Einer meiner entfernten Verwandten hatte schreckliche
Angst vor Hasen. Er
hatte auch allen Grund dazu. -
(step)
Angst (2) Sataspes, der Sohn des Teaspis, ein Achaimenide, ist nicht um Libyen herumgefahren, sondern er bekam Angst vor der Länge der Fahrt und der Verlassenheit des Landes und kehrte um und vollendete die Arbeit nicht, die seine Mutter ihm auferlegt hatte.
Er hatte nämlich der Tochter des Zopyros, des Sohnes des Megabyzos, Gewalt angetan. Wegen dieser Schuld wollte König Xerxes ihn hinrichten durch Pfählen, die Mutter des Sataspes aber, die Dareios‘ Schwester war, bat um sein Leben und sagte, sie selber werde ihm eine schwerere Strafe auferlegen als er. Denn er solle genötigt werden, um Libyen zu fahren, bis er herum sei und in den Arabischen Golf komme.
Als Xerxes ihm unter dieser Bedingung das Leben schenkte, ging Sataspes nach Ägypten und nahm von da Schiff und Besatzung und fuhr zu den Säulen des Herakles, dort hindurch und um das Kap in Libyen, das Soloeis heißt, weiter nach Süden. Als er nun viele Monate lang an vielen Küsten vorübergefahren war und es immer noch weiter ging, kehrte er um und segelte zurück nach Ägypten. Von dort kam er zum König Xerxes und erzählte, wie sie weit, weit in der Ferne an Menschen vorbeigekommen seien, die klein waren und mit Palmblättern bekleidet, und die seien, sooft sie mit dem Schiff anlegten, in die Berge geflohen und hätten ihre Orte verlassen; sie aber hätten diese Orte aufgesucht, jedoch nichts zerstört, nur Vieh herausgeholt. Daß sie nicht ganz um Libyen herum kamen, dafür gab er als Grund an, das Schiff habe nicht mehr vorwärts kommen können, sondern sei festgehalten worden im Meer.
Xerxes aber glaubte ihm nicht, daß er die Wahrheit sagte,
und weil er die aufgetragene Arbeit nicht abgeschlossen hatte, vollstreckte
er das erste Urteil und ließ ihn an den Pfahl schlagen. - (
hero
)
Angst
(3)
Einer
meiner Onkel ängstigte
sich schrecklich wegen der politischen Situation. Die Angst verschloß
ihm nicht nur den Mund, sondern auch andere Körperteile. - (step
)
Angst
(4) Außenstehende,
Nichtvertraute unserer Erziehung, mögen unser Verhalten, ist der Engländer
da, als ein verrücktes anschauen, uns selbst, unsere Atmosphäre in Stilfs,
als eine künstliche, unerträglich. Obwohl wir ständig in der Furcht existieren,
unser Freund könnte uns, das ganze Jahr fürchten
wir das, plötzlich aufsuchen, von einem Augenblick
auf den andern in Stilfs sein, denken wir gleichzeitig die ganze Zeit:
wenn unser Freund doch nur plötzlich auftauchte, da wäre!, denn nichts
ist fürchterlicher, für uns alle bedrohlicher mit der Zeit, insbesondere
gegen das Winterende, als hier in Stiifs, in den Bergen, besser, im Hochgebirge,
das hier unumschränkt als die absolute Natur herrscht, über lange, ja längste
Zeit, allein, auf uns angewiesen zu sein, ohne Eindringling, ohne Ausländer.
Wir fürchten, ja, wir hassen Besucher und wir klammern uns gleichzeitig
mit der Verzweiflung der von der Außenwelt gänzlich Abgeschnittenen an
sie. Unser Schicksal heißt Stilfs, immerwährende Einsamkeit.
In Wahrheit können wir die Personen an unsern Fingern abzählen, die uns
dann und wann als sogenannte erwünschte Personen aufsuchen, aber auch vor
diesen erwünschten Personen haben wir Angst, sie könnten uns aufsuchen,
weil wir vor allen Menschen, die uns aufsuchen könnten, Angst haben, wir
haben eine ungeheure Angst davor entwickelt, es könnte uns überhaupt ein
Mensch plötzlich aufsuchen, obwohl wir nichts mit größerer Inständigkeit
erwarten, als daß uns ein Mensch, und wie oft denken wir: gleichgültig,
was für ein Mensch, sei er ein Unmensch!, aufsucht und unsere Hochgebirgsmarter
unterbricht, unser lebenslängliches Exerzitium, unsere Einsamkeitshölle.
