ngeheuer  Auf meinem Sofa liegend, sah ich rings um mich den Ruf meiner Bösartigkeit wachsen, ohne daß es mich andere Untaten gekostet hätte als einige Späße, und ich sagte mir: die Nero und Caligula mußten Verbrechen häufen, um Haß und Furcht um sich zu breiten, während doch schon einige Scherzworte ihnen den Ruf von Ungeheuern verschafft hätten. - - Rivarol, nach (riv)

Ungeheuer (2) Eine Gruppe von Erzählungen hat als Protagonisten das kannibalische Ungeheuer Takwish. Ein junger Indianer ist ihm vor kurzem zum Opfer gefallen; sein Vater, ein großer Häuptling, beschließt, ihn zu rächen. Er stattet Takwish einen Besuch ab und fordert ihn zu einer akrobatischen Tanzprüfung heraus, in deren Verlauf das Ungeheuer »sich die eigenen Knochen bricht, sich das Haupthaar abschneidet und wegwirft, sich die Beine bricht und sie wegwirft, auf den bloßen Rumpf und den Kopf reduziert davonfliegt und sich mit den eigenen Händen den Kopf abreißt«; danach fügt es sich wieder zusammen. Schließlich wird es von den Indianern getötet und eingeäschert, ersteht jedoch wieder auf in Gestalt eines feurigen Meteors oder, genauer, eines Kugelblitzes oder einer Feuerkugel, wie man sie allem Anschein nach am Himmel Nordamerikas häufig beobachten kann. - (str)

Ungeheuer (3)  Im letzten Jahrhundert berichteten einige kräftige Franzosen von stundenlangen Kämpfen mit einem absonderlichen Ungeheuer, das tellergroße Augen habe. Die Wissenschaftler der Französischen Akademie hielten die Berichte allesamt für erstunken und erlogen - inzwischen wissen wir, daß die Männer die lautere Wahrheit erzählt haben! Die Existenz dieser Tiere erscheint uns immer noch von Geheimnissen umgeben: Hier mischen sich Mythen mit Angst, seit Jahrhunderten genährt durch märchenhaft übertriebene Reiseberichte. Noch heute rätseln Forscher, wie groß und schwer einige Exemplare dieser Klasse werden können.

Sie fristen ein eher verstecktes Dasein, ein Glück, denn ihr Aussehen erschreckt sensible Naturen. Dabei sind sie durchaus nicht primitiv im Sinne von »rein instinktgebunden«. Eine »Dompteuse« in den USA behauptet, daß Vertreter kleinerer Arten schnell lernen und schon beim dritten Mal genau wissen, was man von ihnen will. Die Tiere schafften es sogar, eine Glasflasche zu entkorken. Ihr hoch entwickeltes Nervensystem macht es möglich, daß sie blitzschnell die Farbe wechseln können: Bei Wut färben sie sich rot. Nein, das ist kein Blut, denn das sieht farblos bis blaugrün aus.

Dem Menschen, der in ihre Nähe gerät, können sie gefährlich werden, zumal, wenn sich die Tiere angegriffen fühlen. Auch ohne Muskeln entwickeln sie enorme Kräfte. Oder wollen sie sich nur festhalten?! Schlimm genug!

Die Mittelmeer-Völker schätzen das häßliche Wesen seit Jahrtausenden, Archäologen fanden es als Ornament auf kretisch-mykenischen Vasen. Der Verzehr gewisser Körperteile hat sich inzwischen auch in deutschen Küchen ausgebreitet. Etwas gewöhnungsbedürftig ist vielleicht die Vorliebe der Japaner: Sie schätzen besonders die tellergroßen Augen.  - (nat)

Ungeheuer (4)

Ungeheuer (5) Wenn Poesie wirklich wieder mit allem rechnete, anzüglich leicht mit einem Scharfsinn und Sarkasmus, wie er nur über den dreckigsten Wellenwirbeln der Geschichten und Religionen aufleuchtet und tanzt: Was für ein Ungeheuer könnte aus ihr werden! Was für ein übler Wechselbalg aus Defätismus, frecher Einsicht, Aphasie und Ketzerei. Dann erst wäre sie wieder eines der weniger gemütlichen Produkte ihrer Zeit, absolut ätzend und unzitierbar für die Kulturhüter und Rhetorikzwerge an allen Auf- und Abbaufronten. Doch das nur nebenbei. - (gr)

