den Engel; einer sah sein Gesicht ganz genau und rief aus: »Was für ein herrliches Geschöpf er war!« Einer sah dies, ein anderer jenes. Ich sah ebenso ernstlich wie die anderen hin, aber vielleicht nicht mit soviel Bereitwilligkeit, mich täuschen zu lassen, und ich erklärte, ich könne nichts weiter als eine weiße Wolke sehen, die auf einer Seite leuchtete, da die Sonne auf der anderen schien. Das Weib gab sich alle Mühe, es mir zu zeigen, konnte mich aber nicht zu einem Zeugnis bringen, daß ich es sähe, was ich freilich hätte lügen müssen; aber als sich die Frau mir zuwandte, um mir ins Gesicht zu blicken, bildete sie sich ein, ich lache — worin ihre Einbildungskraft sie auch täuschte, denn ich lachte wirklich nicht, sondern dachte ernstlich darüber nach, wie sehr die armen Leute durch die Gewalt ihrer eigenen Einbildung in Schrecken versetzt waren Jedenfalls wandte sie sich von mir ab, nannte mich einen gottlosen Kerl und Spötter und stellte mir vor, es sei eine Zeit des göttlichen Zorns und es nahten schreckliche Strafgerichte, und Verächter so wie ich würden sich wundern und verderben. - Daniel Defoe, Die Pest in London. München 1968 (zuerst 1722)

Wolke (3) Der weitere Weg war zwar technisch wesentlich einfacher, aber die rostknirschenden toten Sträucher wichen einer fettigen, glänzenden, schwarzen Masse. Ihre Drahtknäuel waren wie mit kleinen Beeren mit jenen Verdickungen besetzt, die er sofort erkannte.

Hin und wieder schwärmten leise summende Rauchwölkchen daraus hervor und kreisten in der Luft — dann erstarrte er jedesmal, aber nicht lange, sonst hätte er nie die Talsohle erreicht. Eine Weile schob er sich rittlings weiter. Dann wurde der Felsrücken breiter und weniger steil, so daß er absteigen konnte, allerdings nicht mühelos und nicht, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Aber ihm wurde gar nicht bewußt, wie weit er bei dem langen Abstieg schon vorangekommen war, weil seine Aufmerksamkeit geteilt, auf beide Seiten zugleich gerichtet war. Bisweilen mußte er so dicht an den stäubenden Büschen vorbei, daß ihre pinselähnlichen Drähte die Falten seines Schutzanzuges streiften. Doch nicht ein einziges Mal näherten sich ihm die über ihm dahinsegelnden, im Sonnenlicht funkelnden Wölkchen. Als er endlich auf der Geröllhalde stand, nur wenige Meter von dem mit knochenharten, weißen Steinen besäten Grund der Schlucht entfernt, war es kurz vor zwölf Uhr. Er war bereits unterhalb der Sträucherzone. Den Hang, den er hinabgestiegen war, beleuchtete zur Hälfte die hohe Sonne. Jetzt hätte er die bisherige Wegstrecke überblicken können, aber er wandte sich nicht um. Er lief bergab, versuchte das Körpergewicht von einem Bein auf das andere zu verlagern, sprang von Stein zu Stein, so schnell er nur konnte, aber das bröckelige Geröll der Halde folgte ihm rasselnd und polternd, und plötzlich, ganz in der Nähe des ausgetrockneten Baches, rutschte es unter ihm weg, und er stürzte so heftig zu Boden, daß sich die Sauerstoffmaske verschob und er einige Dutzend Meter den Hang hinunterrollte. Schon hatte er sich wieder hochgerissen, um trotz seiner Verletzungen weiterzulaufen, weil er fürchtete, den Mann, den er von oben gesehen hatte, aus den Augen zu verlieren — beide Hänge, besonders aber der Hang gegenüber, waren voll dunkler Grotteneingänge —, als ihn etwas warnte. Und ehe er begriffen hatte, fiel er wieder auf die scharfkantigen Steine und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen. Ein leichter Schatten senkte sich von oben auf ihn herunter, und mit einem monotonen, anwachsenden, vom Pfeifen bis zum Baßgedröhn alle Register umfassenden Brausen zog ein formloses, schwarzes Wolkenknäuel heran und hüllte ihn ein, Er hätte vielleicht die Augen schließen sollen; aber er tat es nicht. Er dachte noch, der kleine, in den Schutzanzug eingenähte Apparat möge durch den heftigen Sturz nicht gelitten haben; dann versank er in Reglosigkeit, die er sich selbst gebot. Er bewegte nicht einmal die Augäpfel, und doch sah er, daß die kribbelnde Wolke über ihm stehenblieb und einen träge züngelnden Arm ausstreckte. Das Ende dieses Arms konnte er von nahem betrachten, es sah aus wie die Öffnung eines tintenschwarzen Strudels.

