- N.N.
Das geschah kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 1912, und ich glaube, es ist mein einziger uneingeschränkter Erfolg geblieben. Denn von da an war mein Leben eine einzige Dekadenz.
Nicht nur, daß ich viel von meiner Schönheit, meinen Zähnen und meinem Haar einbüßte, ich zog auch der Außenwelt gegenüber zunehmend den kürzeren. Weder konnte ich meinen Willen durchsetzen, noch mein Talent nutzen. Ich wußte zwar, daß ich Schriftsteller werden wollte, aber mein Vater war Apotheker und bestand darauf, daß auch ich Apotheker würde. Und selbst das reichte ihm nicht! Er wünschte, daß ich es zu mehr brächte als er, und schickte mich, als ich dann Apotheker war, auch noch zur Universität, damit ich Chemieingenieur würde. Ich durfte also noch einmal viereinhalb Jahre warten, bis ich mich endlich mit ganzer Seele dem Schreiben widmen konnte.
Aber wie lange? Kaum hatte ich einmal tief durchgeatmet, brach der Krieg aus. Ungarn erklärte der Sowjetunion den Krieg, ich wurde an die Front geschickt, wo unsere Armee bald geschlagen war und ich von den Russen gefangengenommen wurde. In der Gefangenschaft verbrachte ich weitere viereinhalb Jahre, aber nach Hause zurückgekehrt, erwarteten mich neue Schwierigkeiten, die meine schriftstellerische Laufbahn nicht gerade förderten.
Allein schon daraus kann jeder sehen, daß ich das wenige, das mir unter solchen Umständen in die Welt zu setzen gelang - einige Romane, fünf, sechs Erzählbände, zwei Theaterstücke -, sozusagen heimlich schrieb, in den wenigen freien Stunden, die ich der Geschichte abtrotzen konnte. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich mich stets um Wortkargheit, Kürze und Genauigkeit bemühte, immer auf der Suche nach dem Wesentlichen, oft hastig und bei jedem Klingeln zusammenzuckend, denn weder vom Postboten noch von anderen Besuchern konnte ich mir Gutes erhoffen.
Das ist auch die Erklärung dafür,
daß ich, obwohl ich vielleicht schon als Neugeborener Vollkommenheit
erreicht hatte, immer blasser wurde, nur noch kriechend und stolpernd
vorwärts kam, und obzwar ich in meiner Arbeit immer mehr Meisterschaft
erlangte, mich selbst und die in mir verborgene Erfüllung stets
als unerreichbar empfand. - Istvàn Örkény, Minutennovellen.
Frankfurt am Main 2002 (BS 1358, zuerst 1991)
- (
polo
)
Erreichbarkeit (4) Er war am Ufer des Meeres. Es war ungewöhnlich heiß, und der Sand, von dem die Flut zurückgewichen war, schimmerte so rotbraun wie reifes Getreide. Das Meer war irgendwo sehr fern, aber bis zum Horizont sah man nur kleine Lachen zwischen den Sandbänken.
War Maigret ein Seehund? Vielleicht nicht ganz, aber auch nicht ganz ein Walfisch. Ein sehr dickes, sehr rundes Tier von leuchtendem Schwarz.
Er war ganz allein in dieser glühenden Unendlichkeit, und er wußte, er mußte um jeden Preis das Meer erreichen, wo er endlich frei sein würde.
Aber er konnte sich nicht bewegen. Er hatte kurze Füße wie die Seehunde, aber er vermochte sie nicht zu benutzen. Alles an ihm war steif. Wenn er sich erhob, fiel er wie ein Sack in den Sand zurück, der ihm den Rücken schmorte.
Aber er mußte unbedingt das Meer erreichen. Sonst würde er in diesem Sand versinken.
Warum war er so steif? Hatte nicht ein Jäger ihn angeschossen?