Ungeheuer (6) In diesem Jahr geistern draußen auf dem Lande Ungeheuer. Ein Schafhirt, ein Bauer und eine Frau haben gesehen, wie sich ihnen so etwas wie ein struppiger, nachtschwarzer, riesiger Schimpanse näherte und dann Reißaus nahm. Viele Bauern haben die biddina gesehen, eine Wasserschlange, die sich aber auch auf sonnenverbrannter Erde sehr wohl fühlt, armdick, über zwei Meter lang mit einem stachligen Kamm auf dem Kopf. In meiner Kindheit erzählte man sich Geschichten über sie, doch damals behauptete niemand, sie gesehen zu haben. Heute dagegen wird sie von vielen gesehen. Dann gibt es noch die guizzine, die durch diabolische Verwandlung im Wasser aus Pferdehaar entstehen: aus dem Schweif und der Mähne. Es sind pfeilschnelle hochgiftige Wasservipern.

Ein paar Kilometer von hier, in den Tempeln von Agrigent, gibt es auch ein Gespenst. Es haust offenbar im Demetertempel. Abends kommt es flackernd hervor. Es hat sich als Petrone vorgestellt, aber vielleicht hat man es nicht richtig verstanden, wahrscheinlich handelt es sich um den durch immerhin zwei Filmfassungen des »Satyricon« mit Nachdruck in die Oberwelt zurückgerufenen Petronius. - Leonardo Sciascia, Schwarz auf schwarz.  München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)

Ungeheuer (7)  Durch sehr rigorose Verfahren kann es einem gelingen, das verborgene Ungeheuer zu erkennen. Du wirst dich gefragt haben, wer es ist und was es macht, wie es aussieht und ob es überhaupt ein Aussehen hat. Ob es existiert. Man kann mit Sicherheit antworten, daß das Ungeheuer existiert und handelt. Um es zu erkennen, kannst du dich normalerweise einer elektrischen Taschenlampe bedienen, aber wenn du über einen kleinen Geigerzähler verfügtest, würde dir das dein Unternehmen sehr erleichtern. Die Ungeheuer sind meistens radioaktiv. Du mußt dir auch bewußt sein, daß das Ungeheuer als Polizist in Zivil verkleidet durch die Straßen gehen kann, es kann an einem Wirtshaustisch sitzen oder in einer Ecke der Hauptpost oder des Bahnhofs herumstehen. Die Ungeheuer haben häufig eine Vorliebe für Eisenbahnen. Die Ungeheuer lieben die Uniformen nicht, aber es wird erzählt, daß man einmal eines in den Kleidern des Stationsvorstandes von Pavona, einem kleinen Dorf im Latium, gefunden hat. Von einem anderen Ungeheuer dagegen sagt man, es habe sich bei der Bewegung der Focolarine eingeschrieben und sei als Missionarin verkleidet durchs Land gegangen, um die Leute zu bekehren. Es scheint, es habe über hundentausend Personen bekehrt. Es ist schwierig, das verborgene Ungeheuer zu erkennen, man braucht Mittel und vor allem Spürsinn. Wenn es einmal erkannt ist, kann man es mit einer Nadel oder einem einfachen Angelhaken fangen. - (gesp)

Ungeheuer (8)

Das ungeheure Tier kommt hergezogen,
Halb in der Flut und halb vom Wasser bloß.
So wie ein Schiff, getrieben durch die Wogen
Vom Süd und Nord, fliegt auf den Hafen los:
So kommt das Ungetüm herangeflogen
Zum grausen Mahl; schon ist der Raum nicht groß.
Halb tot vor Angst und Schrecken ist die Schöne
Und achtet wenig auf des Trostes Töne.

Der Ritter hält, den Kraken zu erreichen,
Die Lanze frei gefaßt, nicht eingelegt.
Sonst weiß ich nichts dem Untier zu vergleichen,
Als eine Masse, die sich wälzt und regt;
Der Kopf allein gibt ihm ein tierisch Zeichen,
An dem es Äug' und Zahn des Ebers trägt.
Der Ritter trifft es in der Stirne Mitte,
Doch scheint's, daß er mit Fels und Eisen stritte.

