- Dieter
Hild
ebrand, Berliner
Enzyklopädie. München 1996 (dtv 12224, zuerst Hanser 1991)
Wahnsinn (2) Der Gedanke, daß außerirdische Wesen eine
andere Form des Denkens und Schließens haben könnten, war im 19. Jahrhundert
schon Frege gekommen und ihm — wie auch den Mathematikern seiner Zeit
— ziemlich verrückt erschienen. Was, so fragte sich Frege, würde geschehen,
wenn man auf fremde Wesen träfe, deren Denkgesetze den unseren schlicht widersprächen
und die deshalb zu völlig anderen praktischen Ergebnissen kämen? Nach der psychologischen
Logik wäre dann nur zu konstatieren, daß diese Gesetze für uns und jene für
die anderen Wesen gelten. Aber Frege meint dann doch, daß in einem solchen
Fall wohl eher eine «bislang noch nicht bekannte Form des Wahnsinns» vorliegen
dürfte. - (
bar
)
Wahnsinn (3)
Bleibt der Wahnsinn, «der
Wahnsinn, den man einsperrt», wie man so trefflich gesagt hat. Dieser oder jener...
Jeder weiß in der Tat, daß die Geisteskranken nur auf Grund einer geringen Zahl
von gesetzwidrigen Handlungen eingesperrt werden und daß sie ohne diese Handlungen,
auf keinen Fall ihre Freiheit (was man schon ihre Freiheit
nennt) verlieren würden. Daß sie gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft
sind, will ich durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung
gewisser Konventionen treibt, ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen
fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt, daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit,
die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und selbst gegenüber den verschiedenen
Strafen, die man über sie verhängt — sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus
ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten,
um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt. Und
tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen keine geringzuachtende Quelle
des Genusses. Auch das noch so geregelte Empfindungsvermögen kommt dabei auf
seine Kosten, ...
Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen
zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und von einer Unschuld,
die sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus mußte mit Verrückten
ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt
gewonnen hat — und Dauer. - André Breton,
Erstes Manifest des Surrealismus (1924)
Wahnsinn (4) Als sich im bösen Schlaf
die Wörter wie auf Zehntelsekundenzeigern oder auf
umspringenden Flugzeuganzeigetafeln immerfort umbildeten und die Dinge sich
ebenso rasend veränderten, bis schließlich kein Wort und kein Ding mehr wahrnehmbar
war, nur die unaufhörliche Verwandlung aller Wörter
und Dinge, hatte ich Angst, jetzt stünde der Tod
bevor, bei dem aus allen möglichen Wörtern ein einziges Kauderwelsch und aus
allen Dingen ein einziges Unding würde (keine Klarheit, wie man sonst behauptet,
im Moment des Todes, sondern das übelkeiterregende Durcheinander des Wahnsinns)
- (han
)
Wahnsinn (5) Die Genußsucht und Sinnlichkeit des Gauners
sowie seine Verschwendung grenzen an Wahnsinn. Mancher Gauner hat zu verschiedenen
Malen schon ein bedeutendes Vermögen erworben gehabt, von dessen Renten er ein
bequemes, ruhiges Leben hätte führen können. Aber in kurzer Zeit wurde der Reichtum
verpraßt. Der Gauner begreift sein Spiel und dessen Gefahr und Ausgang, und
darum klammert er sich mit krankhafter Gier an das Dasein,
das ihn hin- und her wirft und ihm eine amphibische
Natur verleiht, so daß es nur ihm allein möglich wird, im sinnlosen Genuß oder
im tiefsten Elend zu leben. Der Zweck der Ehe ist ihm fremd, obgleich er die
geschlechtliche Vereinigung sucht, sobald der frühgeweckte Naturtrieb dazu anreizt.
Der Beispiele sind unzählige. Des Sonnenwirtles Frau, Christine Schattinger,
gab sich schon als zwölfjähriges Kind preis. Der Gegenstand der Wahl muß unverwüstlich
in der Wollust, unverdrossen in Verrichtung der den
Weibern allein zur Last fallenden häuslichen Arbeit, kräftig und ausdauernd
zum Tragen von Gepäck und Kindern auf der Reise, schlau zum Baldowern und geneigt
und geschickt zum Handeln, d. h. Stehlen, sein. Gegen diese Vorzüge schwindet
die strenge Forderung körperlicher Schönheit, obgleich sie als angenehme Beigabe
willkommen ist. Entsprechende Forderungen stellen die Dirnen und Weiber.
