oesie, sagte der Dichter Bondy zu mir, echte Poesie muß verletzen, wie wenn Sie eine Rasierklinge im Taschentuch vergessen und sich beim Schneuzen die Nase zerschneiden, ein ordentliches Buch ist ja auch nicht dafür da, daß der Leser besser einschläft, sondern daß er aus dem Bett springt und in Unterhosen geradewegs zum Herrn Schriftsteller rennt und ihn fäustlings belehrt - (hra)

Poesie (2) Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie / vnd vnterricht von Göttlichen Sachen. Dann weil die erste vnd rawe  Welt gröber vnd vngeschlachter war / als das sie hette die lehren von weißheit vnd himmlischen dingen recht fassen vnd verstehen können / so haben weise Männer / was sie zue erbawung der Gottesfurcht / gutter sitten vnd wandels erfunden / in reime vnd fabeln / welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist / verstecken vnd verbergen müssen. Denn das man jederzeit bey allen Völckem vor gewiß geglaubet habe / es sey ein einiger vnd ewiger GOtt / von dem alle dinge erschaffen worden vnd erhalten werden / haben andere / die ich hier nicht mag außschreiben / genungsam erwiesen. Weil aber GOtt ein vnbegreiffliches wesen vnnd vber menschliche vernunfft ist / haben sie vorgegeben / die schönen Cörper vber vns / Sonne / Monde vnd Sternen / item allerley gutte Geister des Himmels wehren Gottes Söhne vnnd Mitgesellen / welche wir Menschen vieler grossen wolthaten halber billich ehren sollen. Solches Inhalts werden vieleichte die Bücher des Zoroasters / den Man für einen der eItesten Lehrer der göttlichen vnd menschlichen wissenschafft helt / gewesen sein / welcher / wie Hermippus bey dem Plinius im ersten Capitel des 30. Buches bezeuget / zwantzig mal hundert tausendt Verß von der Philosophie hinterlassen hat. Item was Linus / wie Diogenes Laertius erwehnet / von erschaffung der Welt / dem lauffe der Sonnen vnd des Mondens / vnd von erzeugung der Früchte vorgegeben hat. Dessen werckes anfang soll gewesen sein:

Es war die zeit da erstlich in gemein
Hier alle ding' erschaffen worden sein.

Neben diesem haben Eumolpus / Museus / Orpheus / Homerus / Hesiodus vnnd andere / als die ersten Väter der Weißheit / wie sie Plato nennet / vnd aller gutten Ordnung / die bäwfrischen vnd fast viehischen Menschen zue einem höfilichern vnd bessern leben angewiesen. Dann inn dem sie so viel herrliche Sprüche erzehleten / vnd die worte in gewisse reimen vnd maß verbunden / so das sie weder zue weit außschritten / noch zue wenig in sich hatten / sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten / vnd viel Sachen vorbrachten / welche einen schein sonderlicher propheceiungen vnd geheimnisse von sich gaben / vermeineten die einfältigen leute / es müste etwas göttliches in jhnen stecken / vnd liessen sich durch die anmutigkeit der schönen getichte zue aller tugend vnnd guttem wandel anführen.  Hat also Strabo vrsache / den Eratosthenes lügen zue heissen / welcher / wie viel vnwissende leute heutiges tages auch thun / gemeinet / es begehre kein Poete durch vnterrichtung / sondern alle bloß durch ergetzung sich angeneme zue machen. Hergegen / spricht er Strabo im ersten Buche / haben die alten gesagt / die Poeterey sey die erste Philosophie / eine erzieherinn des lebens von Jugend auff / welche die art der sitten / der bewegungen des gemütes vnd alles thuns vnd lassens lehre. Ja die vnsrigen (er verstehet die Stoischen) haben darvor gehalten / das ein weiser alleine ein Poete sey. Vnd dieser vrsachen wegen werden in den Griechischen Städten die Knaben zueföderst in der Poesie vnterwiesen: nicht nur vmb der blossen erlüstigung willen / sondern damit sie die sittsamkeit erlernen. Ingleichen stimmet auch Strabo mit dem Lactantius und andern in diesem ein / es seyen die Poeten viel älter als die Philosophen / vnd für weise leute gehalten worden / ehe man von dem namen der Weißheit gewust hat: vnnd hetten nachmals Cadmus / Pherecydes / vnd Hecateus der Poeten lehre zwar sonsten behalten / aber die abmessung der Wörter vnd Verse auffgelöset: biß die folgenden nach vnd nach etwas darvon enzogen / vnd die rednerische weise / gleichsam als von einem hohen Stande / in die gemeine art vnd forme herab geführet haben. Solches können wir auch aus dem abnehmen / das je älter ein Scribent ist / je näher er den Poeten zue kommen scheinet. Wie denn Casaubonus saget / das so offte er des Herodotus seine Historien lese / es jhn bedüncke / als wehre es Homerus selber. - Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. 1624

