In Transsilvanien haben noch im 19. Jahrhundert Schattenverkäufer
Menschen vermessen und deren Schatten an die Architekten neuer Häuser verkauft.
Der eingemauerte Schatten sollte Einbrecher in die Flucht schlagen. - Roberto
Casati (Spiegel 11/2000)
Schatten (2) Kurze Schatten Wenn
es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur noch die schwarzen, scharfen
Ränder am Fuß der Dinge und in Bereitschaft, lautlos,
unversehens, in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuziehen. Dann ist,
in ihrer gedrängten, geduckten Fülle, die Stunde Zarathustras gekommen,
des Denkers im »Lebensmittag«, im »Sommergarten«. Denn die Erkenntnis umreißt
wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge
am strengsten. - (Walter Benjamin)
Schatten (3)
- Lucky
Luke, "Morris" (Maurice de Bévère)
Schatten (4) Die Schatten sind nach unserem Tod
die Ankläger, die Zeugen, die Beweise dessen, was wir im Leben getan haben;
und einigen von ihnen schenkt man volles Vertrauen, weil sie immer mit uns sind
und den Körper nie verlassen. - Lukian, nach: Alberto Savinio, Neue Enzyklopädie. Frankfurt am Main 1986
Schatten (5) Die Situation der Menschen, so stellte Plato fest, gleiche der von Gefangenen, die in einer Höhle mit dem Rücken zum Eingang angekettet seien. Von allem, was sich vor der Höhle abspiele, bekämen sie nur die Schatten zu Gesicht, die von dem Höhleneingang auf die ihnen gegenüberliegende Wand geworfen würden.
Diese Schatten aber, so fährt Plato fort, hielten die Menschen
für die Wirklichkeit selbst. So seien sie eigentlich
doppelt Betrogene. Deshalb bestehe die vornehmste Aufgabe der Philosophen
darin, die Menschen über ihre wahre Situation aufzuklären. Sie müßten wenigstens
wissen, daß sie die wahre Welt erst vor sich haben würden, wenn sie in
der Lage wären, sich umzudrehen und aus dem Höhlengang hinauszublicken,
oder wenn es ihnen gar möglich wäre, die Höhle zu verlassen und die Dinge
selbst zu betrachten, anstatt nur deren vage vorüberhuschende Schatten
an der Wand. - Hoimar von Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser
Welt. München 1984 (zuerst 1981)
Schatten (6)
PUCK [Droll]
Wenn wir Schatten euch beleidigt,
O so glaubt - und wohl verteidigt
Sind
wir dann —: Ihr alle schier
Habet nur geschlummert hier
Und geschaut
in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten.
Wollt
ihr diesen Kindertand,
Der wie leere Träume
schwand,
Liebe Herrn, nicht gar verschmähn,
Sollt ihr bald was Beßres
sehn.
Wenn wir bösem Schlangenzischen
Unverdienterweis entwischen,
So
verheißt auf Ehre Droll
Bald euch unsres Dankes Zoll;
Ist ein Schelm
zu heißen willig,
Wenn dies nicht geschieht, wie billig.
Nun gute
Nacht! Das Spiel zu enden,
Begrüßt uns mit gewognen
Händen!
