inbildungskraft "Weißt du, Sancho, wie ich es mir vorstelle? Daß dies herrliche Stück von dem gefeiten Helm durch irgendeinen merkwürdigen Zufall jemandem in die Hände gefallen ist, der seinen Wert nicht zu erkennen und nicht zu schätzen wußte. Jedoch in der Gewißheit, daß er vom feinsten Golde war, muß er, ohne zu ahnen, was er tat, die eine Hälfte eingeschmolzen haben, um sie zu Geld zu machen, und aus der andern Hälfte machte er, was den Anschein einer Barbierschüssel hat, wie du sagst.

Doch sei dem, wie ihm wolle; mir, der ich den Helm kenne, macht seine Veränderung gar nichts aus; am ersten besten Ort, wo sich ein Schmied findet, will ich ihn so zurechtmachen lassen, daß ihm jener Helm nicht voranstehen, ja nicht gleichkommen soll, den der Gott der Schmiedekunst für den Gott der Schlachten gefertigt und geschmiedet hat. Mittlerweile werde ich ihn tragen, so gut es geht; denn etwas ist besser als nichts, zumal er jedenfalls hinreichen wird, mich vor einem Steinwurf zu schirmen." - (don)

Einbildungskraft (2)... Aus diesem Grund enthalte ich mich, von so manchen (sonst) wertvollen Büchern und Abhandlungen in meines Vaters Sammlung zu sprechen, welche entweder geradezu über Nasen geschrieben worden sind oder sie nur nebenbei berührt haben; so zum Beispiel Prignitz, der da auf dem Tisch vor mir liegt und der uns mit unendlicher Gelehrsamkeit und nach der gewissenhaftesten und wissenschaftlichsten Untersuchung von mehr als viertausend verschiedenen Totenköpfen aus zwanzig schlesischen Beinhäusern, die er durchstöberte, berichtet hat, daß das Maß und die Bildung des beinernen oder knochigen Teils der menschlichen Nase in allen Ländern, abgesehen von der tatarischen Krim, wo sie alle mit dem Daumen eingedrückt werden, so daß man also über sie nicht urteilen kann, sich viel mehr gleichen, als die Welt denkt. Die Unterschiede, sagt er, sind so gering, daß es nicht lohnt, sich dabei aufzuhalten. Da aber die Größe und Schönheit einer jeden Nase und das, wodurch eine Nase der anderen den Rang abläuft und in höherer Gunst steht, von ihren knorpeligen und muskulösen Teilen herrühren, in deren Röhren und Höhlen das Blut und die animalischen Geister durch die Wärme und Stärke der Imagination getrieben werden, die nur einen Schritt weit davon entfernt liegt (die Schwachsinnigen muß man ausnehmen, von welchen Prignitz, der viele Jahre in der Türkei zugebracht bat, meint, daß sie unter noch unmittelbarer Vormundschaft des Himmels stehen), so kommt es, sagt Prignitz, und es kann gar nicht anders sein, daß die Vortrefflichkeit der Nase in einem direkten arithmetischen Verhältnis zu der Vortrefflichkeit der Einbildungskraft ihres Besitzers steht. - (shan)

Einbildungskraft (3) Das tiefste Glück des Menschen liegt in seiner Einbildungskraft. - (Marquis de Sade)

Einbildungskraft (4) schafft aus Erinnerung oder Anschauung Neues oder doch »zwar Mögliches, aber in origineller Zusammenstellung« (Damen-Conversationslexikon 1835). Einbildungskraft hat jeder, Bildungskraft (Phantasie) nicht; letztere aber bringt — nachahmend passiv-empfangend, im Genie auch aktiv schaffend — erst das Schöne hervor. »Wir sehen eine Thräne der Rührung im Auge eines edlen Menschen, und die Phantasie dichtet schweigend hinzu eine vollendete Elegie oder eine Hymne an den Unendlichen.« Unter Phantasie verstand Aristoteles ein eigenes Seelenvermögen, Montaigne die Quelle aller Leidenschaften und Erkenntnisse, Freud die Korrektur und Kompensation einer unbefriedigenden Wirklichkeit.