Poesie (3) Mein Wunsch, Partner und Freunde zu finden in den Dingen, die das Äußere möblieren (wie es unter anderem mein eigener Körper tut) und auch in jenen anderen, die keine Form haben und im Innern wie fremde Enklaven sind, dieser Wunsch ist so stark, daß ich - das Verhältnis umkehrend - vergesse, daß ich selbst das Spiel anführe und nun von jenen Dingen erwarte, sie sollten mir ein Zeichen geben und mir, im Einverständnis mit den Worten, die Rede diktieren, die es an sie zu richten gilt. Mir einzubilden, daß die Angehörigen der anderen Reiche - das ganz innerliche des Unsagbaren mit Inbegriffen - und die Sprache selbst, dank ganz besonderer Gunstbezeugung, die mir zuteil würde, sich mit mir ins Benehmen setzen könnten: ein bloßes Selbstgespräch für einen Dialog zu halten, ist der Rand jener Verrücktheit, an der ich stehe. Welch ein Unfug, so zu tun, als hätte dieses oder jenes Element der Natur oder meiner städtischen Umgebung, irgendein Beispiel dessen, was ich „Dinge" nenne (wobei ich diesen Terminus auf so manche Höhen und Tiefen meiner inneren Geographie ausdehne), mir eine Botschaft von größter Tragweite zu übermitteln; sich der Sprache gegenüber (der ich zu fromm ergeben bin, um anzuerkennen, daß sie zuerst von mir gesprochen wird, bevor sie zu mir spricht) wie ein Instrumentalist zu verhalten, der sich erhofft, sein Instrument möge ihn ganz ohne sein Zutun mit seiner Musik erbauen -welch eine Verirrung, wenn man sich gleichzeitig dagegen verwahrt, ein Idealist zu sein! Und welch eine Faulheit zugleich, denn es bedeutet doch, darauf zu bauen, daß das Wunder geschieht, ohne daß ich dabei auch nur den kleinen Finger zu rühren brauchte.

Die einzig wirkliche Poesie ist diejenige, an der man nichts überlegt und die sich ganz von sich aus bildet. Sie muß wie eine blinde, stumme Macht sein. Und vor allem dürße man sich selbst nie betrachten. - (leiris)

Poesie (4)

Poesie

- (tomk)

Poesie (5) Man beginnt allmählich einzusehen, dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat  doch etwas mehr gehört als ein Messer, eine Börse, eine dunkle Gasse und zwei Schafsköpfe, von denen der eine dem anderen den Hals durchschneidet. Scharfsinnige Berechnung, meine Herren, feinsinnige Verteilung von Licht und Schatten, kurzum ein hoch entwickeltes, künstlerisches Empfinden, das sind die unerlässlichen Vorbedingungen zu einer solchen Tat.  - (quinc)

Poesie (6)  Was ist Dichtung, wenn nicht das Hervorbrechen sichtloser Gegebenheiten aus Räumen, die unzugänglich blieben, wollte man sie logisch darstellen oder hervorrufen.

Die Gewebe der unerhört ausgebreiteten Wellungen und Ineinander-flüsse von Artikulationen, die der bewußten Allgemeinbedeutung unzugänglich bleiben - Dichtung ist Hervorrufen so polyformer und so multiplexer, viel verwobener und umgebogener Möglichkeiten, daß sie mit Nichts der Vernunft oder Logik Unterliegendem in Parallele gebracht werden sollte.