Wir haben uns damit abgefunden, für uns zu sein, aber denken doch immer
wieder, es könnte ein Mensch nach Stilfs kommen und wissen nicht, sucht
uns einer auf, ist es unsinnig oder schädlich, oder schädlich und unsinnig,
daß uns dieser Mensch aufsucht, wir fragen uns, ist es notwendig, daß dieser
Mensch nach Stilfs herauf kommt, ist es nicht eine gemeine Verletzung unserer
Einsamkeitsregel oder unsere Rettung. Tatsächlich empfinden wir die meisten,
die noch herauf kommen, die wenigen, die sich überhaupt noch zu uns herauf
getrauen, Erfahrungen und Gerüchte erschweren ja ihren Entschluß, machen
sie unfähig, Stilfs aufzusuchen, als Schädlinge. - Thomas Bernhard,
Midland in Stilfs. In: (
schrec
)
Angst
(5) Mit Felices
Jawort nehmen Kafkas Ängste vor der Ehe
bedrohlich zu. Am 10. Juli 1913 schreibt er ihr: Verstehst Du das, Felice,
wenn auch nur aus der Ferne? Ich habe das bestimmte Gefühl, durch die Ehe,
durch die Verbindung, durch die Auflösung dieses Nichtigen, das ich bin,
zugrundezugehn... Felice macht in der ersten Augusthälfte Urlaub in
Westerland auf Sylt; Kafka fährt, obschon aufgefordert, sie zu begleiten,
nicht mit.
Im September tritt er selbst einen längeren Sommerurlaub an, der ihn nach einem vierzehntägigen Aufenthalt in Wien — er besucht dort den Internationalen Zionistenkongreß und anschließend eine Veranstaltung der Arbeiterversicherungsanstalt — nach Triest weiterführt. Von dort fährt er mit dem Schiff nach Venedig und schreibt an Brod und an Felice. Brod gegenüber erwähnt er, er sei so schwer beweglich und traurig, aber es sei gut, daß ich allein bin. Felice gegenüber führt er diese schwere Beweglichkeit deutlicher aus: Eingesperrt von den Hemmungen, die Du kennst, kann ich mich nicht rühren... vielmehr liege ich ganz und gar auf dem Boden, wie ein Tier, dem man (auch ich nicht) weder durch Zureden noch durch Überzeugen beikommen kann... ich bin wie verstrickt, reiße ich mich vorwärts, reißt es mich stärker wieder zurück. Der Brief schließt mit einer Frage, die wie von selbst sogleich beantwortet wird: Aber was soll ich tun, Felice? Wir müssen Abschied nehmen.
Noch stärker als Anfang Juli vor dem Prager Hôtel de Saxe stößt ihn
jetzt in Venedig vor dem Grand Hôtel Sandwirth der Anblick der Hochzeitspaare
ab: ich bin gierig nach Alleinsein, die Vorstellung
einer Hochzeitsreise macht mir Entsetzen, jedes Hochzeitsreisepaar, ob
ich mich zu ihm in Beziehung setze oder nichts, ist mir ein widerlicher
Anblick, und wenn ich mir Ekel erregen will, brauche
ich mir nur vorzustellen, daß ich einer Frau den
Arm um die Hüfte lege, schreibt er zwei Wochen später an Max Brod aus
einem Sanatorium in Riva. - Aus: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino.
