eer
Er hört eine hunderfältige Unruhe hinter sich, er dreht sich um und
sieht Schafe - Schafe über den ganzen Weg hinauf, ein Strom von Schafen, ein
wilder Wirbel, der auf ihn zurast und ihn vielleicht umwerfen wird. Gott im
Himmel! Er versucht sich einen Augenblick dagegenzustemmen, mit einem Stock
zu drohen - vollkommen umsonst, er wird mitgerissen und hat genug damit zu tun,
sich auf den Beinen zu halten. Es
ist eine Fahrt mit tausend Schafen als Vorspann. Sie kommen an den
offenen Abgrund, dort hält der Konsul mit seinem Auto auf dem Weg und versperrt
die Straße. Er hupt, um die Tiere zum Stillstand zu bringen, macht sie aber
dadurch noch verstörter. Die Felswand auf der einen Seite und der Abgrund auf
der andern. Der Konsul fährt langsam bergwärts, aber es ist eine Biegung da,
und es geht nur allmählich. Trotzdem wären vielleicht einige der Tiere an dem
Auto vorbeigekommen und hätten sich gerettet, da aber steht ein Mensch und begegnet
ihnen! Es ist Aase - Aase steht da, steht da und begegnet den Schafen, schlägt
mit den Armen um sich und schwenkt den Kittel. Der Konsul schreit ihr etwas
zu, und sie schreit etwas zurück, vielleicht nur, daß sie helfen wolle, die
Tiere zum Halten zu bringen. Sie tut das Gegenteil und treibt sie nur an den
Rand des Abgrunds hinaus, einige sind bereits hinuntergestürzt, es sind dreihundert
Meter. Der Strom nimmt zu, ein Mensch befindet sich mitten in dem kochenden
Wirbel, August, man sieht ihn einmal zum Auto hinunterlächeln, er meint wohl,
er könne sich im letzten Augenblick retten, und möchte niemand beunruhigen,
deshalb lächelt er. Er kann sich nicht retten. Schafe sind Schafe, wo eines
hinläuft, laufen alle andern hin, der Strom drückt nach, eine Lawine von Tieren
stürzt in die Tiefe. Als August sieht, daß alles verloren ist, hält er sich
an der langen Wolle eines Schafes fest, vielleicht um auf das Tier zu fallen,
er hält es vor sich empor, aber es befreit sich zappelnd aus seinem Griff. Dann
wird er über den Abgrund hinausgetragen.
Ein Meer von Schafen ward des Seemanns Grab, heißt es in dem Lied von August.
- Knut Hamsun, Nach Jahr und Tag
Meer (2) Wozu auch all dieses Wilde und Grandiose? Das Meer zum Beispiel? Gott befohlen! Es stimmt den Menschen nur schwermütig: betrachtet man es, möchte man weinen. Das Herz gerät in Aufregung und Angst vor der unübersehbaren Wasserfläche, und nirgends kann der Blick, gequält von der Gleichförmigkeit des unendlichen Bildes, ausruhen.
Das Brüllen und der tosende Anprall der Wogen schmeicheln schwachen Ohren nicht: sie wiederholen stets dasselbe seit Anbeginn der Welt ewig gleiche Lied mit dem düsteren, rätselhaften Inhalt; und stets ist darin das gleiche Stöhnen, das einförmige Klagen eines wie zu ewiger Qual verdammten Ungeheuers und jemandes durchdringende, unheilverkündende Stimme zu vernehmen. Nirgends ist Vogelgezwitscher zu hören; nur schweigsame Möwen gleiten, verzagt wie Sträflinge, an der Küste entlang und kreisen über den Wassern.