Kein Experiment, sondern eine aus den Abgründen des Unfaßlichen sich formende unterweltliche andere Realität, als die alltäglich sichtbar oder hörbar werdende. - Raoul Hausmann in: Elektronische Eidophonie. Siegen 1991 (Vergessene Autoren der Moderne L, Hg. Karl Riha)

Poesie (7)  Nie war dieser Kopf so voll Poesie gewesen wie jetzt, da er fallen sollte. - Stendhal, Rot und Schwarz

Poesie (8)  Meine Dichtkunst wird nur darin bestehen, den Menschen, dieses Raubtier, mit allen Mitteln anzugreifen und mit ihm den Schöpfer, der ein solches Ungeziefer nicht hätte erzeugen sollen.  - Lautréamont

Poesie (9)

Poesie (10)

Poesie (11)    Sogar die Poesie, die zunächst angenehme Wirkungen zeitigt, dann aber die Wirrungen der Leidenschaft und schreckliche Alpträume befördert, wird durch die Hieroglyphe für den Kraken dargestellt, dessen Fleisch zwar schmeckt, sich aber nachträglich als schwer verdaulich erweist und böse Träume hervorruft. Der Kopf des Kraken enthält Bestes und Schlimmstes: Er ist folglich ganz besonders geeignet, mit der Poesie verglichen zu werden, die die Seele junger Menschen durch Schilderungen der Liebe in Wallung bringt. - (krak)

Poesie (12)   Man träumt nur, wenn man schläft. Es sind Worte wie das vom Traum, das Nichts des Lebens, irdischer Durchgang, die Präposition vielleicht, der wackelige Dreifuß, die diese feucht-schmachtende Dichtkunst, der Fäulnis vergleichbar, in eure Seele geträufelt haben. Von Worten zu Gedanken ist nur ein Schritt.

Die Umwälzungen, die Ängste, die Verderbtheiten, der Tod, die Ausnahmen in der physischen oder moralischen Ordnung, der Geist der Negation, die Verdummung, die absichtlich erzeugten Sinnestäuschungen, die Sorgen, die Zerstörung, die Umstürze, die Tränen, die Unersättlichkeit, die Warnungen, die tiefgründigen Vorstellungen, die Romane, das, was unerwartet ist,das, was man nicht tun darf, die chemischen Eigenarten des geheimnisvollen Geiers, der das Aas irgendeiner toten Illusion belauert, die frühreifen und gescheiterten Erfahrungen, die Finsternis mit wanzenartigem Rückenpanzer, die furchtbare fixe Idee des Hochmuts, das Einimpfen tiefer Verblüffung, die Leichenreden, der Neid, der Verrat, die Tyranneien, die Gottlosigkeiten, die Reizbarkeiten, die Bissigkeiten, die mutwilligen Beleidigungen, der Wahnsinn, der Spleen, das begründete Entsetzen, die seltsamen Aufregungen, die der Leser lieber nicht zu spüren bekäme, die Grimassen, die Neurosen, die blutige Schule der Prüfungen, durch die man die äußerst bedrängte Logik treibt, die Übertreibungen, der Mangel an Aufrichtigkeit, die Gassenhauer, die Plattheiten, das Düstere, das Grausige, die Geburten, schlimmer als Morde, die Leidenschaften, die Clique der Schwurgerichts-Romanciers, die Tragödien, die Oden, die Melodramen, die endlos aufgetischten Extreme, die ungestraft ausgepfiffene Vernunft, die Gerüche des Angsthasen, die Geschmacklosigkeiten, die Frösche, die Kraken, die Haie, der Samum der Wüsten, das, was mondsüchtig, verdächtig, nächtlich, einschläfernd, nachtwandlerisch, klebrig, wie ein sprechender Seehund, zweideutig, schwindsüchtig ist, was zu Krämpfen und zum Sinnengenuß reizt, was blutarm, einäugig, hermaphroditisch ist, der Bastard, der Albino, der Päderast, das Aquariumwunder und die Frau mit dem Bart, die trunkenen Stunden stillschweigender Mutlosigkeit, die Phantasien, die Bitterkeiten, die Ungeheuer, die demoralisierenden Vernunftschlüsse, der Unflat, das, was nicht nachdenkt wie das Kind, die Trostlosigkeit, dieser geistige Manzanillabaum, die wohlriechenden Schanker, die Kamelienschenkel, die Schuld eines Schriftstellers, der die abschüssige Bahn des Nichts hinabgleitet und sich selbst mit Freudenschreien verachtet, die Gewissensbisse, die Heucheleien,die unbestimmten Aussichten, die euch in ihren unmerklichen Zahnrädern zermalmen, das ernsthafte Bespeien geheiligter Grundsätze, das Ungeziefer und sein einschmeichelndes Gekitzel, die sinnlosen Vorworte wie die von Cromwell, von Mademoiselle Maupin, und von Dumas fils. die Gebrechlichkeiten, die Impotenzen, die Gotteslästerungen, die Blutstockungen, die Beklemmungen, die Wutausbrüche - vor diesen unsauberen Beinhäusern, die zu nennen ich erröte, ist es endlich Zeit, dem, was uns abstößt und zutiefst demütigt, entgegenzuwirken. Euer Geist wird dauernd aus den Angeln gerissen und in die Falle der Finsternis gelockt, die eine grobe Kunst aus Egoismus und Eigenliebe errichtet hat. - Lautréamont, nach (eco)