Reinbek bei Hamburg 1996
Angst
(6) Kein vernünftiger
Mensch wird etwas dagegen einzuwenden haben, wenn ich Haschisch mit
dem Selbstmord, einem langsamen Selbstmord,
oder einer immer blutigen, geschliffenen Waffe vergleiche. Kein philosophischer
Geist wird mich tadeln, wenn ich es der Zauberei, der Magie gleichstelle,
welche auf die Materie einwirken und durch Geheimmittel, deren Unwirksamkeit
oder Wirksamkeit nicht erwiesen ist, eine Herrschaft erringen wollen, die
dem Menschen untersagt oder doch nur dem erlaubt ist, der ihrer würdig
erachtet wird. Wenn die Kirche Magie und Zauberei
verdammt, dann deshalb, weil diese gegen die Pläne Gottes
streiten, weil sie das Wirken der Zeit ausschalten und die Eigenschaften
der Reinheit und Sittlichkeit überflüssig machen wollen; und weil die Kirche
nur diejenigen Schätze als legitim und wahr ansieht, die durch gute und
beharrliche Absichten erreicht werden. Wir nennen den Spieler, der ein
Mittel gefunden hat, unfehlbar zu gewinnen, einen Schurken. Wie sollen
wir den Menschen nennen, der sich mit ein wenig Geld Glück und Genie erkaufen
will? Es ist die Unfehlbarkeit des Mittels, die die Sittenlosigkeit begründet,
genauso wie die vorausgesetzte Unfehlbarkeit der Magie dieser ihr höllisches
Stigma aufprägt. Soll ich hinzufügen, daß Haschisch,
wie alle einsamen Freuden, das Individuum
für die Menschen und die Gesellschaft
für das Individuum überflüssig macht und es dazu treibt, sich unaufhörlich
selbst zu bewundern, und es Tag um Tag tiefer in den strahlenden Abgrund
stürzt, wo es sein Angesicht als Narziß betrachtet? - Charles
Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)
Angst
(7) Ch‘in Shihuang-ti,
der erste Kaiser von China (221—210 v. Chr.),
war der mächtigste Mensch seiner Zeit. Sein Reich war größer und bedeutender
als das Alexanders des Großen. Er
hatte alle Königreiche rund um sein eigenes — Ch‘in — erobert und zu einem
Großreich namens China vereinigt. Doch in den letzten Jahren seines Lebens
wurde so gut wie niemand mehr seiner ansichtig.
Der Kaiser lebte in der Hauptstadt Sienyang in dem prächtigsten Palast, der je gebaut worden war. Er hatte 270 Pavillons, die durch unterirdische Geheimgänge miteinander verbunden waren, so daß sich der Kaiser ungesehen im Palastbereich bewegen konnte. Er schlief jede Nacht in einem anderen Raum, und jeder, der ihn versehentlich erblickte, wurde geköpft. Einzig eine Handvoll Männer wußte, wo er sich befand, und wer seinen Aufenthaltsort verriet, wurde gleichfalls hingerichtet.
Der erste chinesische Kaiser hatte solche
Angst vor anderen Menschen,
daß er sich, wenn er seinen Palast verlassen mußte, sorgfältig verkleidete
und inkognito reiste. Auf einer dieser Reisen durch die Provinzen starb
er plötzlich. Seine Leiche wurde im kaiserlichen
Wagen in die Hauptstadt zurückgebracht. Um den Leichengestank zu kaschieren,
folgte ein Karren mit gesalzenem Fisch — keiner durfte wissen, daß der
Kaiser tot war. Er starb einsam, weit weg von seiner Familie,
seinen Frauen, Freunden und Höflingen, begleitet nur von einem Minister
und einer Handvoll Eunuchen. - (
macht
)
Angst
(8) Carl Friedrich
von Weizsäcker steuert die absurde Anekdote bei, im Krieg
(wohl im Ersten) hätten zwei in einem Schützenloch gelegen und der eine
zum anderen gesagt: Mensch, du hast ja Angst, worauf der erwidert
habe: Wenn du so viel Angst hättest wie ich, wärst du längst weggelaufen.
- (
blum3
)
Angst
(9) Was führt die
Menschen zueinander? Die Antwort ist eindeutig. Gesellschaft
gründet weder auf einem unaufhaltsamen Drang zur Geselligkeit
noch auf den Notwendigkeiten der Arbeit. Es ist
die Erfahrung der Gewalt, welche die Menschen vereinigt. Gesellschaft ist
eine Vorkehrung des gegenseitigen Schutzes. Sie beendet den Zustand absoluter
Freiheit. Von nun an ist nicht mehr alles erlaubt.
- Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt. Frankfurt
am Main 1996
Angst
(10) Man
stelle ihn, Babel, zur
Rede, weshalb er nicht arbeite — als arbeitete er wirklich nicht.