Da er des ersten Streichs sich wenig freute,
Will er versuchen, was der zweite tut.
Den Schatten, den das Flügelpaar verstreute,
Sieht nun der Fisch hinlaufen auf der Flut
Und läßt am Ufer die gewisse Beute
Und folgt der eitlen nach in voller Wut.
Er wälzt sich, dreht sich, um sie zu erwischen,
Und Rüd'ger gibt ihm manchen Stoß inzwischen.

So kommt der Aar, sieht er im Grase schweifen
Die bunte Natter, oder wenn sie glüht
Im Sonnenstrahl und ihre goldnen Streifen
Auf nacktem Fels zu putzen sich bemüht;
Er wagt es nicht, von dort sie anzugreifen,
Wo sie, die gift'ge, zischt und Geifer sprüht;
Von hinten packt er sie und schlägt die Schwingen,
Daß sie nicht beißen kann noch ihn umschlingen.

So fährt auch Rüd'ger nicht mit Lanz' und Degen
Hin, wo der Rachen mit den Zähnen dräut;
Bald zielt er hinters Ohr mit seinen Schlägen,
Bald wird der Rücken, bald der Schweif gebleut.
Dreht sich das Tier, so wechselt er mit Wegen
Und senkt und hebt sich, wie die Zeit gebeut.
Allein, als traf er Jaspis mit dem Stahle,
So wenig haut er durch die harte Schale.

So kämpft die kecke Fliege mit dem Hunde
Im staubigen August und in dem Mond,
Der vor ihm oder nach geht in der Runde,
Der uns mit Ähren oder Most belohnt.
Sie gibt in Aug' und Schnauz' ihm manche Wunde,
Fliegt um ihn her und läßt ihn nie verschont.
Wie oft der trockne Zahn vergebens klappte,
Aus ist der Krieg, sobald er sie ertappte.

So schlägt der Schweif das Meer, daß aus den Tiefen
Das Wasser sich bis an den Himmel hebt.
Der Held weiß nicht, ob mit dem Hippogryphen
Er in der Luft, ob auf den Wogen schwebt.
Oft wünscht er sich ein Schiff; denn das Betriefen,
Wenn er es so noch läng're Zeit erlebt,
Wird bald so naß des Rosses Flügel machen,
Daß nur Schwimmblas' ihn rettet oder Nachen. 

Er will den Kampf mit andern Waffen enden
Und wählt deshalb den neuen, beßren Rat,
Das Ungeheuer durch den Glanz zu blenden,
Den jener Schild verzaubert in sich hat.
Er fliegt zum Strand, um Unheil abzuwenden,
Und steckt, indem er sich der Jungfrau naht,
Die dort am Felsen steht, an ihren Finger
Den Wunderring, den mächt'gen Zauberzwinger.

Ich meine jenen Ring, den Bradamante
Brunellen nahm, um Rüd'gern zu befrei'n,
Und durch Melissen ihm nach Indien sandte.
Zur Rettung aus Alcinens Trügerei'n.
Melissa, wie ich euch gesagt, verwandte
Den Ring, um vielen Hilfe zu verleihn.
Dann hatte Rüd'ger ihn zurückbekommen,
Der ihn seitdem nicht von der Hand genommen.

Damit er nicht des Schildes Glanz bestreite,
Steckt er ihn jetzt der Schönen an die Hand,
Daß er zugleich den Augen Schutz bereite.
Die schon ihr Netz um Rüd'gers Herz gespannt.
Das Ungetüm, des halben Meeres Weite
Mit seinem Bauche deckend, kommt zum Strand;
Doch Rüd'ger paßt ihm auf, die Hüll' entraffend
Und gleichsam eine zweite Sonn' erschaffend.

Des Schildes Zauberlicht schießt auf der Stelle
Dem Tier ins Äug' und wirkt dem Brauche nach.
So wie der Schuppenfisch, wie die Forelle
Hinunterfährt im kalkgetrübten Bach,
So stürzt das Untier in beschäumter Welle
Plötzlich herum mit ungeheurem Krach.
Der Ritter stößt drauf los, ganz überschwenglich,
Doch jeder Wunde bleibt es unzugänglich.