- Shakespeare, Ein Sommernachtstraum
Schatten (7) In diesem Augenblick beginnen die Schatten sich aufzustellen - fern, aber nicht fern genug, um ihre bizarre Unförmigkeit zu verbergen; nah, aber nicht nah genug, um mir ihre exquisite, zerquälte Unvollkommenheit restlos zu offenbaren. Ich merke deutlich, wie sie einer vom andern verschieden sind, und ahne zugleich, daß sie alle an einer Ähnlichkeit, einer schattenhaften Blutsbrüderschaft teilhaben, die mir nicht fremd ist. Das Entsetzen lockt mich. Ich nehme die Verfolgung auf. Eigentlich ist das ja ein Spiel, zumal die Schatten nur andeutungsweise fliehen; sie rennen nicht, sie entziehen sich nicht, sie weichen nur aus, nicht ohne Hinterlist. Oh, diese Schatten! Sie wissen sehr gut, was sie tun. Sie kennen sich und kennen mich; sie wissen, daß es nicht ihre Aufgabe ist, vor mir zu fliehen, sondern daß es meine Aufgabe ist, sie nicht zu fangen, zu packen, zu berühren. Sie lassen mich so weit herankommen, daß ich ihre Züge erkennen und die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit entziffern kann, die uns verbindet. Ähnlich sind mir alle diese Schatten, und seien sie noch so unförmig, unmöglich, unsinnig, verdorben, verwundet, verhext, monströs, elegant, dignitös oder kunstvoll vom Aussatz zerfressen, der auch die Schatten befällt. Sie wissen es, sie wissen ganz genau, daß das, was mich an sie bindet, auch das ist, was mich von ihnen trennt. Ich werde mich ihnen so weit nähern, daß ich sie erkennen kann, aber ich werde es nicht wagen, diese transparenten Wracks, diesen Fleischdunst mit meiner identischen und verschiedenen Hand zu berühren. Könnte ich nicht in finaler Freundschaft mit jenem entbeinten Schatten verharren, der sich von der Droge des Traums ernährt? oder besser diesem lasterhaften Schädel auf die Schulter klopfen, der sich meinem Horoskop anvertraut? Oder mit jenem runzligen, nie gewachsenen und trotzdem alten und greisenhaften Fötus mit dem zahnlos grinsenden und greinenden Mund? Oder jenem Gespenst mit dem großen lautstarken Mund, jenem wirrköpfigen Redner, geschwätzigen Logorithenprotz, schmutzigen Selbstlautkrämer. Dieser bietet mir billig seine Schläfrigkeit an, jener würde sich lange mit mir über die verschlungenen Wege des Labyrinths unterhalten, und seine lächerlichen Ratschläge wären mir kostbar. Sie alle lügen, alle sind fähig und bereit, mit ungezwungener Liebenswürdigkeit über ihre widerlichen Wunden zu sprechen oder ihre weise Unförmigkeit scheinbar zu beklagen. Es gibt viel Gelächter unter den Gespenstern, ein hintertückisches Spiel zwischen Schatten und Schatten. Ich werde euch nicht berühren, meine nebelhaften Brüder, ich werde keinen von euch erreichen. Ich fliehe, und ihr tut so, als verfolgtet ihr mich. Auf meinem Kopf häufen sich die Armstümpfe, während kreischende Lachsalven, fröhliche Spottlieder und ein wohlmeinendes Wortspiel, das so alt ist wie ich, mich verfolgen. Niemand wird mich berühren, ebenso wie ich niemanden berührt habe. Ich sehe das Gesicht des Scharlatans, ich verehre ihn, ich stottere und stammle, aber ich muß es ihm sagen, was ich verstanden habe: daß auch bei dieser Zeremonie wieder ich es bin, der verlieren muß, und ich muß ihm erklären, daß ich mich nicht selbst berühren kann, weil ich ich selbst nicht bin. Ich werde sie meiden, weil sie mir ähnlich sind, ich werde mich ignorieren, weil ich mir Bruder aber nicht Ichselbst bin. Die Schatten verschwinden und ich finde mich vor dem Scharlatan. Mit raschem Frohlocken sage ich ihm, daß ich verloren habe, doch in Wirklichkeit fürchte ich, daß das Spiel der Schatten sich wiederholen könnte und daß ich mich überreden ließe, mich zu erreichen - für immer mit einem perfektionierten Entsetzen verheiratet, das von mir forderte, ich selbst zu sein.