Auf der Kopfhaut, auf den Wangen, auf dem ganzen Gesicht spürte er einen tausendfachen, warmen Lufthauch wie einen aus Millionen winziger Teilchen bestehenden Atem. Etwas streifte in Brusthöhe seinen Schutzanzug. Fast völlige Finsternis umfing ihn. Mit einemmal wich der Arm, der sich wie eine kleine Lufttrombe krümmte, in die Wolke zurück. Das Summen wurde schrill. Die Zähne taten ihm weh davon, er spürte es mitten im Kopf. Da ließ es nach. Die Wolke stieg fast senkrecht hoch, wurde ein schwarzer Nebel, der sich von einem Hang zum anderen ausbreitete, zerfiel in einzelne, konzentrisch schwirrende Knäuel, kroch in den steifen Gestrüppelz und verschwand. Lange Zeit noch lag er reglos und wie tot. Ihn durchfuhr der Gedanke, nun sei es vielleicht schon soweit. Nun wisse er nicht mehr, wer er sei, wie er hierhergekommen sei und was er hier zu suchen habe. Und bei diesem Gedanken übermannte ihn eine solche Angst, daß er sich mit einem Ruck aufsetzte. Plötzlich mußte er lachen. Wenn er das denken konnte, so hieß das doch, daß er verschont geblieben war, daß ihm die Wolke nichts angetan, daß er sie überlistet hatte. Er bemühte sich, dieses kitzelnde, idiotische Lachen zu unterdrücken, das ihm in die Kehle gestiegen war und nun seinen ganzen Körper schüttelte. - Stanislaw Lem, Der Unbesiegbare. Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1964)

Wolken (4)