»Was mache ich denn von früh bis abends und abends bis früh anderes als arbeiten ? Ich liebe Pferde, ich gehe oft zu den Pferden, gewiß, ich schaue mir Pferderennen an und verbringe viel Zeit damit, aber das ist auch alles. Außer den Pferden liebe ich nur die Arbeit — und Paris, wo es so gut war zu leben. Jetzt sind mir nur die Pferde und die Arbeit geblieben. Stellen Sie sich vor, einem Musiker wird gesagt: Wir rechnen mit dir, wir warten auf dein Werk, gerade auf dein Werk. Man könnte den betreffenden Musiker, dem diese Worte gesagt werden, beneiden — aber nur so lange, als man vergißt, daß das musikalische Ideal jener, die dem Musiker zureden, ihn um neue Werke bitten oder zur Komposition neuer Werke überreden wollen — etwa Dunajevski heißt. Solange ich nicht publiziere, wirft man mir lediglich Faulheit vor. Wenn ich jedoch publiziere, so wird sich plötzlich ein wahrer Katarakt schwerwiegender und gefährlicher Anklagen über mein kahles Haupt ergießen. Ich fühle mich wie ein schönes Mädchen auf dem Ball, das jeder zum Tanz holen möchte. Ließe ich mich aber erweichen, würde sich das ganze Ballpublikum, würden sich auch die Freier wie ein Mann gegen mich wenden. Sobald ich zu tanzen begänne, würde es sich herausstellen, daß man mich nur so lange für schön hielt, als ich abseits stand. Auf diesem Ball so tanzen wie ich — das ist doch eine herausfordernde Ungehörigkeit, ja ein wildes und gefährliches Beispiel!«
Er legt den leicht gekrümmten Zeigefinger an seine dicken Lippen, neigt sich zu mir herüber und sagt mit der Stimme eines gehetzten Menschen:
»Unter denen, die mich in Wort und Schrift zum Tanz auffordern gibt es viele, die es nur tun, weil sie wissen, daß, sobald ich auf den ersten Walzer eingehe . . .« Er hebt die Hand und lacht laut und bitter, macht eine Geste, als winke er zum Abschied, und beendet den Satz mit den Worten: »Addio mare!«
In diesem Augenblick wurde mir klar: dieser Mann hatte Angst. -
Ervin Sinko, Moskauer Tagebuch 1936, nach (
babel
)
Angst
(11) Man
hört von dem Mann immer wieder die Redewendung: »Ich habe eine fürchterliche
Angst, wirklich«, und zwar so häufig, daß man glauben möchte, er brauche
diese Floskel, um damit das Laufwerk seiner Rede zu schmieren, so wie andere
dies mit einem »Wenn du so willst« oder »Ich will mal sagen« tun. Aber
wovor hatte der in seine mittleren Jahre gekommene Intellektuelle eine
fürchterliche Angst?
Er hatte fürchterliche Angst davor, einen Beziehungsfehler zu machen. Aber ist das etwas, was den Namen Angst noch verdient? Ist dieser Albklump ›Beziehung‹ nicht im Geschwätz immer verdünnbar, auflösbar in der ingenieurshaften Fertigteil-Sprache, in der man inzwischen gelernt hat, über die Seele zu sprechen? Kann man das nicht ein paar Nummern kleiner ausdrücken, was dieser guterzogene Kopf, auch noch doppeltgenäht, seine ›fürchterliche Angst‹ nannte? Aber wir haben es allenthalben mit diesen reklamehaften Vergrößerungen der Affektwörter zu tun: »Also ich bin wahnsinnig erschrocken über seinen Mantel mit Pelzkragen.« Ein aufwendiger, inflationärer Gebrauch von Leidfloskeln, eine Art hypochondrisches Display betreibt Werbung für die eigene Hochempfindlichkeit: erschrocken, betroffen, angerührt; lauter falsche Bibbertöne eines im Herzen nicht mehr frappierbaren Subjekts.
Was werden sie erst sagen, wenn eines Tages der erhebliche Schrecken
auftaucht? - Botho Strauß, Paare, Passanten. München 1984
(dtv 10250, zuerst 1981)
Angst
(12) Du fragtest
einmal den Großvater, ob er mit dem Ding schon einmal
einen Menschen erschossen habe, und er sagte: «Ja.»