»Es gibt schreckliche Freuden«, sage ich zum
Scharlatan, »die man nur in der Hölle erleben
kann.« - (
hoelle
)
Schatten (8) Der Schatten auf dem Südufer des Flusses
ist eine Frau. Trübe Gedanken an ihre Liebschaften
erfüllen sie mit einer inneren Kälte. Im Ungewissen
gelassen über den Vormarsch der Zeit, richtet sie den Blick nach Norden
und beginnt freundliche Taten zu planen. Sie mischt heißes und kaltes Wasser.
Ihr Körper hat geräumige Höhlungen. Sie ist eine Schlange
im Gras, sie ist Licht und Schatten, ein verdeckter
Abfluß. Mit stillem Anstand führt sie langen Regen
herbei. Dunkler Lohn erwartet ihre Vagina in der Unterwelt.
Der Geist eines toten Mannes reitet auf einer schwarzen Wolke.
Mit jedem Bruchteil der Zeit geht er schonend um. - (
liu
)
Schatten (9) Einige der faszinierendsten Fragen unserer Kindheit betrafen das Wesen des Schattens: Kann man ihn unter Erdhaufen begraben? Was macht ein Schatten, wenn er einen anderen trifft? Legt er sich über ihn? Gehen sie ineinander über? Wenn ich das Licht ausschalte und wieder ein: Sehe ich dann denselben Schatten wieder oder einen anderen? Wo ist mein Schatten, wenn es dunkel wird? Solche Sachen. Einige der schönsten Werke der Philosophie wie der Literatur beschäftigen sich mit Mensch und Schatten. Platons Gespräche mit Skia. seinem Schatten. Chamissos Geschichte von Peter Schlemihl. der dem Teufel seinen Schatten gegen ein Glückssäckl verkauft, das immer mit Dukaten gefüllt ist: Trotz seines Reichtums verfällt der Schattenlose der Ächtung durch die Mitmenschen, ja, er verliert die geliebte Försterstochter Mina. Und Peter Pan! Dessen Schatten bleibt in einem Fenster hängen, und Frau Darling rollt ihn ein und verstaut ihn im Schrank.
Übrigens erzählt man sich in Polynesien die Geschichte vom Krieger Tukaitawa,
dessen Kraft mit der Länge seines Schattens wuchs und schwand. Seine Feinde
mussten nur die Mittagszeit abwarten, da war Tukaitawa nur ein Schatten
seiner selbst und leicht zu töten. In Italien sagt man: Das Kind, auf dessen
Schatten man trete, wachse nicht mehr. Im Altertum glaubte man, dass der,
dessen Schatten von einer Hyäne berührt werde, Lähmung zu fürchten habe.
- Axel Hacke, Tagesspiegel v. 4.1.2004
Schatten (10) Stellt
euch vor: ein schöner Edelmann oder ein Mensch, den ein »guter Schatten«
oder eine gute Ausstrahlung umgibt, findet im Hause eines Eingeborenen
Unterkunft. Während der Nacht wird er vergiftet oder sonst auf eine Weise
umgebracht. Der Mann wird aber nicht etwa wegen des Geldes
getötet, sondern die Bewohner möchten seinen guten Schatten, seine edle
Ausstrahlung, seine Klugheit und seine Seele in
ihrem eigenen Hause festhalten. - (
polo
)
Schatten (11) Der Wilde macht es
sich zur Regel, den Schatten gewisser Leute zu meiden, die er aus verschiedenen
Gründen für gefährlich hält. Zu den gefährlichen Kategorien rechnet er
gewöhnlich Klageweiber und Frauen im allgemeinen, ganz besonders jedoch
seine Schwiegermutter. Die Shuswap-Indianer meinen, wenn der Schatten eines
Klageweibes auf jemanden falle, so werde er krank. Bei den Kurnai Victorias
wurden die Novizen bei ihrer Weihe gewarnt, nicht den Schatten einer Frau
auf sich fallen zu lassen, da sie dies dünn, träge und dumm machen
werde. Ein australischer Eingeborener soll einmal fast vor Schreck gestorben
sein, weil der Schatten seiner Schwiegermutter
auf seine Beine gefallen war, als er unter einem
Baume schlief.