Poesie (13)  Bedenklich bleibt es immer, daß die Lyra ursprünglich nichts weiter war als ein Rindviehschädel, zwischen dessen Hörnern Hermes vier Saiten ausspannte.  - (kjw)

Poesie (14)   Poesie ist wahrhafter Idealismus - Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines großen Gemüths - Selbstbewußtseyn des Universums. - Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800

Poesie (15)  Man kann die Poesie nicht gering genug schätzen.  - Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800

Poesie (16)  Wenn sich die Prosa erweitern will, und der Poësie auf Ihre Weise nachahmen - so muß sie sich, sobald sie ihre gewöhnlichen Gegenstände verläßt, und sich über das Bedürfniß erhebt, auch die Sitten dieser höhern Welt annehmen und sich zu einer ihr ungewohnten Eleganz bequemen. Dennoch bleibt sie Prosa - und also auf einen bestimmten Zweck gerichtet, beschränkte Rede - Mittel. Sie nimmt nur Zierrathen an und läßt sich einen gewissen Zwang des Wohllauts in der Stellung der Wörter und in der Abwechselung und Bildung der Sätze gefallen. Sie tritt reich geschmückt und mit Überfluß auf - und das höhere Feuer, was sie durchdringt, verräth sich durch die fließende Cohaesion ihrer Glieder - Sie ist ein Strom.

Anders die Poësie. Sie ist von Natur Flüssig - allbildsam-und unbeschränkt - Jeder Reitz bewegt sie nach allen Seiten - Sie ist Element des Geistes - ein ewig stilles Meer, das sich nur auf der Oberfläche in tausend willkührliche Wellen bricht. Wenn die Poesie sich erweitern will, so kann sie es nur, indem sie sich beschränkt - indem sie sich zusammenzieht - ihren Feuerstoff gleichsam fahren läßt - und gerinnt. Sie erhält einen prosaischen Schein - ihre Bestandteile stehn in keiner so innigen Gemeinschaft - mithin nicht unter so strengen, rythmischen Gesetzen  - Sie wird fähiger zur Darstellung des Beschränkten. Aber sie bleibt Poësie - mithin den wesentlichen Gesetzen ihrer Natur getreu — Sie wird gleichsam ein organisches Wesen — dessen ganzer Bau seine Entstehung aus dem Flüssigen, seine ursprünglich elastische Natur, seine Unbeschränktheit, seine Allfähigkeit verräth. Nur die Mischung ihrer Glieder ist regellos - die Ordnung derselben - ihr Verhältniß zum Ganzen ist noch dasselbe - Ein jeder Reitz verbreitet sich darinn nach allen Seiten. Auch hier bewegen sich nur die Glieder um das ewig ruhende, Eine Ganze - Wir nehmen das Lehen - oder den Zustand des Geistes - diese unbewegliche Einheit und das Maaß aller Bewegungen - nur mittelst der Bewegungen der Glieder wahr. So erblickt man die Vernunft nur durch das Medium der Sinne. Je einfacher, gleichförmiger, ruhiger auch hier die Bewegungen der Sätze sind - je übereinstimmender ihre Mischungen im Ganzen sind - Je lockrer der Zusammenhang - je durchsichtiger und farbloser der Ausdruck - desto vollkommner diese, im Gegensatz zu der geschmückten Prosa — nachlässige, von den Gegenständen abhängig scheinende Poesie.