Wolken entstehn, wenn im Fluge sich rauhere Urelemente
Zahlreich plötzlich vereinen im oberen Himmelsbezirke,
Die zwar nur mit kleinen, sie hemmenden Haken versehen,
Aber dadurch doch imstand sind, sich gegenseitig zu fassen.
Diese bewirken zuerst die Entstehung winziger Wölkchen,
Die sie dann wieder erfassen und untereinander verbinden.
Durch die Verbindung wachsen sie aus und treiben im Winde,
Bis sich daraus urplötzlich entlädt ein grausiges Wetter.
Auch kommt's vor, daß die Berge, je mehr die Gipfel dem Himmel
Nahe benachbart sind, um so mehr von dichtestem Brodem
Gelblichdunklen Gewölkes beständig umlagert sich zeigen.
Denn da die Wolken zuerst, bevor noch das Auge sie wahrnimmt,
Nur aus dünnem Gewebe bestehn, so trägt sie der Wind fort
Und verdichtet sie dann um die höchsten Gipfel der Berge.
Hier erst, wenn sich von ihnen ein größerer Haufen geballt hat,
Können sie durch die Verdichtung uns sichtbar werden. Zugleich auch
Scheinen sie grad von dem Gipfel des Bergs in den Äther zu steigen.
Denn der Wind beherrscht ja die Höhen. Dies lehrt uns die Sache
Selbst und unser Gefühl beim Besteigen der hohen Gebirge.
Übrigens hebt die Natur auch gewaltige Mengen des Stoffes
Rings aus dem Meere empor, wie ein aufgehängtes Gewandstück
An dem Strande beweist, das die salzige Feuchtigkeit anzieht.
Um so mehr muß der Dunst, der aus der Bewegung der Salzflut
Reichlich empor sich hebt, die Vermehrung der Wolken bewirken.
Sind ja doch sämtliche Arten von Feuchtigkeit innig verschwistert.
Ferner bemerken wir oft, wie aus sämtlichen Flüssen, ja grade
Auch aus der Erde heraus sich Nebel und Schwaden emporhebt,
Der wie ein Odem aus ihnen erpreßt und nach oben geführt wird.
Hier umzieht er den Himmel mit seiner Verfinsterung und liefert
So dem Gewölke Ersatz, sobald sie die Dünste vereinigt.
Auch von oben her drücken die Gluten der Tierkreissphäre
Und umziehen des Himmels Blau mit verdichteten Wolken.
Auch kommt's vor, daß von außen in unseren Himmel geraten
Jene Atome, die Wolken und fliegende Schwaden erzeugen.
Solche sind zahllos, wie ich gelehrt, und das All in der Tiefe
Dehnt ohn' Ende sich aus. Ich zeigte die riesige Schnelle,
Die sie im Fliegen entwickeln, und wie sie daher es gewohnt sind, Unaussprechbare Räume in einem Moment zu durcheilen.
Wunderbar ist's drum nicht, wenn oft in der kürzesten Zeit sich
Finsteres Wetter erhebt aus hochaufragenden Wolken
Und von oben her drohend die Länder bedeckt und die Meere.
Ist doch den Urelementen durch alle Kanäle des Äthers,
Wie durch Atemorgane des großen Weltengeschöpfes,
Offen nach allen Seiten der Eingang sowohl wie der Ausgang.

- (luk)

Wolken (5)  Es ist heiß; zu unserer Rechten nähert sich ein Chamsinwirbel vom Nil her, von dem man mit Mühe noch ein paar Palmen sehen kann, die seinen Küstensaum bilden; der Wirbelwind wird immer größer und stürmt auf uns zu, er gleicht einer riesigen, senkrechten Wolke, die lange, bevor sie uns einhüllt, über unseren Köpfen dräut, während ihr Sockel, rechts, noch weit von uns entfernt ist. Sie ist rotbraun und blaßrot, wir stecken mittendrin; wir kreuzen eine Karawane, die in ihre Coufiehs gehüllten Männer (die Frauen sind ganz verschleiert) sind über den Hals der Dromedare gebeugt; sie ziehen ganz dicht an uns vorüber, es fällt kein Wort, gleichsam Gespenster in Wolken. Ich spüre, wie so etwas wie ein Gefühl des Schreckens und wilder Bewunderung mir den Rücken herunterläuft, ich grinse nervös, ich muß jedenfalls sehr blaß gewesen sein, und ich verspürte in unerhörtem Maße Lust. Während die Karawane vorbeizog, kam es mir vor, als ob die Kamele den Boden gar nicht berührten, als bewegten sie sich wie ein Schiff mit ihrem Bug fort, als würden sie davongetragen und weit über den Boden gehoben, so als wandelten sie in Wolken, in denen sie bis zum Bauch eingesunken wären.  - (orient)

Wolken (6)  Der gemeine Mann, der den Aufenthalt der Lemminge nicht gewußt, hat geglaubt, daß sie vom Himmel heruntergeregnet wären. Andere, daß die Wolken dieselben mit sich von den Bergen genommen und sie solchergestalt herunter gekommen seien; welches dem Olaus Wormius viel Kopfzerbrechens gemacht, wie er dieses durch eine gleichmäßige Begebenheit bei den Fröschen und andern Tieren erklären möchte, welches doch kein Naturkündiger unserer Zeiten glauben kann. Es sind aber noch heutzutage einige in und um Lappland herum, die da glauben, daß die Wolken die Lappländer und Rentiere, so den Gebirgen reisen, mit wegführen können und daß die Lappen deshalben, sobald sie sich von den Wolken umgeben sehen, stille zu liegen genötiget sind, damit sie dieselben nicht mit sich fortführen mögen. - (lin)