- (
fraz
)
Schatten (12) Es war kurz vor Mittag. Ich sah einen Schatten nahen. Zu meinem Erstaunen rührte er von keinem Körper her, sondern bewegte sich frei und unabhängig.
Er lag schräg auf dem Boden. Kam er an ein Trottoir, knickte er plötzlich zweimal ein, und zuweilen, an einer Mauer, richtete er sich kerzengerade auf, so als wollte er jemandem die Stirn bieten, der Sonne womöglich, der sich kein Körper entgegenstellte.
Ich begann seine Verfolgung in dem Moment, da er an der Ecke in eine gänzlich verwaiste Straße verschwand, in die er allem Anschein nach nicht ohne Zögern einbog.
Muß ich ihn aber nicht beschreiben oder besser von seinen Umrissen reden? Ein Schatten wechselt bekanntlich, er magert ab, streckt sich ins Maßlose und drängt sich mitunter bis auf die Größe eines Fleischkloßes zusammen. Was nun jenen vereinsamten Schatten betrifft, von dem hier die Rede ist, so hatte er, als er anscheinend sein normalstes Aussehen besaß, etwas von einem gutgewachsenen jungen Mann mit klarem Profil, an dem sich zuweilen die Spitze eines Schnurrbarts zeigte.
Am anderen Ende der kleinen Straße, in die wir eingebogen waren, erschien ein junges Mädchen, und als der Schatten bei ihr war, klomm er sozusagen an ihr empor, wie um sie auf die Stirn zu küssen.
Das junge Mädchen erbebte, und sie wandte sich sogleich nach ihm um, aber
er war schon vorüber und entfernte sich gleitend, kriechend auf dem holprigen
Pflaster der Gasse. - (
apol
)
Schatten (13) Schatten, die, eine Organisation
für Königsmord, die Gradus (q. v.) damit beauftragte,
den selbstverbannten König umzubringen; der schreckliche Name ihres Anführers
darf nicht erwähnt werden, nicht einmal im Register des obskuren Werks eines
Gelehrten; sein Großvater mütterlicherseits, ein bekannter
und sehr tapferer Baumeister, war gegen 1885 von Thurgus
dem Schwülstigen engagiert worden, um gewisse Reparaturen in dessen Gemächern
auszuführen, und verstarb bald darauf unter mysteriösen Umständen vergiftet
in der königlichen Küche, zusammen mit seinen drei jungen Lehrlingen, deren
hübsche Vornamen Yan, Yonny und Angeling uns in einer Ballade erhalten sind,
wie man sie noch immer in einigen unserer wilderen Täler hören kann. -
Register zu (
ff
)
Schatten (14) Im Gebüsch der Ufer lagen die Schatten
wie geschmolzenes Blei, wenn es Abend wurde und die Stunde des Übergangs alles
zu entwirklichen begann. Wie Heckenschützen bargen sie sich, bereit offenbar,
in ihrer Reglosigkeit inmitten der Blutlachen zu überwintern, die von der Herbstsonne
durch das an Purpur erkrankte Chlorophyll geträufelt worden waren; so ruhten
sie gespannt in den Schattenmulden der Sandhaufen, vor dem Geflimmer in ihren
Späheraugen hingen Gezweige nieder, die, kaum erzitternd, im Begriff waren,
sie zu enttarnen . . . lange schon waren sie von der sterbenden Farbe des Laubs
gewarnt worden, doch sie nahmen es nicht mehr wahr; sie waren schon seit vielen
Wintern unentdeckt geblieben, ihre starren Blicke waren erloschen, wie alle
Toten hatten sie sich an die Bewegungslosigkeit ihrer Lage gewöhnt. Das Laub,
das in den Sand fiel, war zu spärlich, um sie ganz zu bedecken; längst hatte
auch ihre Haut die grünliche Schwärze verfärbter Militärmäntel angenommen, in
deren Geweben die Metallfäden oxydierten; im Schneestaub, der von entfernten
Pappelreihen ausging, im Regen der Winter, der in dem aus großer Tiefe herauf
gesprengten Sand sonderbar schäumte, waren sie längst mit Gras, Zement und Kies,
und mit allen Erdelementen zu Beton zusammengewachsen, und mit aller toten Spreu
von den Feldern, und aus dem Rauch schüttete sie der Wind langsam zu.
- Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991
Schatten (15)
Schatten (16)
- N. N.
Schatten (17) Nachdem Buddha
tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen Schatten in einer Höhle
— einen ungeheueren schauerlichen Schatten. Gott ist tot: aber so wie die Art
der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang Höhlen geben, in
denen man seinen Schatten zeigt. - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882)
Schatten (18) Er merkte, was in mir vorging und stand auf, als wolle er mich endgültig überzeugen: «Ich werde durch das Zimmer gehen, damit Sie es selbst sehen. Achten Sie bitte auf meinen Schatten.» Er drehte das Licht der Lampe höher, schob den Tisch ans andere Ende des Eßzimmers und begann auf und ab zu gehen. Da erfaßte mich das größte Erstaunen. Der Schatten dieses Menschen bewegte sich nicht! Er fiel, von der Taille aufwärts, in eine Ecke des Zimmers, während der andere Teil des Schattens auf dem hellen Holzfußboden lag. So glich er einer Membrane, die sich je nach größerer oder geringerer Entfernung der Person verlängerte oder verkürzte. Hingegen konnte ich unter dem Lichteinfall, in dem sich der Mann jeweils befand, keinerlei Verschiebung feststellen. Da ich befürchtete, ich könne einem Wahn erlegen sein, wollte ich davon loskommen und sehen, ob ich bei einem Experiment mit meinem Gastgeber zu einem ähnlichen Ergebnis kam. Um seine Silhouette zu erhalten, bat ich ihn um die Erlaubnis, das Profil seines Schattens mit einem Bleistift nachzuzeichnen.
Er gab sie mir, und ich klebte mit vier Brotkügelchen, die ich zur besseren Haftfähigkeit angefeuchtet hatte, ein Blatt Papier so an die Wand, daß der Schatten des Gesichts mitten auf das Blatt fiel. Ich wollte also die Übereinstimmung des Profils zwischen Gesicht und Schatten (was eigentlich selbstverständlich war, von der halluzinierten Person jedoch geleugnet wurde) und damit die Herkunft des Schattens und seine Unbewegtheit erklären.
Ich würde lügen, wollte ich behaupten, meine Hände hätten nicht gezittert, als sie sich auf den dunklen Fleck legten, der übrigens exakt das Profil meines Gesprächspartners wiedergab. Aber ich kann mit absoluter Gewißheit sagen, daß ich die Zeichnung mit völlig sicherer Hand machte. Mit einem blauen Hardtmuthstift zeichnete ich die Linie in einem Zug, und bevor ich das Blatt löste, vergewisserte ich mich durch eine sorgfältige Kontrolle, daß meine Zeichnung genau mit dem Profil des Schattens und dieser mit dem Gesicht der halluzinierten Person übereinstimmten.
Mein Gastgeber verfolgte das Experiment mit größtem Interesse. Als ich mich dem Tisch näherte, sah ich seine Hände vor Erregung zittern. Mein Herz hämmerte, als ahnte es das grauenvolle Ende.
«Schauen Sie nicht her!» sagte ich. «Ich werde schauen», erwiderte er so herrisch, daß ich unwillkürlich das Papier ans Licht hielt. Wir wurden beide schreckensbleich. Vor unseren Augen zeichnete der Bleistiftstrich eine flache Stirn, eine platte Nase, eine bestialische Schnauze. Der Affe! Das Teufelswerk!