Der kräftige, beherzte, verschlagene und renommierte Freier ist der willkommenste.
Nur äußerer Zwang führt zur Ehe, die aber keineswegs ein Hindernis ist, anderweitige
Verbindungen einzugehen. Oberamtmann Schäffer erwähnt den Gauner Siehler,
der zwölf Beischläferinnen zugleich hatte, dann einer mit einem scheußlichen
Spitznamen bekannten Gaunerin, die zwei Ehemänner und eine Menge Beischläfer
ihr eigen nannte. - (
ave
)
Wahnsinn (6) Ein Herr, der niemanden getötet
hatte, wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt: er habe so hieß es, aus Gewinnsucht
einen Geschäftspartner umgebracht, dessen privates Verhalten er weder zu erklären
noch zu kommentieren gedachte. Alles in allem, so überlegte er, hätte ihn -
zumal es sich um seinen Geschäftspartner handelte - auch ein beschämenderes
Urteil treffen können. Die Richter hatten sogar zugegeben, daß er, der Verurteilte,
auf unwürdige Weise geprellt worden war. In Wahrheit hatte er, obwohl er seiner
Sache sicher war, niemals herauszufinden versucht, ob und in welchem Ausmaß
er betrogen worden war. Er hatte im Geiste einen Prozentsatz von zwei Dritteln
als vernünftigen Näherungswert angenommen. In Wirklichkeit - das hatte er während
der Gerichtsverhandlung gemerkt - war der Betrug weitaus geringer gewesen. In
dieser Hinsicht stimmte der Prozeß ihn fröhlich; er gab ihm zwar die Gewißheit,
daß sein Freund ein Betrüger war, ihn aber schüchtern und zurückhaltend zu finden,
rührte ihn zutiefst. Er versuchte zu erklären, daß er überzeugt sei, um zwei
Drittel geprellt worden zu sein und trotzdem nie daran gedacht hätte zu töten.
Wie hätte er auch töten können wegen eines so geringfügigen Schadens? Alles
war umsonst. Man erklärte ihm, er habe einen schlechten Charakter und leide
an Allmachtsphantasien. Er sei indessen nicht verrückt, obwohl er mehr als eine
Neigung, eine Art Liebe zum Wahnsinn hege. Er mußte zugeben, daß die Bemerkung
begründet war. Von diesem Augenblick an sah er davon ab, sich mit vernünftigen
und stichhaltigen Argumenten zu verteidigen. Der Umstand, daß es ihm - einem
bis zur Schludrigkeit sanftmütigen Menschen - beschieden war, des Mordes angeklagt
vor Gericht zu erscheinen, deuchte ihn derart wunderbar und unwahrscheinlich,
daß er zu dem Schluß kam, eines der großen Themen seines Lebens verwirklicht
zu haben: die Erringung eines objektiven Wahnsinns - nicht nur seines eigenen,
sondern eines strukturellen Wahnsinns, in dem alles fest verknüpft, alles folgerichtig
und alles schlüssig war. Allmachtsdelirium? Aber er war ja wirklich allmächtig.
Da man ihn, den Unschuldigen, des Mordes für schuldig befunden hatte, bildete
er und kein anderer den Eckpfeiler des Wahngebäudes. Welch schwierige Rolle!
Er konnte nicht lügen, da er endlich eine wahre Welt bewohnte, und er konnte
nicht vorgeben, verrückt zu sein, ohne das gesamte Wahngebilde ins Wanken zu
bringen. Es bedurfte großer Klugheit, und die hatte er. - (
pill
)
Wahnsinn (7)
- E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlass. Von Julius Eduard Hitzig.
Frankfurt am Main 1986 (it 1986, zuerst ca. 1825)
Wahnsinn (8) Der Colonel leerte sein Glas und sagte: »Wahnsinn und Bösartigkeit verdanken wir der freien Erziehung.«
Mrs. Beadle sprang auf einmal aus ihrem Sessel hoch und rief: »Raus! Raus mit dir, Teufel!« Dann setzte sie sich ruhig wieder hin.
Alle fuhren zusammen, außer natürlich Mr. Menus. »Sei unbesorgt«, sagte er
zu seiner Tante, »sie treibt bloß Teufel
aus. Sie tut das höchstpersönlich mindestens einmal pro Tag, es lohnt sich für
sie.« - Djuna Barnes, Saturnalien. In: D. B., Hinter dem Herzen. Berlin 1994
Wahnsinn (9) Als wir auf Träume
zu sprechen kommen, merken wir beide fast gleichzeitig, daß bestimmte Traumstrukturen
gewöhnliche Formen des Wahnsinns wären, sofern sie im Wachzustand andauerten.