Wolke (7)   In den Vorgebirgen des neuen und gewaltigen Gebirgsmassivs, das sich auf dem Gebiet des früheren Hindukusch erhob, befanden sich viele Ferienorte, von denen aus die jungen Männer und Frauen Asiens in die Berge aufzubrechen pflegten, um sich dort bei den Gefahren und Strapazen eines Bergsteigerdaseins seelisch zu erfrischen. Kurz nach Anbruch eines Sommertages wurden die Marsbewohner in dieser Gegend von den Menschen zum ersten Mal gesehen. Frühaufsteher entdeckten bei ihrem Spaziergang, daß der Himmel auf unerklärliche Weise eine grünliche Tönung bekommen hatte und daß die aufsteigende Sonne nur schwach schimmerte, obwohl die Luft wolkenlos war. Plötzlich verfolgten sie ganz überrascht, wie sich die grünliche Tönung in Tausenden winziger Wölkchen konzentrierte und dazwischen das klare Blau des Himmels freigab. Mit Feldstechern ließ sich inmitten jeder einzelnen Wolke die Andeutung eines rötlichen Kerns erkennen, daneben sich hin-und herbewegende ultraviolette Farbstreifen, die früheren Menschen unsichtbar geblieben wären. Diese ungewöhnlichen Wolkenflecken waren alle ungefähr gleich groß, und der größte erschien aus der Entfernung kleiner als der Mond. Der Form nach gab es aber große Unterschiede, und die ›Wolken‹ veränderten ihre Gestalt weit schneller als etwa Zirruswolken, denen sie entfernt ähnelten. Obwohl diese Phänomene in Form und Bewegung viel mit Wolken gemeinsam hatten, schien etwas Bestimmtes in ihrer Gliederung und ihrem Verhalten Leben anzudeuten. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit amöbenhaften Organismen, die man durch ein Mikroskop betrachtet.

Überall war der Himmel damit voll, mal bildeten sie eine zusammenhängende grüne Fläche, mal verhüllten sie das Blau spärlicher. Es ließ sich eine Bewegung feststellen. Sie nahmen allgemeine Richtung auf einen der schneebedeckten Berggipfel, der die Landschaft beherrschte. Schließlich erreichten die Vordersten den Bergkamm, und man sah sie sehr langsam wie Amöben die Vorderseite des Felsens heruntergleiten.

Mittlerweile waren ein paar mit Elektrizität angetriebene Flugzeuge aufgestiegen, um die seltsame Erscheinung aus der Nähe zu untersuchen. Sie flogen durch die dahintreibenden Wölkchen hindurch und wurden auf keine Weise behindert, auch wurden sie nicht einmal durch ihre Bewegung in diesem grünen Wolkenstrom der Sicht von der Erde her entzogen.

Im Gebirge sammelte sich ein großer Schwärm dieser Wolken und kroch die Abhänge und Schneefelder herunter in ein hochgelegenes Gletschertal. An einer bestimmten Stelle, wo der Gletscher steil auf ein darunterliegendes Plateau abfiel, verlangsamte sich das Tempo der Vordersten, bis sie schließlich anhielten und die Darauffolgenden aufschließen konnten. Nach einer halben Stunde war der Himmel wieder ganz klar, abgesehen von normalen Wolken. Über dem Gletscher aber lag etwas, das wie eine außergewöhnlich dunkle und undurchsichtige Gewitterwolke aussah, wenn man von ihrer grünen Färbung und einer Art siedender Bewegung absah. Einige Minuten lang sah man diese seltsame Masse sich auf einen geringeren Umfang konzentrieren und noch dunkler werden. Dann bewegte sie sich wieder weiter über das felsige Ende des Gletschers hinaus in eine mit Nadelbäumen bestandene talartige Senke hinein. - Olaf Stapledon, Die letzten und die ersten Menschen. München 1983 (Heyne 06/21, zuerst 1930)