Brockhaus beschreibt 1892 »phantasieren« dagegen als Synonym für «delirieren«, und Meyer hielt 1936 die «Phantasie« für eine «Sonderbegabung des nordischen Menschen«. - (lex)

Einbildungskraft (5) Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht‘s mir wirklich. — Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er »Guten Tag« sagen kann, schreit ihn unser Mann an: »Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!« - Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein. München und Zürich 1983

Einbildungskraft (6) Er zog den ganzen Tag seines Weges und beim Herannahen des Abends er und sein Gaul erschöpft und bis zum Tode hungrig waren; und daß, nach allen Seiten hin spähend, ob er irgendeine Burg oder einen Hirtenpferch entdeckte, wo er eine Zuflucht finden und seinem großen Notstand abhelfen könnte, er nicht weit von dem Weg, den er ritt, eine Schenke erblickte. Da war ihm, als sähe er einen Stern, der ihn zur Pforte - wenn auch nicht in den Palast - seiner Erlösung leitete. Er beschleunigte seinen Ritt und langte eben zur Zeit an, wo es Abend wurde.

Hier standen von ungefähr an der Tür zwei junge Frauenzimmer, aus der Zahl jener, welche man Die von der leichten Zunft benennt; sie waren auf der Reise nach Sevilla mit Maultiertreibern, die zufällig diese Nacht in der Schenke Rast hielten. Und da es unsern Abenteurer bedünkte, alles, was er auch immer dachte, sah oder sich einbildete, sei so beschaffen und trage sich so zu wie die Dinge, die er gelesen hatte, so kam es ihm sogleich vor, da er die Schenke sah, sie sei eine Burg mit ihren vier Türmen und Turmhauben von glänzendem Silber, ohne daß ihr ihre Zugbrücke und ihr tiefer Graben fehlte, nebst allen jenen Zubehörungen, womit man dergleichen Burgen malt. Er ritt näher an die Schenke heran - die ihm eine Burg schien -, und eine kurze Strecke von ihr hielt er seinem Rosinante die Zügel an und wartete, daß irgendein Zwerg sich zwischen den Zinnen zeige, um mit einer Drommete oder dergleichen das Zeichen zu geben, daß ein Ritter der Burg nahe. Da er aber sah, daß man zögerte, und Rosinante nach dem Stall Eile hatte, ritt er vor die Tür der Schenke und erblickte die beiden liederlichen Dirnen, die dort standen und die ihm als zwei schöne Fräulein oder anmutvolle Edelfrauen erschienen, die vor der Burgpforte sich erlusten mochten.

Im selben Augenblicke geschah es zufällig, daß ein Schweinehirt, der eine Herde Schweine - denn es ist nicht zu ändern, so heißen sie einmal - von den Stoppelfeldern heimtrieb, in sein Hörn stieß, auf welches Zeichen sie heimwärts ziehen; und augenblicklich stellte sich unserm Don Quijote alles dar, was er wünschte, nämlich daß ein Zwerg das Zeichen seiner Ankunft gebe. Und so, mit außerordentlicher Befriedigung, nahte er der Schenke und den Damen; diese aber, als sie einen in solcher Weise gerüsteten Mann, mit Speer und Tartsche, heranreiten sahen, wollten voller Angst in die Schenke hinein. Jedoch Don Quijote, der aus ihrer Flucht auf ihre Ängstlichkeit schloß, hob das Pappdeckelvisier empor, und sein dürres, bestäubtes Gesicht halb aufdeckend, sprach er zu ihnen mit freundlicher Gebärde und sachter Stimme: „Euer Gnaden wollen nicht zur Flucht sich wenden noch irgendeine Ungebühr befürchten, sintemal es dem Orden der Ritterschaft, der mein Beruf ist, nicht zukommt noch geziemend ist, solche irgendwem anzutun; wieviel weniger so hohen Jungfrauen, wie Euer edles Aussehen verkündigt."