Ohnmächtig ist das Brüllen des wilden Tieres gegen dieses Stöhnen der Natur,
nichtig ist auch die Stimme des Menschen, und der Mensch
selbst erscheint winzig und schwach: er verschwindet ganz unscheinbar unter
den kleinen Einzelheiten des gewaltigen Bildes. Vielleicht fällt es ihm deshalb
so schwer, das Meer zu betrachten. -
Aus: Ivan Gontscharov, Oblomov (1859)
Meer (3) Am Abend, beim Tee in meiner Auwaldhütte, mußte ich über diese Grillen lachen: «Bei schönen Frauen sind wir allen, die jemals waren, schließlich noch ähnlicher. Solange diese auf Erden leben, kann es nicht gänzlich sinnlos sein.» Dann tauchten Meerestiere, wie ich sie jenseits der Azoren gesehen habe, aus der Erinnerung - ein Wesen gleich einem Aale oder einer Schlange, graublau mit hellen Bändern, die brennendrote Portugiesische Galeere, fliegende Fische in Pfauenaugenfarben und mit den Tropfenreihen, die, von den Flossensäumen perlend, den Meeresspiegel zeichneten. Sie zogen vorüber wie Blüten, die in den Abgrund fallen, oder wie Bilder, die man an den Wänden der Speisesäle in Pompeji sieht, jedoch auf lapisblauem Hintergrund. Und alle diese Schätze, gleichen doch nur Bruchstücken von Geschmeiden, wie sie der Zufall aus kristallenen Kammern hebt, sind nur ein Abglanz der unsichtbaren Fülle, die in der Tiefe lebt. Daher gerinnen sie uns auch, wenn wir sie mit Händen greifen, oft schon in Augenblicken zu farbiger Gallerte und zu buntem Schaum.
Wo solche Kleinodien achtlos dem Verderben ausgeliefert werden, muß ungeheurer Reichtum im Hintergrunde stehen. Wir kennen die Münzen und kennen die Münze nicht. So kennen wir auch das Leben und kennen das Leben nicht. Wir tasten uns an unseren Abstraktionen hin.
Das Meer kennt keiner, der nicht Neptun gesehen hat. - Ernst
Jünger
, Gärten
und Straßen (10. April 1940)
Meer (4) Das Meer hat noch nie so viele Freunde gehabt wie heute, und noch nie haben so viele Dichter es besungen. Auch die von frülher haben gelegentlich Verse oder Artigkeiten oder anmutige Lobreden an seine Adresse gerichtet; aber sie schienen es nicht mit der tiefen Leidenschaftlichkeit zu lieben, mit der ihm die heutigen ergeben sind.
Richepin hat es mit Reimen übersät, funkelnd wie zersprühender Gischt in der Sonne, klangvoll wie der Wellenschlag in der Uferbrandung, leicht wie der Schaum, der im Winde hüpft, schmiegsam wie die flüchtig wogende Dünung.
Loti, diese Sirene, scheint eine den blauen, grünen und grauen Tiefen der unergründlichen Ozeane enttauchte Stimme zu sein - eine Stimme, die Unbekanntes, Unerhörtes besingt, die unerforschlichen Schönheiten, die unbemerkten Reize und vor allem das Geheimnis des Meeres.
Bonnetin erzählt von ihm mit seinem präzisen, farbigen Talent, als einer, den es lange gewiegt und der es lange betrachtet hat mit seinen Künstleraugen.
Ein Anfänger, ganz jung noch, Pierre Maël, liebt es schon mit einer so lebhaften Zuneigung, daß er alle seine Bücher nur ihm widmen will - so wie ein Priester alle seine Tage nur seinem Gott gewidmet hält.
Und du - du selber hast die subtilsten Koketterien, die weiblichen Reize des Meeres ausgedrückt, die ganze Feinheit der Nuancen, das unendlich Verführerische der Bewegungen, die verwirrende, wechselhafte Schönheit der See.
Der Brief, worin du mir das baldige Erscheinen deines Buches ankündigst - der Sammlung dieser glänzenden und doch so zarten Schilderungen der Großen Blauen - hat mich überrascht, als ich mich gerade zu einer kleinen Fahrt nach Saint-Tropez einschiffen wollte.
Sie war an diesem Tag in Wahrheit die Große Blaue, unsere Freundin, die See - regungslos, kaum gekräuselt von einem unmerklichen Schauer, der sie noch blauer erscheinen ließ, indem er einen leisen Hauch moirierter Seide über ihr azurnes Fleisch gleiten ließ.
Ich entsann mich der Seiten, auf denen du mit so wahren Worten von ihr schriebst, und ich sah die Stadt Antibes sich entfernen, umspült von der Flut, die das wuchtige Mauerwerk von Vauban, das über die grauen Häuser emporragt, und die beiden viereckigen, wie zwei steinerne Hörner in den Himmel ragenden Türme an ruhigen Tagen zärtlich liebkost und an stürmischen unzart peitscht.