Wolke (8)    Die Wolken nahmen jetzt beide Seiten der Schlucht ein. Durch ihre schwarzen Knäuel schien eine Art ordnender Strom zu fließen, denn sie verdichteten sich an den Rändern, und ihre Innenflächen wölbten sich immer mehr und strebten einander zu. Es war gerade so, als formte sie ein riesiger Bildhauer mit ungemein raschen, unsichtbaren Handgriffen. Einige kurze Entladungen durchzuckten die Luft zwischen den am engsten benachbarten Punkten der beiden Wolken. Sie schienen aufeinander zuzurasen, und doch blieb jede auf ihrer Seite, und nur ihre mittleren Knäuel flatterten in heftigerem Rhythmus. Der Lichtschein dieser Blitze war sonderbar dunkel. Beide Wolken flammten sekundenlang darin auf wie Milliarden im Flug erstarrter silbrigschwarzer Kristalle. Sobald dann die Felsen schwach und dumpf, als hätte plötzlich ein schalldämpfender Stoff sie überzogen, das Echo der Donnerschläge mehrmals zurückgeworfen hatten, vereinigten sich beide Seiten des schwarzen Meeres bebend und bis zum letzten angespannt und flössen ineinander. Die Luft darunter verfinsterte sich, als wäre die Sonne untergegangen, und zugleich tauchten unbegreifliche, jagende Linien darin auf, und Rohan begriff erst nach einer geraumen Weile, daß er das grotesk verzerrte Spiegelbild der Talsohle vor sich hatte. Unterdessen wogten die Luftspiegel unter der Wolkendecke und dehnten sich, bis er mit einemmal eine riesenhafte, mit dem Kopf in die Finsternis hineinragende menschliche Gestalt erblickte, die ihn reglos anstarrte, obwohl das Bild selbst unablässig bebte und tanzte, als flammte es auf und erlöschte wieder in einem fortwährenden, geheimnisvollen Rhythmus. Und abermals vergingen Sekunden, bevor er darin das eigene, in dem leeren Raum zwischen den seitlichen Lappen der beiden Wolken schwebende Spiegelbild erkannte. Er war so erstaunt, so gelähmt von dem unbegreiflichen Tun der Wolke, daß er alles vergaß. Er dachte, daß die Wolke vielleicht von ihm, von der mikroskopischen Anwesenheit des letzten, lebenden Menschen inmitten des Gesteins wisse, aber auch dieser Gedanke schreckte ihn nicht. Keineswegs, weil er zu unwahrscheinlich gewesen wäre — er hielt nichts mehr für unmöglich —, es drängte ihn einfach, an diesem düsteren Mysterium teilzuhaben, dessen Bedeutung er — da war er ganz sicher — niemals begreifen würde. Sein gigantisches Spiegelbild, durch das die fernen Felshänge schwach hindurchschimmerten, zerfloß in den oberen Talpartien, die der Schatten der Wolke nicht erreichte. Zugleich schoben sich aus der Wolke unzählige Arme hervor. Wenn sie einige aufgesaugt hatte, dann erschienen an ihrer Statt andere. Ein schwarzer Regen fiel, der immer dichter wurde. Winzige Kristalle stoben auf Rohan herab, streiften seinen Kopf, glitten am Schutzanzug hinunter, sammelten sich in den Falten. Der schwarze Regen hielt an, und die Stimme der Wolke, dieses Tosen, das nicht nur das Tal, sondern offenbar die ganze Atmosphäre des Planeten erfaßt hatte, schwoll an. Einzelne Strudel bildeten sich in der Wolke, Fenster, durch die der Himmel zu sehen war. Der schwarze Mantel zerriß in der Mitte, zwei Wolkenberge segelten schwerfällig und gelangweilt auf das Gestrüpp zu und versanken und verschwanden schließlich in seiner reglosen Starre. - Stanislaw Lem, Der Unbesiegbare. Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1964)