Es gelang ihm nicht, sich zu erinnern. Und er drehte sich um
sich selbst. Er war ein großes, dickes schwarzes, schwitzendes,
klägliches Etwas. - Georges Simenon,
Maigret und der Verrückte. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane
67, zuerst 1932)
Erreichbarkeit (5) Zu zweit fühlt er sich verlassener
als allein. Ist er mit jemandem zu zweit, greift dieser zweite nach ihm, und
er ist ihm hilflos ausgeliefert. Ist er allein, greift zwar die ganze Menschheit
nach ihm, aber die unzähligen ausgestreckten Arme verfangen sich ineinander
und niemand erreicht ihn. - Franz Kafka, Tagebücher (19. Mai 1922) Frankfurt
am Main 1967
Erreichbarkeit (6) Es war ein Rüde, alt und schwarz,
und größer als alle anderen Wölfe, die ich jemals gesehen hatte, und sein Kopf
und seine Flanken waren grau gestreift. Doch dieser Wolf stand auf seinen Beinen.
Als ich in die Höhle trat, war er in der Nähe des Eingangs, doch plötzlich schnellte
er los, zur Rückwand der Höhle, und sprang an ihr empor; er schnappte nach dem
verdorrten Fuß des Toten, der aus der Nische hing. Seine Pfoten prallten gegen
die Wand, dort, wo sie glatt ist, und er schien eine Sekunde lang an ihr zu
kleben, während seine gewaltigen Kiefer sich krachend schlossen - doch gut eine
Speerbreite unter dem herabhängenden Fuß des Toten. Mit einem Wutgeheul trabte
er wieder zurück, um einen neuen Anlauf zu nehmen, und wieder sprang er nach
dem Fuß des Toten, und seine Kiefer schlössen sich dicht unter ihm, und heulend
fiel er wieder zu Boden. Jetzt erhob sich die Wölfin, und sie versuchten
gemeinsam, den Toten aus seiner Nische zu reißen, aber es war alles vergeblich;
sie verfehlten immer wieder den herabhängenden Fuß, und ihre Kiefer kamen ihm
nie näher als eine Speerbreite. Nun weißt du, warum der Stein dort so
glatt und glänzend ist. Monat um Monat, und Jahr um Jahr sind die Wölfe in ihrer
Gier an ihr emporgesprungen, um die Knochen von dem zu fressen, der dort gesessen
hat. Nacht für Nacht sind sie an der Wand der Höhle emporgesprungen, aber ihre
zupackenden Kiefer konnten sich nie um den zweiten Fuß des Toten schließen.
Einen Fuß hatten sie abreißen können, doch den zweiten bekamen sie nicht. - Henry Rider Haggard, Nada die Lilie. München 1980 (zuerst 1892)
- (
loe
)
Erreichbarkeit (8) Die chinesische Géographie
moralisée kennt glückselige Inseln im Golf Pe-chi-li:
sieht man sie von fern, so gleichen sie Wolken; kommt man ihnen nahe, so wird
das Schiff vom Winde weggetrieben; erreicht man sie dennoch, so versinken sie
im Meer; die Schiffer aber, nicht zur Landung berufen, kehren siech zurück.
- Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1967
Erreichbarkeit (9) In Friesland, im hohen Norden Hollands,
steht ein stupa, ein Tempel, in dem ein Bodhisattva sitzt, ein Mönch,
der das Stadium der Erleuchtung erreicht hat. Er
ist kurz davor, ins Nirwana einzutreten. Doch was
hält ihn ab? Hier stoßen wir auf das moralische Paradox des Mahayana-Buddhismus.
Das Problem liegt darin, daß der Bodhisattva nie alleine ins Nirwana eingehen
kann, da dies ein Beweis seines Egoismus wäre. Wäre
er egoistisch, wäre er kein wahrer Bodhisattva und könnte das Nirwana nicht
erlangen; wenn er aber ein wahrer Bodhisattva ist, kann er nicht ins Nirwana
eintreten, weil das eine egoistische Handlung wäre. Kurzum, niemand kann das
Nirwana erreichen - gewöhnliche Sterbliche nicht, weil sie kein Bodhisattva
sind, und der Bodhisattva nicht, weil er Bodhisattva ist. - Arthur
C. Danto, Mystik und Moral, nach: Matthijs van Boxsel, Enzyklopädie
der Dummheit. Berlin 2001
Erreichbarkeit (10) Ich wollte schon mehrmals
offen mit ihm sprechen. Aber Doktor Gotard ist nicht zu fassen. »Gerade
ist er in den Speisesaal gegangen«, verkündet mir das Zimmermädchen.