Es muß ausdrücklich gesagt werden, daß ich nicht zeichnen kann. - Leopoldo Lugones, Ein unerklärliches Phänomen. In: L.
L., Die Salzsäule. Stuttgart 1984 (Die Bibliothek von Babel 15, Hg. Jorge Luis
Borges)
Schatten (19)
- Milo Manara
Schatten (20) Er führte sie zu einer Lücke in der Hecke, durch die sie ein weites brachliegendes Feld erreichen konnten. Über dieses Feld führte er sie, wobei ihre Schatten wegen der Strahlen der sinkenden Sonne auf ihren Rücken lange, monumentale Umrisse bildeten, die kaum menschlich waren. Diese beiden riesigen Schatten gingen voraus, und Nell und Sani folgten hinterher. Es war eine stumme Prozession auf jenem abgelegenen Feld, das so voller alter Kornstoppcln und grünen Unkrauts war; denn weder sprachen die beiden unmenschlichen Schatten, noch gaben sie Zeichen, und die beiden greifbaren Gestalten dahinter schwiegen auch. Die Schatten jedoch waren glücklicher als die Gestalten, denn sie hatten die Macht, sich zu überlappen, zu überschneiden und zu vermischen, so daß sie sich häufig ineinander verloren. Diese ersehnte Macht war den beiden menschlichen Gestalten versagt, die ihnen jetzt nachliefen, stumm, ernst und unselig -zwei Körper, die zwei Schatten über die toten Stoppeln und das grüne Unkraut folgten.
Bittere Trauer überfiel Nell, als sie diese in die Länge gezogenen Schatten
vor ihnen betrachtete, die sich überschnitten, dann wieder trennten und unterscheidbar
wurden. Überall in dieser Gegend, dachte sie, gibt es Schatten, die die Leute,
mal vorne, mal hinten, begleiten. Und ihre Erscheinungsform ist die gleiche,
was auch immer vorgeht in den Herzen der Gestalten, die sie werfen. Ob sie zur
Hinrichtung gehen, zu ihren Sterbebetten oder zur Beerdigung ihrer Toten - ihre
Schatten schauen immer gleich aus. Schatten haben keine Herzen, dachte Nell.
Schatten sind wie Männer, die sich entschieden haben, Christus zu folgen und
ihre Geliebten und deren Kinder zu verlassen! -
(cowp)
Schatten (21) Als er durch das
Zimmer schritt, vermied er sehr vorsichtig, in Huneefas
schwarz am Boden gebreiteten Schatten zu treten. Hexen
können, wenn ihre Zeit über ihnen ist, eines Mannes Seele
an den Fersen festhalten, wenn er in ihren Schatten
tritt. -
Rudyard Kipling, Kim. Nach
(ki)
Schatten (22) Welch ein Schatten zeichnet mit unvergleichlicher
Macht den gespenstischen Entwurf seiner verknöcherten Silhouette auf die Wand
meines Zimmers? Wenn ich diese delirierende und stumme Frage auf mein Herz lege,
dann ist es weniger um der Majestät der Form als um des Bildes der Wirklichkeit
willen, daß die Nüchternheit des Stils sich derartig aufführt. Wer du auch seist,
verteidige dich; denn ich werde die Schleuder einer furchtbaren Beschuldigung
auf dich richten: diese Augen gehören dir nicht... wo hast du sie her? Eines
Tages sah ich eine blonde Frau an mir vorübergehen; ihre Augen glichen den deinen:
du hast sie ihr ausgerissen. Ich sehe, man soll dir deine Schönheit glauben;
aber niemand täuscht sich darüber; und ich weniger als ein anderer. Ich sage
es dir, damit du mich nicht für einen Dummkopf hältst. Eine ganze Schar von