Die Poësie scheint von der Strenge ihrer Forderungen hier nachzulassen - williger und gefüger zu werden - aber dem, der den Versuch mit der Poësie in dieser Form wagt, wird es bald offenbar werden, wie schwer sie in dieser Gestalt vollkommen zu  realisiren ist. Diese erweiterte Poësie ist gerade das höchste Problem des practischen Dichters - ein Problem, was nur durch Annäherung gelößt werden kann, und was zu der hohem Poësie eigentlich gehört, deren Grundsätze zu der Niedern sich verhalten, wie die Grundsätze der höhern Meßkunde zu denen der Niedern, Hier ist noch ein unermeßliches Feld - ein, im eigentlichsten Sinn, unendliches Gebiet - Man könnte jene höhere Poësie die Poësie des Unendlichen nennen. - Novalis am 12. Januar 1798 an August Wilhelm Schlegel

Poesie (17)  Poesie ist, rein und echt betrachtet, weder Rede noch Kunst; Keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.   - Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (zuerst 1819)

Poesie (18)   Poesie ist die große Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transscendentale Arzt.

Die Poesie schaltet und waltet mit Schmerz und Kitzel - mit Lust und Unlust - Irrthum und Wahrheit - Gesundheit und Kranckheit - Sie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke - der Erhebung des Menschen über sich selbst. - Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (entst. 1798)

Poesie (19)  Wir sprachen über den Knabe Lenker.

«Daß in der Maske des Plutus der Faust steckt und in der Maske des Geizes der Mephistopheles, werden Sie gemerkt haben. Wer aber ist der Knabe Lenker?»

Ich zauderte und wußte nicht zu antworten.—«Es ist der Euphorion!» sagte Goethe.

Wie kann aber dieser, fragte ich, schon hier im Karneval erscheinen, da er doch erst im dritten Akt geboren wird?

«Der Euphorion», antwortete Goethe, «ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist. Derselbige Geist, dem es später beliebt, Euphorion zu sein, erscheint jetzt als Knabe Lenker, und er ist darin den Gespenstern ähnlich, die überall gegenwärtig sein und zu jeder Stunde hervortreten können.»  - Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe  (20. Dezember 1829)

Poesie (20)  Der Dichter muss sich dem Wesen seiner Charaktere anbequemen und nicht der Moral.

Die Poesie will etwas außerhalb des Gewohnten Liegendes, Barbarisches und Wildes. Ein großer Geschmack setzt großen [Schönheits-]Sinn voraus, lange Erfahrung, eine ehrbare und einfühlsame Seele, einen erhobenen Geist, ein etwas melancholisches Temperament und zarte Organe. - Diderot, Über die dramatische Poesie [1758],  nach (sot)

Poesie (21)  

Die Definition der Poesie

Ein scharf fließender Pfiff
das Knirschen zusammengepreßter Eisstücke,
die Nacht, die das Blatt erfrieren läßt,
der Preisgesang zweier Nachtigallen.

Eine süße verstummte Erbse,
die Tränen des Weltalls auf kleinen Spaten,
es ist - von den Pulten und aus den Flöten - Figaro,
fällt nieder als Hagel auf ein Beet.

Alles was so wichtig ist für die Nacht
in den tiefen Gründen des Bades,
und zu tragen den Stern bis zum Gärtchen
auf zitternden feuchten Handflächen.

Flacher als Bretter im Wasser - die Schwüle,
das Himmelsgewölbe wurde durch die Erle versperrt.
Es könnte sich begeben, daß die Sterne lachen,
aber auch, daß das Weltall schweigt.

- Boris Pasternak, nach (mus)

Poesie (22)  Heraklit betont die erregende Vereinung der Gegensätze. In ihnen vor allem sieht er die vollkommene Voraussetzung und den unerläßlichen Motor, um Harmonie zu erzeugen. In der Dichtung ist es geschehen, daß im Moment, wo diese Gegensätze verschmelzen, ohne bestimmten Ursprung ein Zusammenprall entstand. Zerstörend und einsam bewirkte er, daß die Abgründe ins Gleiten kamen, die auf so unstoffliche Art das Gedicht tragen. Sache des Dichters ist es, dieser Gefahr ein Ende zu setzen, indem er ein traditionelles Element von erprobter Vernunft eingreifen läßt oder das Feuer einer Welten-Schöpfung, die so sehr Wunder ist, daß sie das Band von Ursache und Wirkung zunichte macht. Dann kann der Dichter sehn, wie die Gegensätze - diese präzisen und wirbelnden Täuschungen - münden, wie ihre immanente Ahnenreihe Person wird, wobei Dichtung und Wahrheit, wie wir wissen, ein und dasselbe bedeuten.  