Und mit der Erinnerung an deine künstlerischen
Gedanken vermischt, überfallen mich Erinnerungen aus der eigenen Kindheit. Denn
ich bin ja am Gestade des Meeres groß geworden, am grauen, kalten Meer des Nordens,
in einem kleinen Fischerort, der immer vom Wind, von
Regen und Nebelsprühen gepeitscht
und immer von Fischgeruch erfüllt war, dem Geruch von frischen Fischen, die
frisch gefangen auf die Kais geworfen wurden und deren Schuppen auf dem Straßenpflaster
glänzten, und von gesalzenem Fisch, der in Fässern gerollt
wurde, und von getrocknetem Fisch in den braunen Häusern, aus deren Ziegelschornsteinen
der Rauch starken Heringsduft bis weit ins Land hinein trug. -
(err)
Meer (5) Das Meer entsendet die Flüsse, welche die
Erde befeuchten, so wie das Blut
in den Adern den Körper des Menschen befeuchtet. Manche
Flüsse strömen mit Ungestüm aus dem Meere, andere sanft fließend und wieder
andere mit Stürmen. Die Erde hat beim Ablaufe eines jeden Flusses irgendeine
Art von Erzwerk, wenn sie nicht eben zu fett, zu trocken oder zu aufgerissen
ist, denn dann können sich keine Erzwerke bilden.
- (
bin
)
Meer (6) Wenn das Meer mit seinem intensiven Leben mich aufgewühlt hat, so hat es mich auch für sich gewonnen, und für lange Zeit sollte ich nur noch daran denken. Nicht an einen Platz am Sandstrand in der Sonne, zwischen fast nackten, von Sonnenöl glänzenden Körpern, nicht an das Meer der farbigen Sonnenschirme, der Kasinos und der von breiten Glasfenstern durchbrochenen Betonklötze, sondern an das ursprüngliche und ewige Meer, aus dem alles Leben gekommen ist, mit seinen Flauten und seinem Wüten, mit seiner ursprünglichen Unerbittlichkeit. Das Meer!
Ich, der ich neunzehn Jahre auf dem Pflaster einer schon nördlichen Industriestadt
gelebt hatte, hatte es nur während einer kurzen Reise nach Ostende wie eine
Postkarte gesehen, oder vielmehr nur undeutlich wahrgenommen. Jetzt war ich
von ihm mit einer Leidenschaft besessen, die mich ganz und gar erfüllte, und
kaum wieder in Paris zurück, beschloß ich, ein Schiff bauen zu lassen, ein richtiges,
das fähig sein würde, ihm zu trotzen. - Georges
Simenon, Intime Memoiren. Zürich 1984, zuerst 1981
Meer (7) Das Wasser änderte
schrittweise seinen Charakter - aus durchsichtigen Seen, blank wie Spiegel,
wurden Meere und Ozeane. Und jetzt trat eine ungeheure Veränderung ein, die
sich langsam wie eine Schriftrolle viele Monate lang entfaltete und eine fortdauernde
Qual zu werden versprach; und sie verließ mich auch nie ganz, sondern kehrte
in längeren oder kürzeren Zwischenräumen wieder. Bis jetzt hatte sich das menschliche
Antlitz oft in meine Träume gemischt, doch weder tyrannisch noch mit quälender
Kraft. Doch jetzt begann sich das Leiden, das ich die Tyrannei des menschlichen
Antlitzes genannt habe, zu entfalten. Vielleicht war ein Teil meines Londoner
Lebens (die Suche nach Ann in wechselnden Menschenmengen) dafür verantwortlich.