Wolke (9)   Oberstleutnant Beauchamp war mit einem Teil seines Bataillons, das zum Norfolk-Regiment gehörte, in einer Wolke verschwunden. Aus dieser tauchten die Männer, 16 Offiziere und 250 Soldaten, nie wieder auf. Sie gerieten weder in Gefangenschaft, noch wurde einer von ihnen jemals wieder gesehen. In einer gemeinsamen Erklärung beschrieben die Pioniere der Abteilung 3 der Feldkompanie Nr. l des Neuseeländischen Expeditionskorps diesen Vorfall bei Hügel 60, Suvla Bay, den sie beobachtet hatten: »Der Tag war klar. Es waren sechs bis acht Wolken in Sicht, die alle die gleiche Form, etwa wie ein Laib Brot, hatten. Trotz einer steifen Brise veränderten die Wolken weder ihre Form, noch trieben sie davon. Direkt unter dieser Wolkengruppe befand sich eine bis auf die Erde reichende, gleichfalls unbewegliche Wolke, die ebenso wie die anderen geformt war. Sie war völlig undurchsichtig und wirkte so kompakt wie ein fester Körper. Dann sahen wir, wie ein britisches Regiment, die Norfolks, zum Hügel 60 heraufmarschierte. Offensichtlich, um die Kampftruppen auf dem Hügel zu verstärken. Sie marschierten, ohne zu zögern, geradewegs in die Wolke hinein. Aber keiner von ihnen kam wieder heraus. Als der letzte Soldat der hintersten Reihe in der Wolke verschwunden war, hob die Wolke vom Boden ab, stieg langsam auf, bis sie die anderen, ähnlich aussehenden Wolken erreicht hatte. Als die einzelne, vom Boden kommende Wolke sie erreicht hatte, glitten sie alle in nördlicher Richtung auf Bulgarien zu davon.«  - (hoe)

Wolke (10)    Jagger wohnt in einem Apartment im neunundneunzigsten Stockwerk des Hochhausblocks und sitzt allein am Fenster. Er stellt sich vor, die Welt ist stehengeblieben. Er spielt seine Platten unglaublich laut, eine echte Lärmorgie, und niemand kann zu ihm heraufreichen, niemand kann ihm den Lärm leiser stellen. Die Leute unten versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen, aber er nimmt davon keine Notiz. Er sitzt nur da und spielt seine Platten und beobachtet und schwebt. Er ist unerreichbar. Er ist auf seiner Wolke.   - (awop)

Wolke (11)   Der Gestank war unerträglich, und bevor er weiter hineinging, mußte er sich erst noch einmal in einen anderen Raum zurückziehen und seine Lungen mit halbwegs frischer Luft füllen. Als er schließlich hineinging, sah er etwas in der Ecke, und als er es genauer betrachtete, schrie er entsetzt auf. Während er noch schrie, glaubte er zu sehen, wie eine Wolke für einen Augenblick das Fenster verdunkelte, und eine Sekunde später fühlte er, daß etwas wie ein Pesthauch an seinem Gesicht entlangstrich. Seltsame Farben tanzten vor seinen Augen, und wäre er nicht von dem gegenwärtigen Entsetzen so benommen gewesen, so hätte er an die Kugel in dem Meteoriten gedacht, die der Geologenhammer zerbrochen hatte, und an die makabren Pflanzen, die im Frühjahr aus der Erde sproßten. So aber dachte er nur an das blasphemische Monstrum, dem er gegenüberstand und das nur allzu offensichtlich das unsagbare Schicksal der Haustiere geteilt hatte. Aber das Haarsträubende an diesem Ungeheuer war, daß es sich langsam und sichtbar bewegte, während es sich weiter auflöste. - H. P. Lovecraft, Die Farben aus dem All. In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)

Wolke (12)   Am blanken Himmel der Haute-Provence, in dem abends um neun noch viel Sonne war und ein Mond im ersten Viertel, schwebte die Magritte-Wolke genau über Cazeneuve, und da stellte ich einmal mehr fest, daß die bläßliche Natur die feurige Kunst nachahmt und daß diese Wolke den bei Magritte stets unheilverkündenden Schwebezustand des Lebens plagiierte, und auch die geheime Macht eines Textes, den ich vor vielen Jahren geschrieben und nie veröffentlicht habe, außer in französisch, und der lautet:

Wie man auf einfachste Weise eine Stadt zerstört

Man wartet, im Gras verborgen, so lange, bis eine große Wolke der Kumulusart mitten über der verhaßten Stadt schwebt. Dann schießt man den versteinernden Pfeil ab, die Wolke wird zu Marmor, und für das, was dann geschieht, bedarf es keines Kommentars.