Die Dirnen schauten ihn an und suchten mit den Augen hin und her nach seinem Gesicht, das das schlechte Visier zum Teil verdeckte; aber da sie sich Jungfrauen nennen hörten, ein so ganz außerhalb ihres Berufs liegendes Wort, konnten sie das Lachen nicht zurückhalten, und es war so arg, daß Don Quijote in Zorn geriet und ihnen sagte: „Gut steht Höflichkeit den Schönen, und zudem ist zu große Einfalt das Lachen, so aus unerheblicher Ursache entspringt. Indessen sage ich Euch das nicht, auf daß Ihr Euch etwa kränktet oder unfreundlichen Mut zeigtet; denn der meine steht auf andres nicht, als Euch zu Diensten zu sein." - (don)

Einbildungskraft (7) Daß die Imagination nicht zu Unrecht über alle andern Fähigkeiten des Menschen gesetzt worden, geht hervor aus dem tiefen Bewußtsein des imaginativen Menschen, daß die in Rede stehende Fähigkeit seine Seele oftmals in den Stand setzt, eines flüchtigen Schimmers der übernatürlichen und ewigen Dinge habhaft zu werden - und Dies bis unmittelbar an die Schwelle des Großen Geheimnisses. Und wahrhaftig: Momente giebt's, darin der mit Imagination Gesegnete die nahezu unmerklichen Düfte, die ahndungsvollen Melodieen einer Schöneren Welt wahrnimmt. So manche der tiefsten Erkenntnisse - ja vielleicht sogar alle wirklich profunden - haben ihren Ursprung in der aufs Höchste gesteigerten Imagination. Wahrhaft große Geister sind groß im Mutmaßen: Keplers Planeten-Gesetze sind eingestandener Maßen von der Mutmaßung dictirt worden. - Edgar Allan Poe, Marginalia. In: Werke Bd. IV, Olten 1966

Einbildungskraft (8) Die Täuschung durch die Stärke der Einbildungskraft des Menschen geht oft so weit, daß er dasjenige, was er nur im Kopf hat, außer sich zu sehen und zu fühlen glaubt. Daher der Schwindel, der den, welcher in einen Abgrund sieht, befällt, ob er gleich eine genugsam breite Fläche um sich hat, um nicht zu fallen, oder gar an einem festen Geländer steht. - Wunderlich ist die Furcht einiger Gemütskranken vor der Anwandelung eines inneren Antriebes, sich wohl gar freiwillig herunterzustürzen. - Der Anblick des Genusses ekeler Sachen an anderen (z. B. wenn die Tungusen den Rotz aus den Nasen ihrer Kinder mit einem Tempo aussaugen und verschlucken) bewegt den Zuschauer eben so zum Erbrechen, als wenn ihm selbst ein solcher Genuß aufgedrungen würde. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Ansicht

Einbildungskraft (9) Es ist möglich und der Natur nicht zuwider, daß ein Weib und Mensch auch ein Tier gebären kann, aber es ist von einem Weib in diesem nit wie von einem Mann zu urteilen. Das ist: man soll sie drum nit für eine Ketzerin halten, als ob sie wider die Natur gehandelt hätte, sondern solches ihrer Imagination zurechnen. Denn ihre Imagination ist daran gar oft und manchesmal schuld. Denn die Imagination einer schwangern Frau ist so groß, daß sie in der Schöpfung den Samen und die Frucht in ihrem Leib in mancherlei Weg transmutieren kann. Denn ihre inwendigen astra gehen so stark und kräftig auf ihre Frucht, daß sie eine Impression und Influenz geben. Darum so steht ein Kind in seiner Schöpfung im Mutterleib in der Mutter Hand und Willen, wie eine Erde in des Hafners Hand, der macht und formiert daraus, was er will und was ihn gelüstet. So auch die schwangere Frau aus ihrer Frucht in ihrem Leibe. Die formiert das Kind auch mit ihrer Imagination, nachdem es die astra geben. Deshalb begibt sich oft, daß sie aus männlichem Samen ein Tier oder ein ander schrecklich monstrum gebären, je nachdem die Imagination der Mutter stark auf das Kind geht. - Paracelsus, De generatione rerum naturalium. Nach: Künstliche Menschen. Hg. Klaus Völker. Frankfurt am Main 1994 (st 2293)

Einbildungskraft (10)  Einbildungkraft ist die Prose der Bildungkraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren. - Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. München 1974 (zuerst 1804 ff.)

