eutung Die
Linie von Durchblick und Spiegelung,
die das Romangeschehen ordnet, kann man graphisch darstellen
(siehe Illustration),
wobei das «Fensterglas» - das zentrale Bild in der Gesamtheit von Fahles Feuer («vom falschen Azur im Fensterglas») - sowohl das Glas als auch den Spiegel bedeutet, auf die Shade und Kinbote blicken und worin die «Realität» zur «Kunst» wird.
Shade beäugt sich selbst (sein Gedicht)
in der Spiegelung des Fensterglases, während er Kinbote anguckt.
Dieser wiederum schaut - seines Schöpfers Shade in derselben
Glasscheibe nur gelegentlich und sehr verzerrt ansichtig werdend
- seinerseits zur Hauptsache das sagenhafte und tödliche Königreich
Zembia, das hinter ihm liegt. Kinbote gehört nicht zur langen
Kette der Nabokovschen Doppelgänger.
Falls man ihn aber als solchen sehen möchte, indem man die Hinweise
auf die Augenblicke des Wahnsinns
von Shade entsprechend auslegt, so ist er der erstaunlichste
von allen. Dadurch, daß er Kinbote als jene Spiegelung erschafft,
die nach seinem (künstlerischen) Tod weiterfliegt, liefert Shade
mehr als nur den Beweis für seine Spekulation: «Das Leben ist
eine einzige Überraschung. Ich sehe nicht ein, wieso der Tod
nicht eine noch größere sein sollte.» Und man erinnert sich,
wie der Held eines anderen Romans von Nabokov darüber sinniert,
daß «das Nachher, soweit wir etwas darüber wissen, durchaus ein
ewiger Zustand qualvollsten Wahnsinns sein mag». - Andrew
Field, in: Marginalien zu (
ff
)
Deutung (2) Der Name Kinbote gibt eines der wichtigsten Rätsel des Buchs auf. Kinbote erzählt uns, daß er auf zemblanisch «Königsmord» bedeute, und im Kommentar finden wir einen gewissen V. Botkin erwähnt, einen «amerikanischen Gelehrten russischer Abstammung». In derselben Anmerkung will uns Kinbote weismachen, daß die «king-bot» die «Made einer ausgestorbenen Fliegenart» sei, sie «pflanzte sich einst in Mammuts fort und hat vermutlich deren phylogenetisches Ende beschleunigt»; in Wahrheit ist engl. «bot» die Larve eines bienengroßen Insekts, das «botfly» genannt wird und oft als Parasit in Schafen und Pferden lebt. Diese Progression von einem innewohnenden embryonischen Stadium zu jenem des fertigen Insekts, das später um das «Eltern»-Tier herumschwirrt, bedeutet noch eine zusätzliche verbale Allegorie zu Fahles Feuer, wenn auch eine höchst unproportionierte. Botkin erinnert auch an das Shakespearische Stilett (auf kinbotisch «ein dänischer Dolch»), und womöglich gehen wir nicht fehl, wenn wir «V. Botkin» als sekundäre Nabokovsche Ursache jener «wirklichen» Person betrachten, aus der Shade nachher Kinbote oder, eine zweite Variante, Kinbot gemacht hat. Aber man kann die Sache natürlich noch so weit ausspinnen, wie man will, sogar über die Absichten des Autors hinaus. Den im Russischen recht geläufigen Namen Botkin trug ein russischer Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts, der vielleicht am ehesten bekannt ist wegen seiner Freundschaft und seines Briefwechsels mit Turgenjew. Das direkte Anagramm aus dem russischen Botkin lautet Nikto, das russische Wort für «niemand». In Botkin steckt dasselbe überflüssige «b», wie wir es im Zembia Popes finden; das russische Wort ist zemlya und bedeutet «Land». («Nova Zembia, das arme Ding, mit diesem B im Barett», schrieb Nabokov in einem seiner frühen englischen Gedichte.) Und schließlich - ich habe noch ein paar mehr Tricks im Ärmel, aber man soll's nicht übertreiben - war ein Botkin als Vorsitzender der Vereinigten Organisationen der Russen Unterzeichner des offiziellen Beileidsschreibens, das im Namen der russischen Exil-Gemeinde nach der Ermordung von Nabokovs Vater im Jahre 1922 übersandt wurde.