Sei es, wie es wolle; jetzt geschah es, daß sich auf dem wogenden Wasser des
Ozeans das menschliche Antlitz zeigte; das Meer schien
mit unzähligen Gesichtern bedeckt, den Blick
zum Himmel erhoben; flehende, grimmige, verzweifelte Gesichter; Gesichter, die
zu Tausenden, zu Myriaden, zu Generationen auftauchten; meine Erschütterung
war grenzenlos; mein Geist schien über den wogenden Ozean hin- und hergeschleudert
und über die rollenden Wellen hinweggerollt. -
Thomas de Quincey, Bekenntnisse eines englischen Opiumessers. Leipzig 1981 (Gustav
Kiepenheuer Bücherei 32, zuerst 1822)
Meer (8) »Kosten Sie alle Speisen. Diese Seegurken-Konserve würde ein Malaie für das beste Gericht der Welt halten. Die Milch dieser Creme hier ist aus der Brust von Walen gewonnen, und der Zucker kommt von den weiten Tangfeldern des Nordmeers. Darf ich Ihnen auch von dem Anemonen-Konfekt anbieten, das dem schmackhaftesten Obst in nichts nachsteht?«
Ich kostete mehr aus Neugierde als aus Appetit, während Kapitän Nemo mich mit seinen unwahrscheinlichen Schilderungen ergötzte.
»Aber das Meer, diese üppige Nährmutter, schenkt mir nicht nur Nahrung, Herr Aronnax«, fuhr er fort, »sondern auch Kleidung. Die Stoffe, die Sie tragen, sind aus den Seidenfäden einiger Muscheln gewebt und mit antikem Purpur gefärbt. Das Parfüm, das Sie auf der Toilette in Ihrer Kabine finden, ist aus Seepflanzen destilliert. Ihr Bett ist aus dem weichsten Seegras des Ozeans gemacht, Ihre Feder aus der Barte des Wals, die Tinte aus dem Sekret des Tintenfisches oder der Kalmare. Für mich kommt alles aus dem Meer, wie alles eines Tages ins Meer zurückkehrt.«
»Sie lieben das Meer, Kapitän.«
»Ja, ich liebe es. Das Meer ist alles für mich! Es bedeckt sieben Zehntel
der Erdoberfläche. Sein Wind ist rein und gesund. So unermeßlich diese Einöde
auch ist, fühlt sich der Mensch dennoch nie einsam, denn er spürt, wie das Leben
um ihn wogt. Ein übernatürliches wunderbares Dasein rührt sich im Meer; es ist
nur Bewegung und Liebe, lebendige Unendlichkeit, wie es einer Ihrer Dichter
ausgedrückt hat. Und in der Tat, Herr Professor, finden wir auch die drei Naturreiche,
Mineralien, Pflanzen und Tiere, im Meer repräsentiert. Das letztere ist mit
vier Gruppen Tierpflanzen, drei Klassen von Gliedertieren, fünf Klassen Mollusken,
drei Klassen Wirbeltiere, durch Säugetiere, Reptilien und Legionen von Fischen
am stärksten vertreten. Diese kaum zu überblickende Abteilung des Tierreichs
zählt mehr als dreizehntausend Arten, von denen nur der zehnte Teil im Süßwasser
lebt. Das Meer ist eine gewaltige Brutstätte der Natur. Durch das Meer, wenn
man so will, fing die Erde an zu leben, und wer weiß, ob sie nicht durch das
Meer endigen wird. Hier herrscht die äußerste Ruhe. Das Meer ist außerhalb der
Macht der Tyrannen. An seiner Oberfläche, da können sie noch auf ihr unbilliges
Recht pochen, sich bekämpfen, sich vernichten, alle Schrecken verüben. Aber
dreißig Fuß tiefer endet ihre Willkür, gilt ihr Wort nichts, ist ihre Macht
nichtig. Ach, mein Herr, leben Sie, leben Sie auf im Schoß des Meeres! Hier
allein ist Unabhängigkeit! Hier beugt mich kein Regiment! Hier bin ich frei!«
- Jules Verne, Zwanzigtausen Meilen unter Meer. Zürich 1976 (zuerst 1870)
Meer (9) Das Meer ist vielleicht der bedeutendste der
glatten Räume, das hydraulische Modell par excellence. Aber von allen glatten
Räumen ist das Meer auch der erste, den man einzukerben versucht hat, den man
in eine Dependance der Erde zu verwandeln versuchte, mit festen Wegen, konstanten
Richtungen, relativen Bewegungen
und einer vollständigen Gegenhydraulik von Kanälen und Leitungen. Einer der
Gründe für die Hegemonie des Westens liegt darin, daß seine Staatsapparate dazu
in der Lage waren, das Meer einzukerben, indem sie die Techniken des Nordens
mit denen des Mittelmeers verbanden und den Atlantik annektierten. Aber dieses
Unternehmen führte zu einem höchst unerwarteten Resultat: die Multiplikation
der relativen Bewegungen und die Intensivierung von relativen Geschwindigkeiten
im gekerbten Raum führten schließlich zur Rekonstitution eines glatten Raumes
oder einer absoluten Bewegung. Wie Virilio betont, wurde das Meer zum
Ort der fleet in being, wo man nicht mehr
von einem Punkt zum anderen geht, sondern den Raum von irgendeinem Punkt aus
besetzt hält. Statt den Raum einzukerben, besetzt man ihn mit einem Deterritorialisierungsvektor,
der ständig in Bewegung ist. Und diese moderne Strategie wurde vom Meer auf
die Luft als neuem glattem Raum übertragen, aber auch auf die ganze Erde, die
als Wüste oder Meer betrachtet wird. -
Deleuze
/ Guattari, Tausend
Plateaus.