- (cort)

Wolke (13)  

Wolke (14)

- Shomei Tomatsu

Wolke (15) Die Geschichte ist folgendermaßen: Jagger wohnt in einem Apartment im neunundneunzigsten Stockwerk des Hochhausblocks und sitzt allein am Fenster. Er stellt sich vor, die Welt ist stehengeblieben. Er spielt seine Platten unglaublich laut, eine echte Lärmorgie, und niemand kann zu ihm heraufreichen, niemand kann ihm den Lärm leiser stellen. Die Leute unten versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen, aber er nimmt davon keine Notiz. Er sitzt nur da und spielt seine Platten und beobachtet und schwebt. Er ist unerreichbar. Er ist auf seiner Wolke.   - (awop)

Wolke (16)

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Wolke (17)  Gestern abend bei Maria Ricotti tritt die de B. auf mich zu und sagt: «Wissen Sie, Monsieur, daß Sie etwas von einer Wolke an sich haben ?»

«Verzeihen Sie, Madame», erwiderte ich, «das kommt daher, daß ich sehr früh aufstehe; abends, ab zehn Uhr, gestatte ich mir dann einzuschlafen, gleichviel wo. Natürlich schließe ich aus Höflichkeit in Gesellschaft nicht die Augen, aber sämtliche Schleusen der Seele, die man nicht sieht.»   - Marcel Jouhandeau, Elise. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1933 ff.)

Wolke (18)  Der Boden Niederaragoniens ist fruchtbar, aber staubig und entsetzlich trocken. Ein Jahr, ja zwei konnten vergehen, ohne daß man am unbewegten Himmel eine Wolke hätte dahinsegeln sehen. Wenn sich zufällig eine vorwitzige Haufenwolke über den Bergen zeigte, klopften die Nachbarn, Angestellte eines Lebensmittelladens, bei uns an, denn unser Haus hatte auf dem Dach einen kleinen Aussichtsturm. Von dort aus beobachteten sie stundenlang, wie die Wolke sich langsam näherte, und sagten dann ganz traurig unter Kopfschütteln: „Südwind. Sie zieht vorüber." So war es dann auch.  - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

Wolke (19)  «Sie wirken -» und Bounce behaucht, was ein warmer kleiner Lacher sein soll, «beunruhigt.»

Beunruhigt, stimmt. Von den Krallen und Zähnen eines Ungeheuers, einer Anwesenheit, die so riesig ist, daß keiner außer ihm sie sieht - hier! da ist das Monstrum, von dem ich euch erzählt hab! - Kein Monstrum, Dummkopf, das sind Wolken! - Nein, bist du blind? Es sind seine Füße -Ja, Slothrop kann die Gegenwart der Bestie am Himmel spüren: die anderen haken ihre sichtbaren Krallen und Schuppen für Wolken oder ähnliche Wahrscheinlichkeiten - oder sie haben sich verschworen, die falschen Wörter zu gebrauchen, solange Slothrop zuhört...  - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

Wolke (20)

Wolke (21) Es IST ein kurtz vnd müheselig ding vmb vnser Leben / Vnd wenn ein Mensch dahin ist / so ists gar aus mit jm / So weis man keinen nicht / der aus der Helle widerkomen sey. On gefehr sind wir geboren / vnd faren wider dahin / als weren wir nie gewest. Denn das schnauben in vnser Nasen ist ein rauch / Vnd vnser Rede ist ein füncklin / das sich aus vnserm hertzen regt. Wenn dasselbige verlosschen ist / so ist der Leib dahin / wie ein Loderassche / Vnd der Geist zufladdert / wie eine dünne lufft. Vnd vnsers namens wird mit der zeit vergessen / das freilich niemand vnsers Thuns gedencken wird. Vnser Leben feret dahin / als were ein Wolcke da gewest / vnd zergehet wie ein Nebel / von der Sonnen glantz zutrieben / vnd von jrer hitze verzeret. Vnser zeit ist / wie ein Schatte dahin feret / Vnd wenn wir weg sind / ist kein wider-keren / Denn es ist fest versiegelt / das niemand widerkompt.