Dann sagtest du: «Wann, Großvater?» Und er sagte: «Im Rebellionskrieg und auch nachher.»
Du sagtest: «Willst du mir davon erzählen, Großvater?» Und er sagte: «Ich spreche nicht gern darüber, Robert.» Nachdem dann dein Vater sich mit diesem Revolver erschossen hatte und du von der Schule zurückgekommen warst und das Leichenbegängnis stattgefunden hatte, gab der Coroner nach der amtlichen Leichenschau dir den Revolver zurück und sagte: «Bob, du wirst das Ding wohl behalten wollen. Ich sollte es eigentlich beschlagnahmen, aber ich weiß, dein Alter hat große Stücke darauf gehalten, weil sein Alter es den ganzen Krieg hindurch getragen hat und nachher auch hier noch, als er mit der Kavallerie hierher versetzt wurde, und es ist doch ein verteufelt guter Revolver. Ich hab ihn heute nachmittag ausprobiert. Er haut nicht viel hin, aber man trifft mit ihm.»
Er hatte die Waffe wieder in die Schublade gelegt, wo sie hingehörte, aber am folgenden Tag hatte er sie hervorgeholt und war mit Chub zu der höchsten Stelle des Hochlandes oberhalb von Red Lodge hinaufgeritten, wo sie jetzt die Straße über den Paß und über das Bear Tooth Plateau nach Cooke City gebaut haben, und dort oben, wo die Luft dünn ist und wo den ganzen Sommer hindurch Schnee auf den Kuppen liegt, hatten sie neben dem See haltgemacht, der von tiefgrüner Farbe und angeblich 800 Fuß tief ist, und Chub hielt die beiden Pferde, und er, Robert Jordan, kletterte auf einen Felsen hinauf und beugte sich vor und sah in dem stillen Wasser sein Gesicht und seine Hand, die die Waffe hielt, und dann ließ er sie mit dem Kolben voran ins Wasser fallen, sah sie versinken, und Blasen stiegen auf, sah sie versinken, bis sie in dem klaren Wasser nur noch so groß war wie ein Anhängsel, und dann war sie nicht mehr zu sehen. Dann kam er vom Felsen zurück, und als er sich in den Sattel schwang, stieß er der alten Bess die Sporen so heftig in die Weichen, daß sie zu bocken anfing wie ein altes Schaukelpferd. Er ließ sie am Seeufer sich ausbocken, und als sie wieder vernünftig wurde, ritten sie nach Hause.
«Ich weiß, warum du das gemacht hast, Bob», sagte Chub. «Gut, dann brauchen
wir nicht darüber zu reden»,
hatte er geantwortet. - Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt. Frankfurt am Main
1978 (zuerst 1940)
Angst
(13) Das leise, undeutlich
wahrnehmbare Tapsen hinter ihr war ein Geräusch
gewesen, das nicht sie gemacht, kein Echo, keine Übertragung von irgendeinem
Laut, den sie erzeugt hatte. Sondern etwas Grundverschiedenes, isoliert Stehendes,
Gesondertes, dessen war sie sicher. Die Sinne können zu jeder Zeit die Aura
der eigenen Geräusche identifizieren. Es war nicht das Aufsetzen eines beschuhten
Fußes gewesen, hatte sich mehr so angehört, als würde etwas Wattiertes oder
Entblößtes unachtsam Druck auf den Boden ausüben. Ein Zwischending zwischen
einem Rascheln, wie es ein Blatt vielleicht erzeugte, und dem sanftesten aller
sanften Klapse. Ein winziger Laut, nur die Spur eines Lautes, doch ein Laut,
der sich zu einem riesenhaften Schrecken aufblähte, sich in ihrem Herzen und
ihrem Gehirn wie ein Ballon ausdehnte.