Indessen, nicht eines von diesen drei Motiven hatte Nabokov,
wie er mir mitteilte, im Sinn, als er den Roman Fahles Feuer
verfaßte.- Andrew
Field, in: Marginalien zu (
ff
)
Deutung (3) Ich entdeckte sofort, daß er meine Nachforschungen vorausgesehen und beleidigende Pseudonyme und Wortspiele eingeschmuggelt hatte, die mir zugedacht waren. Gleich bei der ersten Motelrezeption, die ich aufsuchte, der Ponderosa Lodge, fand ich unter einem Dutzend anderer, offenbar menschlicher Namen: Dr. Gratiano Forbeson, Mirandola, N. Y. Eine solche Anspielung auf die Figuren der italienischen Stegreifkomödie mußte mir natürlich auffallen. Die Verwalterin geruhte mir mitzuteilen, daß der Herr fünf Tage lang mit einer schlimmen Erkältung im Bett gelegen, seinen Wagen zur Reparatur in irgendeiner Werkstatt gelassen habe und am 4. Juli abgereist sei. Ja, ein Mädchen namens Ann Lore habe früher hier gearbeitet, sei aber jetzt mit einem Lebensmittelhändler in Cedar City verheiratet. Während einer Mondnacht lauerte ich Mary in einer einsamen Straße auf: einer Roboterin in weißen Krankenschwesternschuhen, die im Begriff war loszuschreien, die zu vermenschlichen mir jedoch einfach dadurch gelang, daß ich auf die Knie fiel und sie mit frommem Winseln um Hilfe anflehte. Sie habe keine Ahnung, schwor sie. Wer war dieser Gratiano Forbeson? Sie schien zu schwanken. Ich zückte einen Hundertdollarschein. Sie hob ihn in das Licht des Mondes. «Er ist Ihr Bruder», wisperte sie endlich. Ich riß ihr den Schein aus der mondkalten Hand, spuckte einen französischen Fluch aus und rannte davon. Ich lernte daraus, mich nur auf mich selber zu verlassen. Kein Detektiv konnte die Hinweise entdecken, die Trapp auf meine Art zu denken und auf mein Wesen abgestimmt hatte. Ich konnte natürlich nicht erwarten, daß er jemals seinen richtigen Namen und seine richtige Adresse hinterlassen hatte; ich erwartete jedoch, daß er auf dem Glatteis seiner Spitzfindigkeit ausglitte, indem er es wagte, einen reicheren, persönlicheren Farbton aufzutragen als unbedingt erforderlich, oder indem die qualitative Summe quantitativer Einzelheiten, die zu wenig verrieten, schließlich zu viel verriete. In einem hatte er Erfolg: Es gelang ihm, mich und meinen hämmernden Gram völlig in sein dämonisches Netz zu verstricken. Mit unendlicher Geschicklichkeit schwankte und wankte er und fand sein Gleichgewicht dann unbegreiflicherweise doch wieder und hielt so in mir die sportliche Hoffnung am Leben - wenn ich für Verrat, Wut, Verzweiflung, Grauen und Haß ein solches Wort verwenden kann -, er werde sich beim nächsten Mal denn doch verraten. Er tat es nie - obgleich er oft verdammt nahe daran war. Wir alle bewundern den Akrobaten im Paillettenkostüm, der im Puderlicht der Scheinwerfer mit klassischer Anmut und Präzision auf seinem Drahtseil balanciert; aber wie viel mehr Kunst gehört dazu, auf einem schlaffgespannten Seil in Vogelscheuchenlumpen den grotesken Betrunkenen zu mimen! Gerade ich sollte das wissen.