Manche wollen ihr Frist zur Bewaffnung lassen; sie sind verwundet vom Spleen einer Kneifzangen-Ewigkeit. Aber die Poesie, die nackt geht auf ihren Schilfrohrfüßen, auf ihren Kieselfüßen, läßt sich nirgendwo einschränken. Sie ist Frau, und wir küssen auf ihrem Mund die wahnsinnige Zeit, oder sie singt mit der Grille des Zenits die Winternacht in der ärmlichen Bäckerei, unter der Krume eines Brotes aus Licht.  - Alles aus: René Char, Partage formel - Unanfechtbarer Anteil, in: R. C., Zorn und Geheimnis. Frankfurt am Main 1991 (zuerst 1948)

Poesie (23)   Jemand  wollte wissen, ob es zu viel Kunst geben könne. »Unbedingt«, erwiderte Z. »und zwar besonders am Bau

»Und wie ist es mit den Dichtern?« fragte ein anderer. »Gibt es auch von denen zu viele?«

»Da ich nicht in dem Verdacht stehe, dieser Zunft anzugehören«, war die Antwort, »kann ich mich dazu sine im et studio äußern. Gewiß gibt es viele, die kein Ohr für Prosodie, Tonfall und Metrik haben; auch übertrifft bekanntlich die Zahl der Dichter die ihrer Leser. Doch im Gegensatz zur bildenden Kunst kostet die Poesie wenig, stört kaum im Straßenbild, und abgesehen von ihrem wenig umweltfreundlichen Papierverbrauch ist sie im allgemeinen harmlos. Es sollte daher jedem von Ihnen, der diesen Drang verspürt, unbenommen bleiben, Verse zu schreiben.«

»Allerdings sollte, wer es nicht lassen kann, wenigstens höflich genug sein, nur kurze Bücher zu verfassen. Das scheint leider, wenn man den Schaufenstern der Buchhandlungen trauen kann, nur den wenigsten zu gelingen.«   - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014

Poesie (24)  Vergessen wir nicht, daß die Dichtung einem ganz besonderen Kausalitätstypus gehorcht: der Gegenreaktion. In der Geschichte der Moderne erscheint sie in all ihren großen Augenblicken nicht so sehr als Reflex einer geistigen Situation, sondern vielmehr als gegen sie gerichtete Revolte. Die Dichtung wird aus ihrer Abwesenheit geboren. Diese Tatsache berechtigt am Ende eines Jahrhunderts und eines Jahrtausends doch zu einiger Hoffnung. Denn wenn die Unzulänglichkeit einen äußersten Grad erreicht, wird die Dichtung vielleicht über ihren allzu engen gegenwärtigen Entstehungsort in Werken hinausgelangen, die zu sehr an eine Person gebunden, zu wenig von der gemeinschaftlichen Sprache getragen sind, um wieder zu einer Erfahrung aller Menschen zu werden.  - Yves Bonnefoy, nach: Der Pfahl VII. München 1993

Poesie (25)  Die Probe eines Genusses ist seine Erinnerung - nur die Paradiese der Phantasie werden willig Phantasie und werden nie verloren, sondern stets erobert — nur die Dichtkunst söhnet die Vergangenheit mit der Zukunft aus und ist die Leier Orpheus', die diesen zwei zermalmenden Felsen zu stocken befiehlt.*

* Bekanntlich stießen die zwei symplegadischen Felsen immer gegeneinander und zertrümmerten jedes durchfliehende Schiff, bis Orpheus' Töne sie zu ruhen zwangen.

— Jean Paul, Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele (1797)

Poesie (26)  Warum gewinnt unter den schönen (redenden) Künsten die Poesie den Preis über die Beredsamkeit, bei eben denselben Zwecken? - Weil sie zugleich Musik (singbar) und Ton, ein für sich allein angenehmer Laut ist, dergleichen die bloße Sprache nicht ist. Selbst die Beredsamkeit borgt von der Poesie einen dem Ton nahe kommenden Laut, den Akzent, ohne welchen die Rede der nötigen dazwischen kommenden Augenblicke der Ruhe und der Belebung entbehrte. Die Poesie gewinnt aber nicht bloß den Preis über die Beredsamkeit, sondern auch über jede andere schöne Kunst: über die Malerei (wozu die Bildhauerkunst gehört) und selbst über die Musik. Denn die letztere ist nur darum schöne (nicht bloß angenehme) Kunst, weil sie der Poesie zum Vehikel dient. Auch gibt es unter den Poeten nicht so viel seichte (zu Geschäften untaugliche) Köpfe, als unter den Tonkünstlern; weil jene doch auch zum Verstande, diese aber bloß zu den Sinnen reden. - Ein gutes Gedicht ist das eindringendste Mittel der Belebung des Gemüts.  - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (zuerst 1798/1800)