Berlin 1992 (zuerst 1980)
Meer (10) 1. Dezember 1908 Inzwischen das
Schönste: Samlandreise im Herbst. Bei meiner Schwester Erna in Cranz. An der
See habe ich vielleicht zweihundert Bernsteinstückchen gesammelt. Unter der
Leidenschaft des Sammelns kann man das Meer selbst
vergessen. Nachher vergißt man das Sammeln, aber nicht Es. Harscher Wind, ein,
zwei, drei, vier Meter hohe Wellen. Wunsch, sie möchten immer größer werden.
Man wächst mit. Ich fror steif auf dem Steg und sah, sah. Wonne zum Aufschreien,
wenn sie wie ein Wald nahe waren und anfingen umzubrechen, man dirigierte das
irgendwie, man war irgendwie als Meergott in jeder herrlichen Welle vorhanden,
dem ihr Aufstehen und Umschäumen zur Lust war. Graugrün marmoriert. Knüppel,
Steine, Tang, Quallen, Frösche. Ich dachte: Vielleicht bin ich nur da, um diese
Qualle, die sonst verdorrt wäre, in das Wasser zu werfen, sie leben zu lassen.
Hüpfende rote, gelbe, weiße Segel, sie stiegen quer an gegen die blaue Flut.
Möwen breit, weiß, spielend. Bei Sturm immer wilder. Die Molenköpfe mit hellgrünen
Zöpfen behangen. Die Ziselierung des Ufersandes. Die Holzgrenze. - Rauschen,
Warnicken. Mit der Eisenbahn nach Neukuhren. Dieses Schluchzen mit Brücken und
Bächen. Überall wundervolles Herbstlaub, weite Hänge hinan. Neuer Begriff: Gut
am Meer. Georgenwarth. Die peitschenknallenden Knechte, roh. Auf dem Rückwege
hin die Uferhöhe entlang zwischen Birken, Buchengebüsch, Gras, Sand. Die Steilküsten,
von denen sich das Meer ums Doppelte erweitert. Besonderer Reiz, daß die Wände
aus Erde sind. Rauschen, um winters mit einer lieben Frau aus der Welt zu fliehen.