Raubvögeln, Liebhaber des Fleisches der anderen und Verteidiger der Zweckmäßigkeit
von Verfolgungen, schön wie Skelette, die die Panoccos des Arkansas entblättern,
umflattern deine Stirn wie unterwürfige und befugte Diener. Aber, ist dies eine
Stirn? Es ist nicht schwer, nur sehr zögernd daran zu glauben. Sie ist so niedrig,
daß es unmöglich ist, die zahlenmäßig geringen Beweise ihrer zweideutigen Existenz
zu überprüfen. Ich sage dir dies nicht zu meinem Vergnügen. Vielleicht hast
du gar keine Stirn, du, der du auf den Stadtmauern gleich dem schlecht gespiegelten
Symbol eines phantastischen Tanzes das fiebrige Schlenkern deiner Lendenwirbel
spazierenführst. Wer hat dich denn nur skalpiert? Wenn es ein menschliches Wesen
ist, das du zwanzig Jahre lang in einem Gefängnis eingeschlossen hieltest, und
dem die Flucht gelang, um eine Rache ins Werk zu setzen, die Gleiches mit Gleichem
vergilt, dann hat es getan, was es mußte, und ich spende ihm Beifall; nur, es
gibt ein nur, es war nicht streng genug. Jetzt siehst du einer gefangenen Rothaut
ähnlich, wenigstens (bemerken wir es im voraus) im Hinblick auf das ausdrucksvolle
Fehlen des Haarschopfes. Nicht, daß er nicht wieder wachsen konnte, haben doch
die Psychologen entdeckt, daß selbst herausgenommene Gehirne sich mit der Zeit
bei den Tieren neu bilden; aber mein Denken, das bei einer einfachen Feststellung
verweilt, der es, nach dem wenigen, was ich davon sehe, nicht an ungeheurer
Wollust fehlt, geht, selbst in seinen kühnsten Konsequenzen nicht bis zu den
Grenzen eines Wunsches für deine Heilung und bleibt, im Gegenteil, berechtigt,
durch Anwendung seiner mehr als verdächtigen Neutralität, als Vorahnung eines
größeren Unglücks zu betrachten (oder wenigstens zu wünschen), was für dich
nur ein vorübergehender Verlust der Haut sein kann, die das Äußere deines Hauptes
bedeckt. Ich hoffe, du hast mich verstanden. Und selbst wenn der Zufall dir
durch ein absurdes, aber manchmal nicht vernünftiges Wunder gestattete, die
kostbare Haut wiederzufinden, welche die fromme Wachsamkeit deines Feindes als
berauschende Erinnerung seines Sieges aufbewahrt hat, so ist es beinahe äußerst
möglich, daß selbst wenn man das Gesetz der Wahrscheinlichkeit nur in Hinsicht
auf die Mathematik studiert hätte (nun, bekanntlich überträgt die Analogie die
Anwendung dieses Gesetzes leicht auf andere Gebiete der Intelligenz), deine
berechtigte, jedoch ein wenig übertriebene Furcht einer teilweisen oder totalen
Erkältung nicht die wichtige und sogar einzige Gelegenheit zurückweisen würde,
die sich in einer so günstigen, wenn auch plötzlichen Art bietet, die verschiedenen
Teile deines Gehirns vor der Berührung mit der Luft, besonders im Winter, durch
eine Frisur zu bewahren, die, da sie natürlich ist, dir mit gutem Recht gehört
und daß es dir außerdem erlaubt wäre (es wäre unbegreiflich, wolltest du es
leugnen), sie ständig auf dem Kopf zu behalten, ohne die immer unangenehme Gefahr
zu laufen, die einfachsten Regeln einer elementaren Schicklichkeit zu verletzen.