Poesie (27)  ist die Muttersprache des Menschengeschlechts. - Herder

Poesie (28)  ist das echt absolut Reelle. - Novalis

Poesie (29) Je poetischer, desto wahrer. - Novalis

Poesie (30)  LAUFBAHN DER POESIE
I  - Die Poesie drückt sich zunächst durch den Mythos aus, der zur Zeit seiner Entstehung in einer symbolischen Form das ganze Wissen der Menschheit enthält. Gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen der Entstehung des Mythos. Symbolismus und Sublimierung.
II  - Die Arbeitsteilung fuhrt zu einer ständig verstärkten Spezialisierung. Auf die durch den Mythos ausgedrückte kollektive Poesie folgt eine individuelle, aus dem Mythos entstandene Poesie (Vgl. das griechisch-römische Altertum, China, Tibet, Mexiko). Diese Poesie stellt die erste subjektive individuelle Äußerung dar.
III - Weiterentwicklung der Poesie vom Altertum bis zur Romantik. Die Bedeutung der Romantik, ihre Quellen und ihr gesellschaftlicher Zusammenhang. Die Verwerfung aller Mythen durch die Romantik. Die Entdeckung der inneren Welt des Menschen.
IV - Von der Romantik zum Surrealismus: Baudelaire, Lautréamont, Rimbaud, Jarry, Apollinaire. Die Bedeutung des Surrealismus, seine Vorgänger und sein gesellschaftlicher Zusammenhang. Die Suche nach einem neuen Mythos. Der Wert des Spiels im Surrealismus. Die Zukunft der Poesie und des Surrealismus.   - Benjamin Péret, in: B. P., Die Schande der Dichter. Prosa, Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (Edition Nautilus)

Poesie (31)  Bis zum heutigen Tag befand sich die Dichtkunst auf falschem Wege; indem sie sich bis zum Himmel erhob oder auf die Erde hinunterkroch, hat sie die Prinzipien ihres Daseins verkannt und wurde so, nicht ohne Ursache, dauernd von den anständigen Leuten verhöhnt. Sie war nicht bescheiden... die schönste Eigenschaft, die in einem unvollkommenen Wesen existieren müßte! Ich will meine guten Eigenschaften zeigen; aber ich bin nicht scheinheilig genug, um meine Laster zu verbergen! Das Lachen, das Böse, der Hochmut, der Wahnsinn werden der Reihe nach zwischen der Sensibilität und der Liebe zur Gerechtigkeit in Erscheinung treten und der menschlichen Verblüffung als Beispiel dienen: jeder wird sich darin wiedererkennen, nicht so, wie. er sein sollte, sondern so, wie er ist. Und vielleicht wird dieses schlichte, aus meiner Phantasie geborene Ideal dennoch alles, was die Dichtkunst bis jetzt Großartigstes und Heiligstes gefunden hat, übertreffen. Denn, da in diesen Seiten meine Laster ruchbar werden, wird man nur um so fester an die Tugenden glauben, die ich erglänzen lasse und deren Heiligschein ich so hoch erhebe, daß die größten Geister der Zukunft mir aufrichtige Dankbarkeit bezeugen werden. Schonungslos wird die Schemheiligkeit aus meinem Hause verjagt. Meine Gesänge beweisen mit unwiderstehlicher Macht, daß die vorgefaßten Meinungen zu verachten sind. Er singt für sich selbst und nicht für seine Mitmenschen. Er legt nicht das Maß seiner Inspiration in die menschliche Waagschale. Frei wie der Orkan, wurde er eines Tages an die unbezähmbaren Küsten seines furchtbaren Willens geworfen! Er fürchtet nichts, es sei denn sich selbst! In seinen übernatürlichen Kämpfen wird er den Menschen und den Schöpfer angreifen, und zwar mit Gewinn, so wie der Schwertfisch sein Schwert in den Leib des Wals taucht. - (mal)

Poesie (32)


Wissenschaft Menschenprodukte, nichtphysische

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

Verwandte Begriffe
Prosa

Prosa

Synonyme