- Oskar Loerke, Tagebücher 1903 - 1939. Frankfurt am Main 1986 (st 1242)
Meer (11) Der Anblick der Meereswogen, ihr Leuchten und das Rollen ihres
Donners, der sich auch in den Sommermonaten zuweilen hören läßt, gegen
welchen der hochgepriesene Rheinfall wohl bloßer Waschbeckentumult ist;
die großen Phänomene der Ebbe und Flut, deren Beobachtung immer
beschäftigt ohne zu ermüden; die Betrachtung, daß die Welle, die jetzt
hier meinen Fuß benetzt, ununterbrochen mit der zusammenhängt, die
Otaheite und China bespült, und die große Heerstraße um die Welt
ausmachen hilft; und der Gedanke, dieses sind die Gewässer, denen unsre
bewohnte Erdkruste ihre Form zu danken hat, nunmehr von der Vorsehung in
diese Grenzen zurückgerufen, – alles dieses, sage ich, wirkt auf den
gefühlvollen Menschen mit einer Macht, mit der sich nichts in der Natur
vergleichen läßt, als etwa der Anblick des gestirnten Himmels in einer
heitern Winternacht. Man muß kommen und sehen und hören. Ein Spaziergang
am Ufer des Meers an einem heitern Sommermorgen, wo die reinste Luft,
die uns selbst das Eudiometer noch auf der Oberfläche unsres Wohnorts
kennen gelehrt hat, Eßlust und Stärkung zuträgt, macht daher einen sehr
großen Kontrast mit einem in den dumpfigen Alleen der inländischen
Kurplätze. -
Lichtenberg
Meer (12)
das element [das meer] schirrt schwert- und haifisch an, |
- Gongora,
nach: Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Frankfurt
am Main 1969 (es 304, zuerst 1960)
Meer (13)
Arion / Einfälle über das Meer Den Rhythmus, Meer, den Rhythmus, den Vers, den Vers! Ich bin, du weißt es, Meer, dein Schüler Du gehst und machst die Erde, die dich gehabt hat, zum Strand. Niemand in deinem Herzen, niemand in deinem Leib. Das Meer hat sich geirrt und läßt eine Schwalbe steigen. Stille Flut meiner Toten. Jedenfalls klingst du wie immer, Meer, Das Meer, manchmal sitzt es, man weiß nicht, auf welchem Stuhl. Hier liegt das Meer. Hier liegt das Meer. Es wollte Hier liegt das Meer. Kein Mensch Hier liegt das Meer. Der Tod Hier liegt das Meer. Es müßte Am Tag, an dem ich sterbe, Ja, Meer, ich weiß, du bist für mich das andere Ufer. Als Kind, Meer, hab ich dich immer - Ich habe es gesucht an dir, Meer, Meer, heiser, schon ohne Stimme, vom Ausspeien von Toten. Was suchen sie in dir, Meer? Was haben die Ameisen vor, Die Möwe, zurückgestrahlt War's möglich, Meer, daß bei Nacht Meer, in deinem Anblick, ach, hab ich die ersten grauen Haare bekommen. Manchmal riecht das Meer nach Trübsinn, Auch nach verlassenem Kind, Außerdem hab ich gefunden, daß das Meer An andern Nachmittagen schmeckt es Und bei Nacht auf einmal hat es Nichts zu wollen, Meer! Nichts zu wollen! Immer warte ich darauf, Meer, daß du anspülst, Gib mir die Unschuld, Meer, die Unschuld, die auf einmal so aufrichtig in dir ist. Ich glaube, Meer, die Erde Woran denkst du, Meer? Auf einmal geht dem Meer alle Grammatik verloren, Es flieht mit wehen Schultern, Ich machte die Tür auf. Das Meer Wie glücklich war ich, Meer, ich war soweit zu glauben,
Sie schrieen: Rafael! |
- Rafael Alberti, nach
(mus)
Meer (14) Dem Eindrucke ganz überlassen, den
dieser Anblick auf mich machte, sank ich gleichsam unwillkürlich in mich
selbst zurück, und das Bild jener drei Jahre, die ich auf dem Ozean zubrachte
und die mein ganzes Schicksal bestimmten, stand vor meiner Seele. Die Unermeßlichkeit
des Meeres ergreift den Schauenden finstrer und tiefer als die des gestirnten
Himmels. Dort an der stillen, unbeweglichen Bühne funkeln ewig unauslöschliche
Lichter. Hier hingegen ist nichts wesentlich getrennt; ein großes Ganze,
und die Wellen nur vergängliche Phänomene. -
Georg Forster (1791)
Meer (15) Nun ist aber, wie der geniale brasilianische
Dichter Vicente de Carvalho versichert, das Meer, das ›schöne wilde Meer‹, ein
›Tiger, dem der Wind von ferne das Fell sträubt‹ und ein seltsames Raubtier.