Einbildungskraft (11)  Cyppus, der nachher zum König von Italien erwähle wurde, schlief, nachdem er einen Stierkampf leidenschaftlich bewundert hatte, mit den Gedanken daran bei Nacht ein und stand den nächsten Morgen mit Hörnern auf, deren Entstehung sich nicht anders erklären läßt, als daß die vegetative Kraft, durch die erhitzte Phantasie angespornt, die hörnererzeugenden Säfte in den Kopf trieb und so die Hörner hervorbrachte. Während nämlich ein unausgesetztes Nachdenken jemanden sehr in Anspruch nimmt, gestaltet sich in seinem Innern ein Bild von der vorgestellten Sache, das im Blute seinen Abdruck findet. Das Blut drückt ein solches Bild den von ihm ernährten Gliedern ein, sowohl den eigenen, als auch bisweilen fremden, wie z. B. die Einbildungskraft einer Schwangeren ihrer Liebesfrucht das Mal einer gewünschten Sache eindrückt, und wie ferner die Einbildungskraft eines von einem wütenden Hunde Gebissenen In seinem Urin die Bilder von Hunden hervorruft.   - (nett)

Einbildungskraft (12) Irgendwo zwischen Zufall und Geheimnis schleicht die Imagination sich ein, die völlige Freiheit des Menschen. Diese Freiheit hat man, wie die anderen, herabzumindern, auszulöschen versucht. Das Christentum hat zu diesem Zweck die Gedankensünde erfunden. Früher verbot mir, was ich für mein Gewissen hielt, bestimmte Bilder: meinen Bruder zu töten, mit meiner Mutter zu schlafen. Ich sagte mir: wie fürchterlich! - und schob wütend diese seit ewigen Zeiten verdammten Gedanken weg.

Erst im Alter von sechzig oder fünfundsechzig Jahren habe ich die Unschuld der Imagination ganz begriffen und hingenommen.. All die Jahre habe ich gebraucht, um zuzugeben, daß das, was in meinem Kopf vorgeht, mich allein betrifft, daß das durchaus keine, wie man sagt, „bösen Gedanken" sind, durchaus keine Sünde ist und daß ich meiner Phantasie, auch wo sie blutrünstig und pervers ist, ihren Lauf lassen sollte.

Seither ist mir alles recht, ich sage mir: Ich schlafe mit meiner Mutter - na und? Sofort verlassen mich, von meiner Gleichgültigkeit verscheucht, die Mord- und Inzestbilder.

Die Imagination ist unser oberstes Prinzip. Unerklärlich wie der Zufall, der sie provoziert. Mein Leben lang habe ich mich bemüht, die zwanghaften Bilder, die sich mir aufdrängen, einfach aufzunehmen, ohne sie verstehen zu wollen. So habe ich Fernando Rey während der Dreharbeiten zu Dieses obskure Objekt der Begierde in Sevilla, einer plötzlichen Eingebung folgend, einen großen Jutesack, den die Beleuchter liegengelassen hatten, nehmen und beim Weggehen über die Schulter werfen lassen.

Da ich aber das Irrationale dieser Geste empfand und meine Bedenken hatte, habe ich die Szene in zwei Fassungen gedreht, einer mit und einer ohne Sack. Bei der Mustervorführung am nächsten Tag war sich das ganze Team - mit mir - einig, daß die Szene mit dem Sack besser sei. Warum? Unmöglich, das zu sagen, ohne irgendwelche Klischees der Psychoanalyse oder anderer Erklärungsweisen zu bemühen.

Psychiater und Analytiker aller Richtungen haben viel über meine Filme geschrieben. Ich danke ihnen, aber ich lese ihre Werke nicht. Es interessiert mich nicht. In einem anderen Kapitel spreche ich über die Psychoanalyse, die eine Therapie einer bestimmten Klasse ist. Hierher gehört auch, daß ein paar Analytiker mich schließlich - aus reiner Verzweiflung - für „unanalysierbar" erklärt haben, als gehöre ich einer anderen Kultur, einer anderen Zeit an, was schließlich auch nicht unmöglich ist.