Die Schöne fleht, nicht länger mit dem Speere
Das Fell zu stampfen, das kein Stoß durchdringt.
»Komm, löse mich«, ruft sie mit mancher Zähre,
»Eh sich der Krake seinem Schlaf entringt!
Nimm mich mit dir, ertränke mich im Meere;
Nur gib nicht zu, daß mich der Fisch verschlingt !«
Der Ritter läßt von ihrem Flehn sich rühren,
Entfesselt sie und eilt, sie fortzuführen.

- (rol)

Ungeheuer (9)  Die fleischseite seiner haut war nach außen gekehrt, die fellseite nach innen, er fror nicht, er roch wie ein toter bär unter maden, seine füße waren die hinterflossen des seehunds, sein sich fortbewegen verursachte ein unangenehmes geräusch, schmatzendes schlurfen durch frühlingsschlamm, seine augen waren zwiebeln eines liliengewächses, faulig glosend, es war eine finstere nacht ohne mondschein flußaufwärts. Das ungeheuer kam aus der meeresbucht, es war über das wasser geschwommen. Der morgen begann es stunden später einzuholen, es wurde sichtbarer, aber nur ein zobel sah ihn, ein hermelin, ein murmeltier, ein fischotter und eine drossel, die auf einem eisendraht saß; der tag kroch aus der schale, »der tag ist ein vogeljunges« , sagte das ungeheuer. - (ei)

Ungeheuer (10)  Wer immer einen Katalog von Ungeheuern erstellen wollte, müßte nur in Worten jene Dinge photographieren, die die Nacht schläfrig schlaflosen Seelen zuträgt. Diese Dinge sind zusammenhanglos wie Träume ohne das Alibi, man habe geschlafen. Sie schweben wie Fledermäuse über der Passivität der Seele oder wie Vampire, die das Blut der Unterwürfigkeit saugen.

Es sind Larven im Müll an den Abhängen, Schatten, die das Tal bevölkern, Spuren, zurückgelassen vom Schicksal. Manchmal sind es Würmer, ekelerregend selbst für die Seele, die sie hegt und aufzieht; em andermal sind es Gespenster und umkreisen düster ein Nichts; dann wieder schnellen sie wie Schlangen aus den absurden Schlupfwinkeln verlorener Gefühle. - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003

Ungeheuer (11)  Garnele vom Azur und vom Innern der Steine, Ungeheuer mit dem prompten Schwanz, der den Blick verwirrt; skeptisch, gebogen, zweifelhaft, fiktiv, feige Garnele, von einem rücksichtsvollen Periskop weltweit unterrichtet, wenn es sich auch bei der geringsten Fühlungnahme zurückzieht, flüchtige, die du nicht störend wirkst, nichts in Aufruhr versetzt, nicht mit den Sinnesfäden zuckst wie die Hohltiere noch etwa mit der kleinsten Feder . . ., die nach Belieben sich tummeln. Ungeheuer, geduckt auf der Lauer, allem auflauernd, auf der Lauer, wenn ein x-beliebiger Spaziergänger das unscheinbarste Fleckchen, das unscheinbarste und bis dahin unbekannte Gelände entdeckt; lauernd und trotzdem ruhig, des Wertes, der Schnelligkeit und Genauigkeit seiner Instrumente zur Umsicht und Gissung sicher: nichts, das mehr von einem Kenner an sich hätte, nichts Diskreteres.  - (frp)

Ungeheuer (12)  Ich glaube nicht, daß mit dem Charakter des idealen Künstlers etwas Gutes zu bewerkstelligen wäre. Das wäre ein Ungeheuer. Die Kunst ist nicht geschaffen, um Ausnahmen zu schildern, außerdem empfinde ich eine unüberwindliche Abneigung, etwas aus meinem Herzen zu Papier zu bringen. Ich finde sogar, daß ein Romancier nicht das Recht hat, seine Meinung über irgend etwas auszudrücken. Hat der liebe Gott jemals seine Meinung gesagt? Deshalb gibt es eine Menge Dinge, an denen ich ersticke, die ich ausspucken möchte, die ich aber hinunterschlucke. Warum soll ich sie auch sagen? Der erstbeste ist interessanter als Herr G. Flaubert, weil er allgemeiner ist und infolgedessen typischer.