Es ist auch ›ein Greis mit blauem Barte, in den Kerker der umringenden Felsen
verbannt‹. Andererseits muß das Meer tief mit dem verbunden sein, was Clemens
›das Schicksal der Menschenherde‹ nennt, denn Vicente de Carvalho behauptet
außerdem, wenn er sich vor das Meer hinstelle, erhebe er ein Wehklagen und verwünsche
die unbekannte Hand, die unser Schicksal vorgezeichnet hat: ›Ein sinnloses Verbrechen
ist das Verbrechen der Geburt‹, sagt er. >Es war
mein Verbrechen, und ich sühne es mit meinem Leben.‹ - (stein)
Meer (16) Der Herr des Nordmeers sagte: «Man kann vom Meere nicht zu einem Brunnenfrosch sprechen: er sieht nicht über sein Loch hinaus. Man kann vom Eis nicht zu einer Sommerfliege sprechen: sie weiß nur ihre Jahreszeit. Man kann von Tao nicht zu einem Schulmann sprechen: er ist in seiner Lehre eingemauert. Nun aber, da du aus deiner Enge herausgekommen bist und das große Meer gesehen hast, kennst du deine Unerheblichkeit, und ich kann zu dir von den Urgründen sprechen.
Da ist kein Wasser unter dem Himmel, das sich dem Meere vergleichen könnte. Wasser ohne Maß ergießt sich darein, und doch fließt es nicht über. Wasser ohne Maß wird ihm entzogen, und doch nimmt es nicht ab. Frühling und Herbst bringen keine Änderung hervor; Überschwemmung und Dürre sind ihm gleicherweise unbekannt. Und so ist es allen Flüssen und Strömen unermeßlich überlegen. Dennoch würde ich niemals wagen, mich dessen zu rühmen. Denn ich empfange meine Gestalt von Himmel und Erde, meinen Lebensatem von Yin und Yang. Vor Himmel und Erde bin ich wie ein Stein oder ein Bäumchen auf einem großen Berge. Ich kenne meine Unerheblichkeit — was bleibt mir, dessen ich mich rühmen könnte?
Das Land zwischen den Vier Meeren ist in Himmel und Erde wie ein Steinhäuflein in einem Mooi-, Das Reich der Mitte ist in dem Land zwischen den Vier Meeren wie ein Reiskorn in einem Speicher. Von allen Myriaden geschaffener Wesen ist der Mensch nur eines. Von allen Menschen, die in den neun Sphären der Erde wohnen, von ihren Früchten sich nähren und in Booten und Wagen fahren, ist der einzelne nur einer. Ist er in der Fülle der Dinge nicht wie die Spitze eines Haares in einem Pferdefell?»
«Soll ich also», fragte der Herr des Flusses, «Himmel und Erde als unbedingt groß, die Spitze eines Haares als unbedingt klein ansehen?»
«Durchaus nicht», antwortete der Herr des Meeres. «Ausdehnung
kennt keine Grenze; Zeit kennt kein Stillestehn; Schicksal
kennt kein Gleichmaß; Werden kennt keine Sicherheit. So schaut der Weise den
Raum und erachtet das Kleine nicht für gering, das Große nicht für erheblich;
denn er weiß, daß Ausdehnung keine Grenze kennt. Er schaut den Ablauf und grämt
sich nicht um das Ferne, jubelt nicht über das Nahe; denn er weiß, daß Zeit kein Stillestehn kennt. Er schaut Fülle
und Mangel und entzückt sich nicht am Gelingen, verzagt nicht am Mißlingen;
denn er weiß, daß Schicksal kein Gleichmaß kennt. Er schaut die Wechselbahn
der Dinge und berauscht sich nicht am Leben, verzweifelt nicht am Tode; denn
er weiß, daß Werden keine Sicherheit kennt.» -
(tschu)
Meer (17) Ein Mädchen in einem Kattunrock legte ihren Mund an sein Ohr. »Wer von uns läuft schneller zum Meer?« sagte sie, und ihre Brüste hüpften auf und nieder, als sie mit wild fliegendem Haar vor ihm hinrannte bis an den Rand des Meeres, das nicht aus Wasser gemacht war, und bis zu den kleinen donnernden Kieseln, die in millionen Stücke zerbrachen, als das trockene Meer höher stieg. Entlang der glänzenden Schwemmlinie, vom Horizont her, wo die gewaltigen Vögel segelten wie Boote, aus den vier Ecken der Windrose, heraufschwellend durch die Unkrautbeete, heranschmelzend vom Orient her und von den Tropen, aufsteigend durch die Eishügel und Walfischgefilde, durch die Gänge des Sonnenuntergangs und Sonnenaufgangs, durch die Salzgärten und Heringsfelder, die Wasserwirbel und Felsstrudel, aus den Rinnsalen in den Bergen, herab über die Wasserfälle - so kam es heran: ein weißgesichtiges Menschenmeer, die furchtbare, tödliche Zahl der Wellen, die See aller Jahrhunderte, auf die der Hagel vor Christi Geburt niedergeprasselt war, die den Sturmwind von morgen erlitt - - mit den Stimmen der ganzen Welt brach sie herein über den endlosen Strand.