WOl her nu / vnd lasset vns wolleben / weils da ist / vnd vnsers Leibs brauchen / weil er jung ist,  Wir wollen vns mit dem besten Wein vnd Salben füllen / Lasst vns die Meyenblumen nicht verseumen. Lasst vns Krentze tragen von jungen Rosen / ehe sie welck werden. - Weisheit Salomonis, nach (lut)

Wolke (22)  Die Begierde, die einzige Kraft im Getriebe der Welt, die Begierde, die einzige Strenge, die der Mensch erfahren soll, welcher Aufenthalt wäre wohl geeigneter, sie zu verehren, als das Innere einer Wolke? Die Gestalten, die von der Erde aus die Wolken in den Augen eines Menschen annehmen, sind keineswegs zufällig, sie sind Verkündigungen. Wenn ein ganzer Zweig der modernen Psychologie danach trachtet, diesen Sachverhalt evident zu machen, so stelle ich fest, daß Baudelaire ihn schon vorausgeahnt hat in jener Strophe des Gedichtes >Le Voyage<, deren letzter Vers, indem er ein so ergreifendes Echo auf die drei ersten gibt, diese zugleich mit Bedeutung auflädt:

Les plus riches cités, les plus grands paysage
Jamais ne contenatent l'attrait mystérieux
De ceux que le hasard fait avec les nitages,
Et toujours le désir nous rendait soucieux!*

Hier nun bin ich in der Wolke, bin ich im Raum der dichten Undurchschaubarkeit, die zu betreten immer mein Traum war. Ich schweife durch den prächtigen Badesaal des Brodems. Alles ringsum ist mir unbekannt. Irgendwo gibt es hier sicher ein Möbel mit vielen Fächern, auf dessen Simsen erstaunliche Büchsen stehen. Ich gehe auf Kork. War man unbesonnen genug, einen Spiegel in all diesem Gipsschutt aufzustellen? Und die Hähne, die nicht aufhören, Dampf zu spucken! Vorausgesetzt, daß es hier Hähne gibt. Ich suche dich. Sogar deine Stimme hat der Nebel geschluckt. Die Kälte fährt mir mit einer neunzig Meter langen Feile über die Nägel (beim hundertsten Mal werde ich keine Nägel mehr haben). Ich begehre dich. Ich begehre nur nach dir. Ich streichle die weißen Bären, ohne zu dir zu gelangen. Keine andere Frau wird diesen Raum je betreten, wo du Tausende bist, für die Zeit, die mir bleibt, alle Bewegungen zu zerlegen, die ich dich vollführen sah. Wo bist du? Ich spiele »Kämmerchen vermieten« mit Gespenstern. Schließlich aber werde ich dich finden, und die ganze Welt wird wieder licht werden, weil wir uns lieben, weil eine Kette von Erleuchtungen durch uns hindurchläuft. Weil sie unzählige Paare nachzieht, die wie wir sich darauf verstehen werden, aus weißer Nacht sich immer wieder einen Diamanten zu erschaffen. In bin jener Mann mit den Seeigelwimpern, der zum erstenmal auf einer blauen Straße die Augen erhebt zu der Frau, die alles für ihn sein soll. Und abends jener Allerärmste, der zum erstenmal auf einer Brücke eine Frau in seine Arme schließt, die sich ihm nicht mehr entziehen kann. Ich bin in den Wolken jener Mann, der, um zu der Geliebten zu gelangen, dazu verurteilt ist, eine ganze Pyramide seiner Wäsche aus dem Weg zu räumen.

* Die reichsten Städte, die größten Landschaften zogen nie so zauberhaft uns an wie jene, die von ungefähr aus Wolken sidi gestalten, und immer madita-die Begierde uns einen schweren-Sinn! 

- André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1983 (zuerst 1937)

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