In meinem Alter lasse ich sie reden. Meine Phantasie ist immer da und stärkt mich mit ihrer unangreifbaren Unschuld bis ans Ende meiner Tage. Verstehen - welcher Horror! Welches. Glück, fürs Unerwartete.. offen zu sein. Diese alten Neigungen sind bei mir mit den Jahren immer deutlicher hervorgetreten. Ich ziehe mich langsam zurück. Letztes Jahr habe ich ausgerechnet, daß ich in sechs Tagen, das sind einhundertvierundvierzig Stunden, nur drei Stunden in der Unterhaltung mit Freunden verbracht habe. Die übrige Zeit: Einsamkeit, Träumerei, ein Glas Wasser oder ein Kaffee, zweimal täglich der Aperitif, eine Erinnerung, die mich überkommt, ein Bild, das mich besucht, eins kommt zum anderen, und schon ist der Abend da. - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

Einbildungskraft (13)   Gallus Vibius spannte seine Seele so an, das Wesen und Triebwerk des Irrsinns zu ergründen, daß er seine Vernunft aus ihren Angeln hob, so sehr, daß er sie nie wieder einzurenken vermochte und sich also rühmen konnte, er sei aus Einsicht verrückt geworden. Es gibt Menschen, die aus Entsetzen der Hand des Henkers zuvorkommen. Einer, dem man die Binde von den Augen nahm, um ihm seine Begnadigung zu verlesen, lag stracks tot auf dem Schafott, vom bloßen Schlag seiner Einbildung hingestreckt. Wir schwitzen, wir beben, wir erblassen und erröten unter den Erschütterungen unserer Wahnvorstellungen, und, in den Federn ausgestreckt, fühlen wir unsern Körper von ihren Regungen geschüttelt, zuweilen bis zum Verröcheln. Und die heißblütige Jugend erhitzt sich oft mitten im Schlaf so lebhaft, daß sie traumumfangen ihre verliebten Begierden stillt.  - (mon)

Einbildungskraft (14)  Die Vergehungen (vitia) der Einbildungskraft sind: daß ihre Dichtungen entweder bloß zügellos oder gar regellos sind (effrenis aut perversa). Der letztere Fehler ist der ärgste. Die erstem Dichtungen könnten4 doch wohl in einer möglichen Welt (der Fabel) ihre Stelle finden; die letztern in gar keiner, weil sie sich widersprechen. - Daß die in der libyschen Wüste Ras-Sem häufig anzutreffenden in Stein gehauenen Menschen- und Tiergestalten von den Arabern mit Grauen angesehen werden, weil sie solche für durch den Fluch versteinerte Menschen halten, gehört zu Einbildungen der ersteren Gattung, nämlich der zügellosen Einbildungskraft. - Daß aber, nach der Meinung derselben Araber, diese Bildsäulen von Tieren, am Tage der allgemeinen Auferstehung, den Künstler anschnarchen und ihm es verweisen werden, daß er sie gemacht und ihnen doch keine Seele habe geben können, ist ein Widerspruch. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (zuerst 1798/1800)

Einbildungskraft (15)  Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, denn immer großem Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen, und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte. Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen hat.

So machte seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit. Wie oft, wenn er an einem trüben Tage bis zum Überdruß und Ekel in der Stube eingesperrt war, und etwa ein Sonnenstrahl durch eine Fensterscheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm Vorstellungen vom Paradiese, von Elysium, oder von der Insel der Kalypso, die ihn ganze Stunden lang entzückten. Aber von seinem zweiten und dritten Jahre an erinnert er sich auch der höllischen Qualen, die ihm die Märchen seiner Mutter und seiner Base im Wachen und im Schlafe machten: wenn er bald im Traume lauter Bekannte um sich her sähe, die ihn plötzlich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anbleckten, bald eine hohe düstre Stiege hinaufstieg, und eine grauenvolle Gestalt ihm die Rückkehr verwehrte, oder gar der Teufel bald wie ein fleckigtes Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand ihm erschien. Als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte, jagte ihm jede alte Frau Furcht und Entsetzen ein, so viel hörte er beständig von Hexen und Zaubereien; und wenn der Wind oft mit sonderbarem Getön durch die Hütte pfiff, so nannte seine Mutter dies im allegorischen Sinn den handlosen Mann, ohne weiter etwas dabei zu denken.  - Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (zuerst 1785 ff.)

 Bild Kraft Gedanken Methode


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VB
Phantasie


Synonyme
Imagination