»Komm zurück! Komm zurück!« rief der Junge das Mädchen.
Sie lief achtlos weiter über den Sand und ging im Meer verloren. Nun war
ihr Gesicht ein weißer Wassertropfen im waagrechten Regenfall, und ihre Glieder
waren weiß wie Schnee, verloren in der weißen, wandelnden Flut. Nun war das
Herz in ihrer Brust eine kleine rote Glocke, die in einer Woge läutete, ihr
farbloses Haar war ein Saum auf dem Schaum, und ihre Stimme leckte über das
Fleisch- und Beinwasser. - (echo)
Meer (18) Haben Sie gefragt, Fräulein Kašperová,
was ich am Meer gemacht habe. Praktisch nichts, ich habe mir meinen Liegestuhl
nahe ans Ufer gerückt und fast den ganzen Tag lang ununterbrochen den Wellen
gelauscht, die bei Flut anstiegen und bei Ebbe zurückwichen, ohne daß
ich dabei dachte, sondern durch diesen Rhythmus hindurch habe ich vielmehr Geschichten
des Lebens und des Todes gesehen und wieder von neuem die Geburt und die Auferstehung
und die Verkalkung ... das alles aber in Ereignissen und Geschichten, so wie
ich sie von Kindheit an gesehen und erlebt habe ... In diesem Moment am Meer
und in meinen Erinnerungen an diese Meeresmomente von Flut und Ebbe habe ich
gelächelt und lächle bis heute, staunend wie Jira und ich auf Zypern,
als wir den verträumten, lächelnden und mystischen Apollo-Figuren
Auge in Auge gegenüberstanden ... - Bohumil Hrabal, Die Katze
Autitschko. In: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt
am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)
Meer (19) Das Meer war schmutzig und seine Wellen
glichen dicken, alten Frauen, die ein nicht ganz sauberes Kopftuch aus Spitzen
auf die fettig-grauen Haare gelegt haben - und nun weht das Tuch, während
die Weiber mühsam vorwärts rollen. - Friedrich Glauser, Die Fieberkurve. Zürich 1989 (zuerst
1937)
Meer (20) Das Meer entsendet die Flüsse,
welche die Erde befeuchten, so wie das Blut in den Adern den Körper des
Menschen befeuchtet. Manche Flüsse strömen mit Ungestüm aus dem Meere,
andere sanft fließend und wieder andere mit Stürmen. Die Erde hat beim
Ablaufe eines jeden Flusses irgendeine Art von Erzwerk, wenn sie nicht
eben zu fett, zu trocken oder zu aufgerissen ist, denn dann können sich
keine Erzwerke bilden .. - (bin)
Meer (21)
Das Meer
Nichts hilft dem Meer, sich Heere anzuwerben Von Robben, Seelöwen und Riesenwalen, Nichts hilft ihm, seinen Ufersand zu bleichen Mit so viel erster Tollheit Unglückszeichen, Daß Geier selbst den Zoll des Mitleids zahlen, Nichts, daß es Berge häuft des Schaumes an — Weil selbst das Schreckbild von so bösem Sterben Erneuten Wahnsinn nicht verhindern kann. Es drängt das Meer in einen Bach hinein, Der, wie ein durst'ger Zecher, Sich ihm entgegenstürzt von hoher Quelle Und aus dem engen Becher Nicht nur viel Salzflut trinkt, nein, sein Verderben, Scheint er ja doch ein Schmetterling zu sein — Sein Flügel in die Welle — Der in dem Schimmerlicht der See will sterben. |
- Luis de Góngora, nach: Gustav René
Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst.
Reinbek bei Hamburg 1969 (rde 82/83, zuerst 1959)
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