Ich will dorthin gehen, da kommt sie mir nachgelaufen, um mir zu sagen,
daß sie sich geirrt habe. Doktor Gotard sei im Operationssaal.
Ich eile In den ersten Stock und überlege, welche Operationen denn hier
vorgenommen werden könnten, komme in das Vorzimmer - und tatsächlich heißt
man mich warten. »Doktor Gotard kommt sogleich, hat gerade eine Operation
beendet, wäscht sich die Hände.« Ich sehe beinahe, wie er - klein, mit
großen Schritten, im flatternden Mantel - durch eine Reihe von Spitalsälen
eilt. Doch was erweist sich ein Weilchen später? Doktor Gotard war überhaupt
nicht hier, seit Jahren ist hier keine Operation mehr vorgenommen worden.
Doktor Gotard schläft in seinem Zimmer, und sein schwarzer Bart ragt zerzaust
in die Luft. Das Zimmer füllt sich von seinem Geschnarche wie mit Wolkenknäueln,
die wachsen, sich aufstocken und türmen und auf ihren Gewölben Doktor Gotard
zusammen mit seinem Bett immer höher und höher tragen - eine große pathetische
Himmelfahrt auf den \Vellen des Schnarchens
und der aufgeblähten Bettwäsche. -
Bruno Schulz, Das Sanatorium zur Todesanzeige. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen.
München 1966
Erreichbarkeit (11) Der Mann mit dem Schildpattnabel erwachte als erster. Eine Taube, die den Ölzweig im Schnabel trug, flatterte über seinem Kopf herum. Er öffnete das Fenster, die Luft war rein, der Himmel blau, die Vögel sangen, doch alle Männer hockten in den Bäumen und aßen mit den Vogel Weibchen, während die Vogelmännchen in den Betten der Frauen lagen.
Es war der Morgen des 2. April 1922, und die Maschinen litten wie Wöchnerinnen.
Nur der Mann, der sich wie eine Schildkröte flach zu Boden geworfen hatte, reckte
den Kopf der Vulva entgegen, die er in einiger Entfernung
erblickte, doch auf jede Bewegung, die er machte, um vorwärtszukriechen, reagierte
die Vulva mit einer Rückwärtsbewegung. - Benjamin
Péret, Das Wirtshaus zum Fliegenden Arsch.
Aus
(per)
Erreichbarkeit (12)
Erreichbarkeit (13)
Erreichbarkeit (14)
Erreichbarkeit (15) Er stand
mitten in einem Teiche und die Wasser
spielten Ihm um das Kinn, dennoch litt er den brennendsten Durst
und konnte den Trank, der ihm so nahe war, niemals erreichen. Sooft er sich
bückte, und den Mund gierig ans Wasser bringen wollte, entschwand versiegend
vor ihm die Flut und der dunkle Boden erschien zu seinen Füßen; ein Dämon schien
den See ausgetrocknet zu haben. So litt er zugleich den peinigendsten Hunger.
Hinter ihm strebten am Ufer des Teiches herrliche Fruchtbäume empor und wölbten
ihre Äste über seinem Haupte. Wenn er sich emporrichtete, so lachten ihm saftige
Birnen, rotwangige Äpfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne Olivenbeeren
ins Auge; aber sobald er hinauf langte, sie mit seiner Hand zu fassen, so riß
ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige hoch hinauf zu den Wolken.