Die Indizien, die er hinterließ, verrieten seine Identität nicht, warfen aber Licht auf seine Persönlichkeit - oder wenigstens auf eine gewisse homogene und auffallende Persönlichkeit; seine Art, sein Sinn für Humor - zumindest, wenn er auf der Höhe war -, die Tonart seines Geistes hatten eine gewisse Verwandtschaft mit mir. Er imitierte und persiflierte mich. Seine Anspielungen waren entschieden raffinierter Art. Er war belesen. Er konnte Französisch. Er verstand sich auf Logodädalie und Logomantie. Er war ein Liebhaber von Erotika. Er konnte wohl seinen Namen wechseln - doch seine eigentümlichen ‹t›s, ‹w›s und ‹l›s konnte er nicht verstellen, wie schief er sie auch machte. «Quelquepart Island» war einer seiner beliebtesten Wohnorte. Er benutzte keinen Füllfederhalter, und wie jeder Psychoanalytiker Ihnen sagen wird, bedeutet das, daß der Patient ein verdrängter LJndinist war. Die Menschenliebe gebietet uns, ihm zu wünschen, daß es im Styx Wassernymphen gibt.
Der vorherrschende Zug seines Wesens war die Lust an der quälenden Verrätselung. Himmel, wie sehr genoß es der arme Tropf, mich zu hänseln! Er zog meine Bildung in Zweifel. Ich bin stolz genug darauf, etwas zu wissen, um bescheiden zugeben zu können, daß ich vieles nicht weiß; und ich muß gestehen, daß mir bei dieser kryptogrammatischen Schnitzeljagd gewisse Elemente entgingen. Welch ein Triumph- und Haßschauer durchzuckte mein geschwächtes Gebein, wenn mir unter den einfachen, unschuldigen Namen in den Hotelregistern der Sinn seines teuflischen Puzzles ins Gesicht ejakulierte! Sooft er spürte, daß - selbst für einen Experten wie mich - seine Rätsel zu dunkel wurden, köderte er mich wieder mit einem leichten. «Arsène Lupin» lag für einen Franzosen, der sich an die Detektivgeschichten seiner Jugend erinnert, auf der Hand; man brauchte kaum ein Coleridge-Kenner zu sein, um den banalen Witz von «A. Person, Porlock, England» zu begreifen. Schrecklich geschmacklos, aber sehr wohl Kennzeichen eines gebildeten Mannes - keines Polizisten, keines gemeinen Schwachkopfes, keines geilen Vertreters - waren angenommene Namen wie «Arthur Rainbow», offenbar der travestierte Verfasser von Le Bateau Bleu - lassen Sie mich auch einmal ein bißchen lachen, meine Herren -, und «Morris Schmetterling», der berühmte Autor von L'Oiseau Ivre (na, reingefallen, Leser?). Der dumme, aber drollige «D. Orgon, Elmira N. Y.» war natürlich von Molière, und weil ich vor kurzem versucht hatte, Lolitas Interesse für ein berühmtes Drama des achtzehnten Jahrhunderts zu wecken, begrüßte ich «Harry Bumper, Sheridan, Wyoming» als alten Bekannten. Ein gewöhnliches Konversationslexikon sagte mir, wer der sonderbar aussehende «Phineas Quimby, Lebanon, N. H.» war, und jedem guten Freudianer mit einem deutschen Namen und etwas Interesse für religiöse Prostitution sollte die Bedeutung von «Dr. Kitzler, Eryx, Miss.» ohne weiteres aufgehen. Soweit, so gut. Derlei Scherze waren schäbig, aber im ganzen unpersönlich und deshalb harmlos. Von den Eintragungen, die meine Aufmerksamkeit per se fesselten, weil sie unzweifelhaft Hinweise darstellten, deren feinerer Witz mir jedoch entging, möchte ich nicht viele erwähnen, da ich das Gefühl habe, hier in einem nebligen Grenzgebiet umherzutappen, wo sich Wortphantome möglicherweise in lebende Urlauber verwandeln. Wer war «Johnny Randall, Ramble, Ohio»? War er vielleicht eine wirklich existente Person, die nur zufällig eine ähnliche Handschrift hatte wie «N. S. Aristoff, Catagela, N. Y.»? Catagela, wo war dein Stachel? Und was war von «James Mavor Morell, Calemburgh, England» zu halten? «Aristophanes», «Kalauer» - schön und gut, aber was entging mir?