Es gibt trotzdem Tage, an denen ich mich unterhalb der Verblödung fühle. Ich habe jetzt ein Becken mit Goldfischen, und das macht mir Spaß. Sie leisten mir Gesellschaft, während ich esse. Was für eine Dummheit, sich für so einfältige Dinge zu interessieren! Leben Sie wohl, es ist spät, mein Kopf ist ausgebrannt.

Ich umarme Sie.  - Flaubert an George Sand, nach (flb)

Ungeheuer (13)  Vielleicht sollte man das Mädchen, in das man einmal verliebt war, nicht an dem Tag besuchen, an dem ihr die Brüste wegoperiert werden. Wenn auch nur aus Selbstschutz. Aber ich hatte keine Lust, mich zu schützen, ich hatte mich bereits ergeben. Und so ging ich hin. Ich wartete im Korridor auf sie, vor dem Operationssaal, wo der jeweilige Patient ein paar Minuten warten mußte, bis er an der Reihe war. Sie brachten sie auf dem Rollbett, und auf ihrem Gesicht lag die unschuldige Fröhlichkeit der Vornarkose, die, glaube ich, eine Rührseligkeit ohne Bewußtsein erzeugt. Ihre Augen glänzten, und ich drückte ihr die Hand. Ich begriff, daß sie noch immer Angst hatte, eine von der Chemie gedämpfte Angst. Sollte ich etwas sagen? Am liebsten hätte ich gesagt: Maddalena, ich war immer in dich verliebt, keine Ahnung, warum ich dir das nicht früher habe sagen können. Aber einem Mädchen, das gerade in den Operationssaal gebracht wird, zu einer derartigen Operation, kann man so etwas nicht sagen. Also flüsterte ich so schnell ich konnte: Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch, auch über das graue Meer im winterlichen Südwind geht er und unter rings aufbrüllendem Wogenschwall kommt er hindurch - ein Satz aus »Antigone«, den ich bei der Aufführung vor vielen Jahren zu ihr gesagt hatte; keine Ahnung, warum er mir so deutlich vor Augen stand und ob sie sich an ihn erinnerte, ob sie imstande war zu verstehen; sie drückte mir die Hand, und sie brachten sie weg.  - Antonio Tabucchi. Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung. München 1999  (zuerst 1985)

Ungeheuer (14)  Ungeheuer (portenta) sind solche, die eine andere Gestalt annehmen, wie etwa im Falle einer Frau in Umbrien, von der berichtet wird, sie habe eine Schlange zur Welt gebracht. Daher heißt es auch bei Lukan: Die Mutter erschrak über das eigene Kind. Mißgeburten (portentuosa) hingegen zeigen eine leichte Veränderung, wie etwa ein Kind, das mit sechs Fingern geboren wird. In einigen Fällen zeichnen sich Ungeheuer oder Mißgeburten durch eine Vergrößerung des gesamten Körpers über das bei Menschen übliche Maß hinaus aus: so wie Tityus, der laut Homer neun Plethren an Länge maß. In anderen Fällen kommt es zu einer Verkleinerung des gesamten Körpers, wie bei den Zwergen (nani) oder denen, die bei den Griechen Pygmäen heißen, weil sie nur eine Elle lang sind. Bei anderen sind bestimmte Körperteile besonders groß geraten, wie etwa ein Wasserkopf, oder sie haben zusätzliche Körperteile, zwei Köpfe oder drei Hände oder die cynodontes, die zwei Zahnreihen haben. Bei anderen sind die Körperteile unterschiedlich ausgefallen, die eine Hand sieht anders aus als die andere, der eine Fuß anders als der andere. Bei anderen fehlt ein Körperteil, wie etwa bei denen, die ohne Hand oder Kopf zur Welt kommen; die Griechen nennen sie sferes. Andere sind praenumeria,wenn nur ein Kopf oder ein Bein geboren wird. Einige sind zum Teil von anderer Gestalt, wenn sie den Kopf eines Löwen oder Hundes haben oder den Kopf oder Körper eines Stiers; man denke an den Minotaurus, den Pasiphae gebar. Andere verwandeln sich vollständig in ein fremdartiges Ungeheueres gibt die Geschichte von einer Frau, die eine Kuh zur Welt brachte. Bei anderen sind manche Körperteile unverändert, aber an anderer Stelle, etwa Augen an der Brust oder an der Stirn oder Ohren oberhalb der Schläfen. Oder wie Aristoteles berichtet, hatte jemand seine Leber links und die Milz rechts. Andere haben aufgrund einer connaturatio an einer Hand oder einem Fuß mehr oder weniger Finger bzw. Zehen, weil sie zusammengewachsen sind. Andere zeigen vorzeitige oder übermäßige Merkmale und kommen schon mit Zähnen, einem Bart und grauen Haaren zur Welt.  - Isidor von Sevilla, nach (eco)