Zu dieser Höllenpein gesellte sich beständige Todesangst,
denn ein großes Felsenstück hing über seinem Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich,
auf ihn herabzustürzen. - (sage)
Erreichbarkeit (16) Wenn ich erfahren könnte, wo
sich die sinnreichen Träume zusammenducken
werden, dann könnte ich zu jenem Schlafhaus gehen und hoffen, eine nicht träge
und nicht sinnentblößte Nacht zu verbringen. In Wirklichkeit weiß ich jedoch,
in welchem Schlafhaus jene Träume rasten werden; nur weiß ich nicht, wie ich
jenen Ort erreichen soll, wenn nicht der Ort selbst beschließt, mich zu erreichen.
Ich sehe deutlich in einer nicht allzu großen Entfernung - vielleicht nur wenige
Minuten für einen zügigen Schritt - das Schlafhaus, in dem ich zwar nicht sagen
könnte wie, aber trotzdem sicher weiß, daß heute Nacht die sinnreichen Träume
ruhen werden. Wenn ich mich aber in Bewegung setze, um dieses Schlafhaus zu
erreichen zu suchen, dann ist es schon weggeglitten und befindet sich nun hinter
mir; und es sieht nun anders aus, und ich erkenne es nicht mehr; und ich frage
mich, ob ich nicht dorthin gehen sollte, ohne etwas anderes zu verlangen als
eine Tasse Tee. Aber wenn ich mich mit diesem neuen Plan in jene Richtung bewege,
dann ist die Wohnstätte aufs neue anderswo; vielleicht bin ich auch schon drinnen,
aber es ist ein freundliches Bräuhaus mit Tischen aus rohem Holz, mit grob zusammengezimmerten,
aber herzlichen Stühlen. In welche Richtung ich mich auch, scheinbar vernünftig,
bewege, um irgendein Ziel zu erreichen, ich weiß
genau, daß nicht nur das Ziel immer wieder verschwindet, sondern auch, daß andere,
meiner Ansicht nach unpassende Ziele sich mir aufdrängen wollen; nur darf ich
sie nicht wählen, denn in diesem Fall würde ich sie, da sie nun zu meinem Ziel
geworden sind, aufs neue verlieren und sie würden verschwinden oder sich verwandeln.
Nehmen wir also an, ich habe jetzt im Sinn zu schlafen und sehe in verschiedenen
Entfernungen drei Schlafhäuser; und außerdem noch ein Schlafhaus mit dem, was
wir vorhin sinnreiche Träume genannt haben; ich würde sie vergeblich zu erreichen
suchen; und auch die List, nach außen hin so zu tun, als suchte ich, sagen wir,
einen Teesalon, würde nichts nützen; denn die Schlafhäuser würden zu Teesalons
und als solche bereit zu verschwinden. - Giorgio Manganelli, Kometinnen
und andere Abschweifungen. Berlin 1997
Erreichbarkeit (17)
Erreichbarkeit (18) Wir haben
heutzutage eine ganze Menge sogenannter feiner Köpfe (nicht großer
Geister). Es sind aber dieses nicht sowohl Leute, die groß in der ganzen
Anlage ihres Geistes und zwar ursprünglich sind, sondern bei den meisten
ist die Feinheit eine Schwächlichkeit, Hypochondrie, eine kränkliche
Empfindlichkeit. Ein solcher Gelehrter ist zu
feinen Bemerkungen aufgelegter als andere Menschen, stiftet aber in dem Reich
der Gelehrsamkeit selten so viel Nutzen, glaubt viel ausrichten zu können,
wenn er nur erst wollte, will aber niemals. Diese Leute bilden sich leicht nach
allem, wenn sie lauter Gutes lesen, so schreiben sie ziemlich gut, sie sind
aber allzeit weit entfernt von der sicheren Richtigkeit der Alten, deren Genie
der gesunden und festen Reife einer Frucht und nicht der welken wurmstichigen,
wiewohl oft schönfarbigen einiger Neueren gleicht. -
(licht)
Erreichbarkeit (19)
Erreichbarkeit (20)
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