Durch all dieses Versteckspiel zog sich ein roter Faden, der
mein Herz besonders schmerzhaft stocken ließ, sooft ich auf ihn
traf. So etwas wie «G. Trapp, Geneva, N. Y.» war ein Zeichen
dafür, daß Lolita mich verraten hatte. «Aubrey Beardsley, Quelquepart
Island» legte noch durchsichtiger als die verstümmelte Telephonbotschaft
nahe, daß der Ausgangspunkt der Affaire im Osten zu suchen war.
«Lucas Picador, Merrymay, Pa.» ließ annehmen, daß meine Carmen
dem Betrüger die rührenden Kosenamen verraten hatte, mit denen
ich sie bedacht hatte. Furchtbar brutal fürwahr war «Will Brown,
Dolores, Colorado». Das grausliche «Harold Haze, Tombstone, Arizona»
(das zu anderen Zeiten meinen Sinn für Humor angesprochen hätte)
setzte eine Vertrautheit mit Los Vergangenheit voraus, die mich
auf alptraumhafte Art einen Augenblick lang auf den Gedanken
brachte, mein Feind könnte ein alter Freund der Familie sein,
vielleicht ein früherer Schwarm von Charlotte, ein Streiter wider
das Unrecht («Donald Quix, Sierra, Nevada»). Der Pfeil, der mich
am schmerzhaftesten durchbohrte, war jedoch die anagrammatische
Eintragung im Register des Kastanien-Motels: «Burt E. Jager,
Reeze, Va.» - (
lo
)
Deutung (4) Traum einer Frau aus dem Volke, deren Mann Wachmann ist, mitgeteilt von B. Dattner
»... Dann sei jemand in die Wohnung eingebrochen und sie habe angstvoll nach einem Wachmann gerufen. Dieser aber sei mit zwei ›Pülchern‹ einträchtig in eine Kirche1 gegangen, zu der mehrere Stufen2 emporführten; hinter der Kirche sei ein Berg3 gewesen und oben ein dichter Wald4. Der Wachmann sei mit einem Helm, Ringkragen und Mantel5 versehen gewesen. Er habe einen braunen Vollbart gehabt. Die beiden Vaganten, die friedlich mit dem Wachmann gegangen seien, hätten sackartig aufgebundene Schürzen um die Lenden gehabt6. Vor der Kirche habe zum Berg ein Weg geführt. Dieser sei beiderseits mit Gras und Gestrüpp verwachsen gewesen, das immer dichter wurde und auf der Höhe des Berges ein ordentlicher Wald geworden sei.«
1 »Oder Kapelle
= Vagina.«
2 »Symbol des Koitus.«
3
Mons veneris«
4 »Crines pubis«
5
»Dämonen in Mänteln und Kapuzen sind
nachi der Aufklärung eines Fachmannes phallischer
Natur.«
6 »Die beiden Hälften des Hodensackes.«
- (
freud
)
Deutung (5) Im ersten Buch sagte ich, daß der Kopf den Vater des Träumenden bezeichne, im zweiten, daß der Löwe den Kaiser oder eine Krankheit versinnbildliche, und in dem Abschnitt über den Tod zeigte ich, daß das Sterben für Arme glückbringend und nützlich sei. Wenn nun ein armer Mann, der einen reichen Vater hat, träumt, sein Kopf sei ihm von einem Löwen abgerissen worden und er komme dadurch zu Tode, so steht zu erwarten, daß sein Vater sterben und ihn als Erben einsetzen wird, und auf diese Weise dürfte er sorgenfrei und wohlhabend werden, weil er nicht länger seinen Vater als Last noch drückende Not zu ertragen hat. Es bedeutet nämlich der Kopf den Vater, das Abreißen des Kopfes den Verlust des Vaters, und der Löwe die Krankheit, an der der Vater stirbt; der Tod hingegen bezeichnet den Wechsel in den Lebensverhältnissen und die durch den Reichtum erworbene Unabhängigkeit.