Fast hätte sie die kleine Tüte mit Holzkohle fallen gelassen. Sie wollte zwei vollkommen entgegengesetzte Dinge gleichzeitig tun. Ihre Gliedmaßen wollten verharren, sich festkeilen, ihr eine Chance geben, noch einmal zu horchen, um das Geräusch zu bestätigen, es abzugrenzen gegen die, die sie selbst machte. Doch Angst und Schrecken würden das nicht zulassen. Stehenzubleiben bedeutete zu sterben. Sie wollte die sie behindernde Holzkohle von sich werfen, auf der Stelle kopfüber losstürzen, den Rest des Weges bis zur Haustür hin hinaufstürmen. Doch auch das ließ die Angst nicht zu. Sie ließ sie das Tempo einhalten, das sie bisher innehatte. Es war der uralte Instinkt, Gefahr abzuwenden, indem man einfach so tat, als würde man sie ignorieren. Geh so weiter wie bisher, und der Angriff ist hinausgeschoben, und wenn auch nur für ein, zwei kurze Augenblicke lang. Fliehe - oder versuche zu fliehen -, und du führst ihn um so schneller herbei.
Sie fuhr fort, sich wie ein starrer Roboter vorwärts zu bewegen, achtete nicht mehr länger auf das, was ihre Beine taten, überließ sie sich selber. Ihre Ohren lauschten angespannt, um das schwächste ... Es wiederholte sich, war diesmal näher hinter ihr, trotzdem aber viel schwächer. Gar nicht vorhanden im Grunde, ein Raunen der Pflastersteine. In der Tat so schwach, daß sie, hätte sie es nicht das erste Mal gehört, nicht gewußt hätte, ob sie es diesmal überhaupt bemerkt haben würde.
Dann stürmte etwas anderes auf sie ein, wieder etwas, das von außen kam, außerhalb von ihr lag, aber diesmal wurde es von einem anderen Sinnesorgan als dem Gehör wahrgenommen. Eine prickelnde Empfindung, stetig von hinten beobachtet zu werden, von etwas, das verstohlen, aber beständig hinter ihr herkam, breitete sich langsam aus, so als würden sich die Poren sträuben, erst über ihren Nacken und dann rauf und runter über die gesamte Länge ihres Rückgrates. Sie konnte sie nicht abschütteln, unterdrücken. Sie wußte, daß Augen sie fixierten, etwas folgte ihr wohlüberlegt auf dem Fuße.
Und in diesem Moment - doch es war jetzt bedeutungslos, denn der Schrecken war nun grenzenlos, beschränkte sich nicht mehr, sondern war auf dem Vormarsch - wich der .schwarze Bogen des Tunneldaches ein zweites Mal zurück, und sie war wieder im Freien. Aber sie schleifte den Schrecken hinter sich her mit nach draußen.
Ihre tauben Beine, die aufgrund mangelhafter Koordination der Muskeln ihr den Dienst zu versagen begannen, trugen sie noch ein paar Meter weiter den Weg hoch. Sie wußte, .daß sie sie nicht länger dirigieren konnte; sie wurden langsamer, begannen innezuhalten. Sie war stehengeblieben, bebte jedoch am ganzen Körper. Es war eine Art Pulsieren, das von innen herauskam, wie Schüttelfrost.
Sie mußte erkennen, daß ihre angstgeweitete Seele nicht tnehr zu ertragen vermochte. Die Muskeln ihres Halses begannen ihren Kopf herumzuzerren, damit sie zurückschaute auf den unheilschwangeren Eingang, den sie soeben durchschritten hatte. Die Tüte mit der Holzkohle rutschte langsam aus ihren kraftlosen Händen und purzelte in verhängnisvoller Vorahnung zu ihren Füßen zu Boden.
Sie saß in der Falle, wurde festgehalten, sicher, wie ein Vogel von einer
Schlange gefangengehalten wurde, unfähig, noch einen weiteren Schritt zu machen,
bevor ihr Kopf nicht jene hingebungsvolle, selbstmörderische Drehung nach hinten
vollendet hatte, um zu sehen, was das wohl war, was der Tunnelschlund
an ihren Fersen wütend ausspie. - Cornell Woolrich, Schwarzes Alibi. München
1986 (zuerst 1942)
Angst
(14) Ich wohne jetzt
im Hotel und arbeite in einem Atelier in einem abseitsliegenden Hause hinterm
Bahnhof Montparnasse. Da gehe ich fast täglich abends noch einmal hin, um bei
Licht zu zeichnen. Es ist mir nun immer schon etwas unheimlich zumute gewesen,
wenn ich mit der Kerze eintrat und Stühle, Tische, Kissen und die herumliegenden
Zeichnungen anleuchtete, bis ich dann die Lampe ansteckte und mich an die Arbeit
machte. - Neulich mußte die Myrille zu ihrer Mutter reisen.Wir aßen frühzeitig
zu Abend, weil ihr Zug um sieben Uhr abfuhr. Dann ging ich vom Bahnhof geradewegs
in das Atelier, also viel früher als sonst. Da hatte ich auf der Treppe plötzlich
Angst einzutreten. Die Gegenstände waren doch nicht
darauf gefaßt, nicht vorbereitet, daß ich so früh käme. Vielleicht lagen und
standen sie nicht mehr oder noch nicht wieder so, wie ich sie verlassen hatte.