Im Traum dürfen wir unsere Begabung für den Wahnsinn
gratis erproben. Gleichzeitig vermuten wir, daß jeder
Wahnsinn ein Traum ist, der sich festsetzt. - (
ray
)
Wahnsinn (10) Andererseits wieder
hat der Traum eine nicht zu leugnende Aehnlichkeit
mit dem Wahnsinn. Nämlich, was das träumende Bewußtseyn vom wachen hauptsächlich
unterscheidet, ist der Mangel an Gedächtniß, oder vielmehr an zusammenhängender,
besonnener Rückerinnerung. Wir träumen uns in wunderliche, ja unmögliche Lagen
und Verhältnisse, ohne daß es uns einfiele, nach den Relationen derselben zum
Abwesenden und den Ursachen ihres Eintritts zu forschen; wir vollziehn ungereimte
Handlungen, weil wir des ihnen Entgegenstehenden nicht eingedenk sind. Längst
Verstorbene figuriren noch immer als Lebende in unsern Träumen; weil wir im
Traume uns nicht darauf besinnen, daß sie todt sind. Oft sehn wir uns wieder
in den Verhältnissen, die In unserer frühen Jugend bestanden, von den damaligen
Personen umgeben, Alles beim Alten; weil alle seitdem eingetretenen Veränderungen
und Umgestaltungen vergessen sind. Es scheint also wirklich, daß im Traume,
bei der Thätigkeit aller Geisteskräfte, das Gedächtniß
allein nicht recht disponibel sei. Hierauf eben beruht seine Aehnlichkeit mit
dem Wahnsinn, welcher, wie ich gezeigt habe, im Wesentlichen auf eine gewisse
Zerrüttung des Erinnerungsvermögens zurückzuführen
ist. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich daher der Traum als ein kurzer Wahnsinn,
der Wahnsinn als ein langer Traum bezeichnen. Im Ganzen also ist im Traum die
Anschauung der gegenwärtigen Realität ganz vollkommen und selbst minutiös, hingegen
ist unser Gesichtskreis daselbst ein sehr beschränkter, sofern das Abwesende
und Vergangene, selbst das fingirte, nur wenig ins Bewußtseyn fällt. -
(schop)
Wahnsinn (11) Der echte Wahnsinn ist
jener, der am stärksten auf die volkstümliche Einbildungskraft wirkt; er erzeugt
Unruhe und Schrecken. Ein sehr sicherer Instinkt kündigt jenen Kinderseelen
die göttliche Enttäuschung an, die sie im
Schiffbruch eines Geistes vermuten, und einfache Menschen, die nicht durch die
schwachsinnige Wissenschaft der Kommentatoren abgestumpft sind, spüren tief
drinnen die Ungeheuerlichkeit eines solchen Unglücks. Ob übernatürliche Prüfung
oder harte Bestrafung irgendeines Anschlags, dieses unvergleichliche Unheil
beunruhigt sie — und vor allem fürchten sie die Ansteckung. -
Léon Bloy, Blutschweiß. Berlin 2011 (zuerst 1893)
Wahnsinn (12) Lange Unterhaltung mit Traveler
über den Wahnsinn. Als wir auf Träume zu sprechen
kommen, merken wir beide fast gleichzeitig, daß bestimmte Traumstrukturen gewöhnliche
Formen des Wahnsinns wären, sofern sie im Wachzustand andauerten. Im Traum dürfen
wir unsere Begabung für den Wahnsinn gratis erproben. Gleichzeitig vermuten
wir, daß jeder Wahnsinn ein Traum ist, der sich festsetzt. - (
ray
)
Wahnsinn (13) Hera, durch die Ausschreitungen des Herakles
erzürnt, strafte ihn mit Wahnsinn. Zuerst griff er seinen geliebten
Neffen lolaos an, den ältesten Sohn des Iphikles. Ihm gelang es, vor
diesem wilden Angriff zu entfliehen. Dann hielt er sechs seiner eigenen
Kinder für Feinde, schoß sie nieder und warf ihre Körper in ein Feuer —
zusammen mit zwei anderen Söhnen des Iphikles, mit denen sie
Kriegsübungen durchführten. - (myth)