Ist es nicht wahr, daß du mir aufmerksam zuhörst? Wenn du mir mehr zuhörtest,
würde sich dein Trübsinn noch längst nicht von dem Innern deiner roten Nasenlöcher
lösen. - (mal)
Schatten (23) Der Alte folgt mir wie ein Schatten, manchmal macht er einen kleinen Dauerlauf und geht vor mir her als wollte er erraten wohin ich gehe aber er irrt sich häufig und geht nach rechts und ich nach links.
ICH GEHE WOHIN MICH DIE FÜSSE TRAGEN,
sage ich, ich mache was meine Hände machen können: es sind schreckliche Dinge. Gib acht auf meine Hände, das ist besser.
Er brummte. Was hat denn dieser alte Mann zu brummen, was will er, was willst du? Ich schaue ihm nicht ins Gesicht ich will ihn nicht sehen, wenn er vorbeigeht schließe ich die Augen. Ich versuche zu hinken um zu versteh-hen was er sagt, nichts. Ich habe ein Bein, das ist kürzer als das andere, ein Knie so steif wie eine Leiche, ich kann nur mühsam gehen. Ich hinke, bitteschön.
Jetzt geht der Alte neben mir, er stellt mir ein Bein. Das gefällt mir nicht, daß er einem der hinkt ein Bein stellt. Warum stellst du mir ein Bein? Er hustete, er nieste, er spuckte auf den Boden, er hustete. Er kratzte sich unter dem Hemd, er trat nach den Steinen. Er stellte mir nochmals ein Bein nein, sagte ich, das darfst du nicht machen. Wir waren allein er und ich. Autos und Fahrräder hätten über diese Straße fahren können und hätten dabei viel Staub aufgewirbelt wenn es Staub gäbe, aber sie fuhren nicht über die Straße und wirbelten nichts auf. Es hatte regnen können und dann wäre der Staub naß geworden, die Tropfen wären im Staub versickert und der wäre zu Schlamm geworden. Meine Schuhe und die des alten Mannes waren im Schlamm eingesunken und am Ende wären wir auch in eine Pfütze getreten. Dann hätte ich gesagt Sacramento jetzt habe ich Schlamm im Schuh. Es regnete aber nicht und es schickte sich auch nicht an zu regnen aus den "Wolken zu schließen die fehlten weil der Himmel heiter und ruhig war.
Er folgte mir hartnäckig. Er ging auf meinem Schatten, er trat ihn mit Füßen. Ich bin fähig dich zu töten, sagte ich, du trittst meinen Schatten mit Füßen warum zertrittst du ihn? Was glaubst du denn, mir Angst einzujagen? Paß auf was du machst, Unbekannter.
Ich hätte mich gern plötzlich umgekehrt und ihn mit einem Faustschlag niedergestreckt
und dann einen Stein aus dem Rinnstein gelöst und ihm den Schädel zertrümmert.
Es gab keine Steine im Rinnstein. Dann hätte ich eine Latte aus dem Zaun reißen
können. Es gab keine Latten und nicht einmal einen Zaun am Rand der Straße.
- Luigi Malerba, Salto mortale. Frankfurt am Main 1987
(zuerst 1968)
Schatten (24) »Ich schlage Ihnen ein Glas Wein vor, einen Schatten, wie sie hier sagen, und ein paar belegte Brötchen dahinten in der Osteria in der Calle dei Frati. Wissen Sie, daß dort einmal die alte Scuola di Santo Stefane war?«
Mr. Silvera bedeckt mit den Händen sein Gesicht, lacht, nimmt sie wieder am Ellbogen.
»Sie wollen wirklich haushoch gewinnen«, sagte er.
Es sind dann zwei» Schatten« geworden, ein gut gekühlter Weißwein,
ideal bei dem Wetter, das sie inzwischen haben. - Fruttero & Lucentini,
Liebhaber ohne festen Wohnsitz. München 1990
Schatten (25) How can I be substantial if I do not cast a shadow? I must have a dark side also if I am to be whole . - Carl Gustav Jung