Sie hatten sich gehen lassen, jedes auf seine Art, und sich vielleicht noch
nicht zurechtgerückt für meine Wiederkunft. - Ja, da bin ich vor der Tür
umgekehrt. Ich wollte zurück, Myrille holen und zum Schutze mitnehmen. Aber
sie war ja gerade abgereist, würde eine Woche fort sein. Es ist nicht gut, daß
der Mensch allein sei. Auch nur schlafend ein Lebendiges bei sich zu haben,
ist schon Trost. So kam ich vor mein Hotel. Ich trat in den Flur, ging die Treppe
hinauf bis zum ersten Absatz. Da hängt ein Spiegel.
Ich wagte nicht hineinzuschauen in das Glas.Wenn ich nun nicht mehr mich, wenn
ich irgendein Gesicht darin sah... - Franz Hessel, nach: Vom Geheimnis der alltäglichen
Dinge. Hg. Johannes Werner. Frankfurt am Main 1998
Angst
(14)
Die Angst Erhitzt vor Feuer, weiß vor Schrecken Der schwarze Ofen braust und frißt Erhitzt vor Feuer, weiß vor Schrecken, |
- (
jar
)
Angst
(15)
- Honoré Daumier, Zeichnungen. Ausstellungskatalog,
Hg. Colta Ives, Margret Stuffmann, Martin Sonnabend. Stuttgart 1992
Angst
(16) Pfeifende
Splitterschwärme fegen die Luft, zackig und kantig. Das pflegen wir dicke Lutft
zu nennen. Ganz daran gewöhnen kann sich keiner, auch der Kühnste nicht.
Mit tausend Gliedern erwacht die Angst in uns und verdichtet sich bald zu
einem Gefühl von absoluter Stärke. wenn man ein Bild von ihr geben wollte, so
könnte man kein besseres wählen als das dieser Landschaft: eine schwarze, traurige
Ebene, unaufhörlich und schmerzhaft von feurigen Punkten durchbrannt. Dagegen
hilft kein Mut, denn die Gefahr ist überall, sie läßt
sich nicht erkennen, die ganze Landschaft scheint von ihr gesättigt zu sein.
Das Ungewisse ist das Entsetzliche. Wann, wo, wie? Jeden Augenblick kann es
aufschießen, ganz nah, malmend, knickend, zerreißend. Wen es trifft, der bleibt
liegen, während die andern weiterhasten, ohne ihm einen flüchtigen Blick zu
gönnen. Furchtbar sind die Rufe der einsam Sterbenden, sie aus dem Dunkel heraus
in langen Pausen anschwellen und verklingen wie die von Tieren, die nicht wissen,
warum sie leiden müssen. - Ernst Jünger, Der Kampf
als inneres Erlebnis (1926)
Angst
(17) Der
Mann rührte sich nicht, das Gesicht fast verborgen, blickte er auf seine Schuhe;
von dort breitete sich gleichsam ein Fleck Leere aus, ging ein Gestank nach
Schatten, eine Kraft aus. Ich bin sicher, wenn er plötzlich den Kopf gehoben
hätte, um irgendeinen von uns anzusehen, die Antwort wäre ein Schrei gewesen
oder ein kopfloses Rennen auf der Suche nach dem Ausgang. In dieser aufgehobenen
Zeit waren Kräfte im Spiel, die mit uns nichts mehr zu tun hatten; die Angst
war eine lebendige Materie, in die sich die undeutliche Vorstellung einschlich,
was geschehen würde, wenn einer von draußen vorurteilslos einstiege und
die reglose Gestalt an der vertikalen Stange anrempelte. - (
cort
)
Angst
(18) In meinen
Arbeiten ist der Versuch gemacht zu zeigen, daß man den Menschen nur vom Tier
her verstehen kann. Die Analyse aber hat noch kaum begonnen. Nachdem man einige
besondere Seiten des Problems wenigstens ins Auge gefaßt hat, ist es möglich,
ganz allgemein eine Definition für denjenigen Menschen zu geben, mit dem sich
Politik zu befassen hätte. Dieser Mensch ist absolut
von der Angst her definiert. Nicht von der Angst vor den Raubtieren, mit denen