Auf diese Weise hat man bei allen vielschichtigen Traumgesichten
die Deutungen herauszufinden, indem man jedes einzelne Kernstück
zu einem abgerundeten Ganzen fügt und verschmilzt. Man muß seine
Auslegungen nach Art der Opferpriester geben, die einerseits
genau wissen, wohin jedes einzelne Zeichen paßt, andererseits
ihre Urteile ebensosehr aus jedem einzelnen als aus allen Zeichen
zusammen schöpfen. - (
art
)
Deutung (6) Die Bücher zu seinem
Thema lagen schon gestapelt auf dem Tisch. Er hatte hineingesehen,
die Fragen waren tatsächlich einfach: erstens, gibt es ein Pädagogisch-Eigentliches,
das überhaupt in der Dichtung relevant wird? Zweitens gibt es
ein Dichterisch-Eigentliches, das zugleich pädagogisch bedeutsam
ist? Auf solche Weise müßte es möglich werden, eine innere Beziehung
von Dichterischem zu Pädagogischem sichtbar zu machen. Dichtung
ist Kunst, ihre Kategorien sind ästhetische. Dichtung ist sprachliches
Kunstwerk. Zitatende. Und: das Ästhetische wird im Wort, das
einen Sinn trägt, immer ethisch-pädagogisch relevant. Zitatende.
Wenn diese Zusammenhänge geklärt
sind, wird es auch möglich sein, jene Gefährdung der Kinder und
Jugendlichen durch Comics näher zu bestimmen, über die in der
einschlägigen Literatur so viel und oft so wenig überzeugend
geschrieben worden ist. Wir zweifeln nicht daran, daß es eine
Gefährdung gibt, wir zweifeln nicht. Zitatende. Das Material,
das dabei benutzt wird, stammt aus einer Umtauschaktion Gute
Jugendliteratur gegen Schund, die in einer kleineren Stadt, etwa
32 000 Einwohner, durchgeführt wurde und die fast 19 000 Hefte
verschiedenster Art, darunter 15 000 Comics, erbrachte. Die Felszeichnungen
der Primitiven tragen magisch-künstlerischen Charakter, sind
echt, ursprünglich, unverbildet und
wahrhaftig wie das Leben selbst. Die Comics sind fabriziert,
unecht, mißgestaltet und verlogen, führen in eine Urwelt primitiver
Bilder und Symbole zürück. Der große Unterschied zur Bildersprache
unserer Vorzeit ist, daß in jenen prähistorischen Wandbildern
von Altamira oder jenen Mosaiken von Ravenna oder was immer man
sich vorstellt, eine große elementare Sprache gesprochen wird.
Die Bildersprache von heute wendet sich an einen Analphabetismus
des Geistes. Zitatende. Widerspruch. Rainer zeigte ihm, als er
darüber redete, die Phoebe Zeitgeist, verboten, Ess-Ess, dagegen
Wilhelm Busch. Die Urheber der Comics haben aus dem, was bei
Busch Kunst war, einen Konsumartikel gemacht. Widerspruch, Phoebe
Zeitgeist, Ess-Ess. Die Deformation des Menschlichen ist allgemein.