Ungeheuer (15)  Es ist ziemlich merkwürdig zu sehen, daß der Islam lediglich die Wiedergabe einiger in der Klasse der Ungeheuer anzusiedelnder Tiere erlaubt. So etwa eine Art Sphinx, deren Darstellung man zu Tausenden in den Cafés und bei den Barbieren Konstantinopels begegnet. Es ist ein wunderschöner Frauenkopf auf einem Greifenkörper; das schwarze Haar fällt in langen Zöpfen auf Rücken und Brust herab, die sanften Augen sind braun umrandet, die geschwungenen Brauen stoßen auf der Stirn aneinander. Jeder Maler vermag ihr die Züge seiner Geliebten zu geben, und alle können bei ihrem Anblick von der idealen Schönheit träumen, denn im Grunde handelt es sich um die Abbildung eines himmlischen Geschöpfes, jener Stute, die Mohammed ins dritte Paradies trug. - Gérard de Nerval, Reise in den Orient. München 1986 (zuerst 1851)

Ungeheuer (16)   Kaum aber hatte Dilldapp wenige Schritte gemacht, so kam ihm und dem Esel ein flinker Knüppel in den Weg, der sie beide in eine Höhle hineintrieb, in welcher ein großes, dickes, fettes Ungeheuer von einer so außerordentlich großen Herzensgüte saß, daß man sie mit Ellen ausmessen konnte. Ach, Mutter! wie abscheulich groß und gut war das Ungeheuer!

Das Ungeheuer sah aus wie ein anderer Mensch auch, außer daß es wohl dreimal so groß und viermal so breit war. Es hatte eine sehr edle Gesichtsbildung, nur sein Kopf war so dick wie ein Pfefferballen; seine Nase so breit wie ein Blasebalg; seine Augen, deren es nur eines hatte, und zwar mitten auf der Stirne, waren lieblich spielend, wie das Rad an einem Schiebkarren; sein Mund war freundlich, aber so groß als die Brieftasche eines Postmeisters; und seine Ohren, die es spitzen konnte wie ein kluger Spitzhund, und niederhängen wie ein treuer Pudelhund, waren nicht größer, als daß in einem die Schwalben ihr Nest, im andern die Bienen ihr Haus drin bauen konnten, was seiner freundlichen Seele eine sehr angenehme Unterhaltung gewährte. - Clemens Brentano, Das Märchen von dem Dilldapp oder Kinder und Toren haben das Glück bei den Ohren

Ungeheuer (17)  DIE GRÄFIN : «Wenn ich Elise nicht begegnet wäre, ich hätte niemals geglaubt, daß ein menschliches Wesen die Habgier, die Fühllosigkeit, den Hochmut, die Halsstarrigkeit in der Verfolgung der eigenen Ziele so weit treiben könnte. Da dies alles sich hinter einem edlen Gehaben verbirgt, hinter einer Fassade von Pracht, von scheinbarer Absichtslosigkeit, ja von Religiosität, was ihren Fall eigentlich noch schlimmer machen sollte, verwundert es mich aufs höchste, daß man ihr dennoch nichts übelnehmen oder nachtragen kann - vielleicht gerade darum, weil sie es ist; als ob man es mit einer Ausnahme, einem Ungeheuer, einzig in seiner Art, einer unwahrscheinlichen Ausgeburt der Laune zu tun hätte, von denen man, wenn es sie nicht gäbe, kein Beispiel hätte, weiß man ihr Dank für alles, was sie tut, was sie ist, und sollte man selber darunter leiden.»  - Marcel Jouhandeau, Elise. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1933 ff.)


Menschen, wirkliche Kreatur

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