er zu konkurrieren hat, sondern von der Angst vor der Vielfältigkeit des Tieres
im anderen Menschen. Wenn man verstanden hat, daß jeder einzelne Mensch nicht
mehr ein einziges bestimmtes Tier, und zwar ein Tier in Permanenz ist, sondern
ein multiples Tier, so ist diese Angst auch völlig
begründet. -
Ernst Fuhrmann, Die Angst als soziales Problem. Nach (
fuhr
)
Angst
(19) Bomben, die
Mauern schwankten. Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach
schwerer Arbeit. Früher aß ich im Keller dicke Butterbrote. Seit ich ausgebombt
bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschütteter half, laboriere ich
an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums
Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das
Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen
sich seine gedrechselten Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Das Hirn
krallt sich an Formeln, Satzfetzen: »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts...
Und keines fällt aus dieser Welt... Noli timere ...« Bis die Welle sich verzieht.
- Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen
vom 20. April bis 22. Juni 1945. Berlin 2005 (zuerst 1954)
Angst
(20)
Angst
(21) Ich kann ich
mir eine elementare, oberflächliche Untersuchung nicht ersparen - über die Art
wie du zuhörst, in diesem Augenblick oder seit jeher: mit Beklemmung? Vermutlich
ist das ungenau, obwohl ich ein Unbehagen in dir spüre. Sagen wir lieber, du
hast dich an die Angst - die Angst, hier zu sein gewöhnt. Die Angst ist nicht
verschwunden, nein, ganz und gar nicht; aber sie ist ein Merkmal von dir geworden,
so daß du, wenn du dich gänzlich ohne Angst entdecktest, als Erster erstaunt
und - man verzeihe mir die Banalität - erschrocken wärest über dieses Fehlen
von Angst, in dem du dich nicht wiedererkennst. Aber die Angst - warum es leugnen
- zehrt; die Angst ist angstschaffen: sie macht Angst und hat Angst. Die Angst
verfolgt, die Angst flieht; die Angst lauert dir auf und zieht sich zurück;
die Angst erforscht deinen Körper dort, wo du überaus verletzlich bist, um dich
zu zerstören; aber die Angst fürchtet die Berührung deiner eisigen Hände - erstarrt
in der Angst vor der Angst. Ein langer Aufenthalt an diesem ungenauen und eigensinnigen
Ort hat dich daran gewöhnt, das Sein zu versuchen - es Leben zu nennen wäre
wahrscheinlich ungenau. Dieses ungesunde Beharren auf dem Sein bewirkt, daß
du beständig Schlauheit üben mußt, um Formen der Ereignisse abzuwenden, die
du weder lenken noch bestehen noch begreifen kannst. Denn im Grunde begreifst
du von diesen Ereignissen gar nichts. Aus jenen Geräuschen von Tropfen und instabilen
Türen konstruierst du ununterbrochen Märchen - ebenso einfallsreich wie unglaubwürdig,
voller erstaunlicher Begebenheiten, phantasiereicher Fristen, liebevoller Anspielungen
auf unbekannte Aussichten - aber vor allem unaufhörlich mit Schrecken durchtränkt.
Die Tür kann der Eingang zum Hades oder zur Folterkammer sein; und der Tropfen
~ ist er nicht eine berühmte und anerkannte Tortur der Virtuosen im Verhängen
des Todes? Ein zustaubwerdender Ziegel spielt auf einen Erdhügel an, der sich
langsam ausdehnt, bis er alles ergreift, was ist. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
Angst
(22)