Zitatende. Und: daß die Comicbooks eine Welt
in Unordnung zeigen, geht letztlich
darauf zurück, daß die Ordnung unserer
eigenen wirklichen Welt ebenfalls zu wünschen
übrigläßt. Zwischen Intelligenz und Comics-Lesefreudigkeit besteht
keinerlei Zusammenhang. Die Intelligenten
lesen also nicht mehr und nicht weniger Bilderhefte als die Unintelligenten.
Sie werden sich auf vegetarische Kost umstellen müssen, denn
außer diesen Pflanzen gibt es kein Leben
mehr in ihrem System, leben Sie wohl.
So'n Quatsch, sagte er. - (
brink
)
Deutung (7) Wieder befrage ich mich, während ich
weitergehe: welches ist die Natur dieses Sumpfs, wie
ist er beschaffen? Ich habe ihn als Königreich bezeichnet: dann wären diese
Würmer, diese schlüpfrigen Insekten und winzigen Reptilien
also seine Untertanen oder vielleicht geradewegs seine Höflinge. Es gibt eine
Art von sanfter Unterwerfung, von Ergebenheit bei diesen Tieren, denen ich,
mehr noch als fremd, unsichtbar erscheinen muß. Ein stiller Schmetterling, oder
vielleicht eine Motte, schwebt vor mir her, und ich vermute, daß sie mich auskundschaftet,
vielleicht wurde sie von jenen Wesen, deren Namen ich nicht kenne, hergeschickt,
um herauszufinden, wer im Begriff ist, in dieses Gebiet einzudringen, dem man
eine unerreichbare Würde unmöglich absprechen kann. Aber ich glaube, daß die
Motte, dieses schmutzgraue Flügelfetzchen, auf ihre Weise mein Pferd befragt;
und wer weiß, ob ich mich täusche, wenn es mir vorkommt, als bewege das Pferd
seine Ohren, fast wie in einem für das Wissen der Motte unentzifferbaren Alphabet.
Und da fliegt sie auch schon wieder hinunter, um sich mit den glatten Reptilien
zu unterhalten. Aber es gibt noch anderes in diesem Sumpf, das mich fasziniert
und verwirrt. Was ist dieser wabernde Schleim, diese Jauche, die sich kräuselt
wie eine kurze Welle, aber ohne Wind? Ist es ein lebendiges Wesen oder eine
Föderation von irgendeine Art Leben lebender Wesen? Oder ist der gesamte Sumpf
die Ausbreitung einer flüssigen Existenz, etwas, das hier, nur hier, einen geeigneten
Platz für seine Geburt finden konnte? Obwohl es hier keine konzertierenden Klänge
gibt, ist der ganze Sumpf von leisem Geknister, glitschigem Membrangezitter.
Schlangengeraschel, Geflüster ausbrechender Kokons
und unsichtbarem Flügelbeben durchzogen. Oh Ort des geringsten Lebens, Ort der
Insekten, deren Namen und Schicksale die Götter kennen, Ort der unendlichen
Geburt und des unzähligen Todes! Deine entartete Milde verführt mich; weise
mich nicht zurück, in meinem Menschenkörper sitzt eine winzige Krötenseele,
oder auch weniger, ich bin das blinde Kind eines Aals,
und weißt du auch, daß ich bereits dabei bin, meinen menschlichen Namen zu vergessen?
Weißt du auch, habe ich gesagt, aber was bedeutet das, an wen richte ich diese
Frage? Werde ich je jemandem begegnen, mit dem ich mich unterhalten und über
meinen Zutritt zum Sumpf verhandeln kann? Welche Gestalt kann der Gott haben,
der den Sumpf regiert? Oder gibt es keinen Platz für einen Gott, nur für dieses
massenhafte Würmergewimmel, und der Gott ist nichts anderes als die Gesamtheit
der Würmer? Ist der Sumpf eine Wunde im Körper des Universums,
oder ist das Universum nichts weiter als ein niederträchtiger Versuch, den Sumpf
zu umzingeln und ihn von den Tagen und Nächten, den Gerechten und Ungerechten,
dem Licht und den Sonnen auszuschließen? - Giorgio Manganelli,
Der endgültige Sumpf. Berlin 1993(zuerst 1991)
Deutung (8) Roland tritt in die Grotte. Die Wände sind voller Graffiti und Schriftzeilen, mit Kohle oder bunter Kreide gekritzelt oder mit einem Messer eingeritzt. Alles arabisch, versteht sich. Roland ist Experte in dieser Sprache, oft genug hat er sich bei seinen Expeditionen hinter die feindlichen Linien gewagt. Was da geschrieben steht, ist für ihn also klar, und doch möchte er es nicht glauben. Da steht geschrieben, in einer anderen Handschrift als der Angelicas: »Oh, hier zu liegen mit der Prinzessin Angelica Arm in Arm, morgens und abends, oh, wie schön ist das!« Unterschrieben: »Medoro«.
Roland überlegt: »Also, wenn ich Medoro bin und nicht ich es war, der das
geschrieben hat, dann muß Angelica in dem Wunsch, hier mit mir Arm in Arm zu
liegen, darauf verfallen sein, diese Dinge in einer männlichen Handschrift zu
schreiben, um sich vorzustellen, was ich empfinden würde.« Die Erklärung ist
genial, aber nicht aufrechtzuhalten. Roland kann den Gedanken nicht mehr zurückdrängen,
daß Medoro ein Nebenbuhler sein könnte. Ein unglücklicher Nebenbuhler natürlich,
der, um seine Phantasien auszuleben und die Frau, die ihn abgewiesen hat, zu
erniedrigen, seinen Namen dorthin setzt, wo Angelica ihre Liebesbotschaft an
Roland unterschrieben hat. Auch dies ist wieder zu weit hergeholt: Welche Erklärung
er auch versucht, stets weigern sich Rolands Überlegungen, dem einfachsten Weg
zu folgen, und der Schmerz, der ihn schon wie ein Klumpen
im Halse würgt, bleibt dort stecken. - (
rol
)
Deutung (9) Im Jahre 1512 zu Ravenna, kurz ehe es geplündert wurde, gab es in Italien grausame Kriege und kam in dieser Stadt ein sehr merkwürdiges Ungeheuer zur Welt, das überaus große Verwunderung erregte. Es hatte von der Hüfte an durchaus Körper, Haupt und Gesicht eines menschlichen Kindes, trug aber ein Horn auf seiner Stirn. Die Arme fehlten ihm; stattdcssen gab ihm die Natur an ihrer Stelle zwei Fledermausflügel. Es trug auf seiner Brust das pythagoreische Y und auf dem Magen gegen den Leib ein wohlgeformtes Kreuz +. Es war ein Hermaphrodit und hatte beide natürlichen Geschlechter stark ausgeprägt. Es hatte nur einen Oberschenkel und daran ein Bein mit einem Milanfang und Krallen von gleicher Gestalt. Auf dem Kniegelenk hatte es ein einziges Auge.
Alle wunderten sich außerordentlich über diese Ungeheuerlichkeiten; und als
sehr gelehrte Personen bedachten, daß solche Ungeheuer gewöhnlich Vorzeichen
zu sein scheinen, begannen sie, über seine Bedeutung nachzudenken. Man legte
mehrere hinein, aber nur die folgende fand gute Aufnahme: das Horn bedeutete
Stolz und Ehrgeiz; die Flügel Unbeständigkeit und Leichtfertigkeit; das Fehlen
der Arme Fehlen guter Werke; der Raubvogelfang Raub, Wucher und Habgier; das
Auge am Knie Hang zu Eitelkeit und weltlichem Ding und die beiden Geschlechter
Sodomie und bestialische Unzucht;
an allen diesen Lastern war damals ganz Italien
überreich; und deshalb züchtigte es Gott.
- Mateo Aleman, Guzmán von Alfarache, nach (
schel
)
Deutung (10)
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