Begegnung (56)   Auf diesem Planeten passieren Sachen, unglaublich oder vielmehr ekelhaft. Ich bin jetzt noch außer mir. Ich sah mit eigenen Augen, wie ein großer Kurdel auf einen kleineren lostrottete — es war auf freiem Feld, sogar ziemlich trocken, mit jenem rötlichgelben Graswuchs, der auf der Erde das Vorkommen von Reizkern verspricht —, der Große tappte also auf den weidenden Kleinen los, beschnupperte ihn ausführlich und erbrach sich. Da fiel der andere erst auf die Vorder-, dann auf die Hinterbeine (genau wie ein Kamel, aber groß wie ein Blauwal), fraß das alles auf, leckte sich und begann zu heulen. Das klang so wild, dumpf, heiser und sehnsüchtig, so hoffnungslos und trübsinnig, als schrie dieser ganze ewig düstere Raum. Mir fuhr es kalt durch die Glieder, die ohnehin noch vor Ekel zuckten. Nachher nahm der Große den Knienden bei einem Ohr, biß es auf einen Hieb ab und begann zu kauen, methodisch mit den Kiefern mahlend wie eine Kuh, die frisches Laub frißt. Dann biß er ihm auch das andere Ohr ab, spuckte es aber gleich wieder aus, als schmeckte es nicht. Da bewegte sich der Kniende, dem offensichtlich Übelkeit zu schaffen machte. Der große und der kleine Kurdel glotzten sich gegenseitig in die gläsern vorspringenden Augäpfel und brüllten, daß ich eine Gänsehaut bekam. Dann standen sie auf, zerwühlten mit den Hinterpfoten den Boden und gingen ohne Eile davon, jeder in eine andere Richtung.  - Stanislaw Lem, Lokaltermin. Berlin  1985 (zuerst 1982)

Begegnung (57) Die Begegnung eines Mönches wird insgemein für kein gutes Zeichen gehalten, besonders aber, wenn sie in den Morgenstunden stattfindet, denn diese Menschengattung lebt meistens von Vermächtnissen, wie die Geier vom Aas.  - (nett)

 Begegnung (58)  „Aus Wien kommst du?" redete er mich an, „Schubert hatte nicht mal Handtuchgeld für Nutten. Geschichten aus dem Wimmerwald!", dann sang er und beeindruckte mich mit einer Art eingesprungener Sitzpiruette. Neben seinem Bett stand als Nachttisch ein Schwarz-weiß-Fernsehgerät, darauf als Schmuck ein weiteres Schwarz-weiß-Fernsehgerät. Beide Apparate waren eingeschaltet. Ein ostdeutsches Bildungsprogramm kämpfte gegen einen westdeutschen Zeichentrickfilm. Sonnenstern sagte: „Übers Fernsehn sieht man wie ich mit Picasso im Berliner Sportpalast ,alte Kameraden' dirigiere. Übers Fernsehn sagt der französische Staatspräsident, daß Friedrich der größte Jahrhundertkünstler ist. Das sind anerkannte Sacktaten. Jetzt muß ich nen Pups lassen. Dankeschön." - André Heller, aus: Friedrich Schröder Sonnenstern, Trostlied für Aus- und Angebombte. Hg. Gerhard Jaschke. Wien 1981

 Begegnung (59)  Ich sah einen Mann vor mir sitzen, der hatte auf seinen Knien eine Schachtel, darauf stand: Die Seerosen blühen. Darunter war noch eine Zeile, aber ich konnte sie nicht mehr lesen, weil ich aussteigen mußte. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er mich an, als ob er meine Frage nicht ganz verstanden hätte. - Friederike Mayröcker, Larifari. Ein konfuses Buch. In: F. M., Gesammelte Prosa 1949 bis 1975. Frankfurt am Main 1989 (zuerst 1967)

Begegnung (60)    Charlotte Corday  bat  dreimal darum, empfangen zu werden, um über eine Verschwörung in Caen zu berichten, und wurde am Abend schließlich vorgelassen. Sie hatte sich wie für ein Fest gekleidet, ihr Haar frisieren lassen und einen schwarzen Hut mit grünen Bändern aufgesetzt, den sie auf allen späteren Bildern trägt. Marat arbeitete, in der Wanne sitzend, an Artikeln für seine Zeitung und empfing so auch Besucher. Er wurde von Haut- und Gelenkleiden geplagt, die das Bad ein wenig linderte, und Besucher konnten von einem Hocker aus mit ihm sprechen. Die Begegnung zwischen Charlotte Corday und Jean Paul Marat war kurz. Sie berichtete von dem Aufstand in Caen, und Marat fragte sie nach Namen von Girondisten, die er alsbald auf die Guillotine schicken wolle, eine Aussicht, die ihn kichern ließ. Er schrieb sich ihre Namen auf, legte die Feder auf das Schränkchen neben der Wanne und muß dann das Messer gespürt haben. - A. J. Dunning, Extreme. Betrachtungen zum menschlichen Verhalten. Frankfurt am Main 1992

Begegnung (61)   

Begegnung (62)  Überall hörte ich in den versengten Büschen Geräusch — nicht die gleichmäßig ziehende Windung der Schlangen, sondern das kurze, wühlende Rascheln der Eidechsen. Von ihnen bergen die Balearen köstliche Spielarten. Nachdem ich ein wenig auf einem Stein gewartet hatte, kamen sie auch hervor — oft so dicht, daß sie mir fast über den Fuß hinwegglitten. Besonders ergötzte mich eine, die plötzlich auf einer Baumwurzel erschien, von der sie den Schwanz wie eine Schleppe herabwehen ließ. Als sie ihren Kopf ein wenig zur Sonne erhob, blitzte ihre Kehle wie ein blauer Lapis im Licht.

Solche Begegnungen rufen ein Erschrecken in uns hervor — eine Art von Schwindel wie ihn die unmittelbare Nähe der Lebenstiefe erweckt. Auch treten die Tiere meist so leise und unvermerkt, wie Zauberbilder, in unsere Wahrnehmung ein. Dann geben sie uns in ihren Figuren, Tänzen und Spielen Vorstellungen von höchst geheimer, zwingender Art. Es scheint, daß jedem Tierbild ein Signal in unserem Innersten entspricht. - (ej2)

Begegnung (63)  Natürlich träumte auch ich von nichts anderm als von einer Begegnung mit Ursula H'x, aber da mein Fall eine absolut parallele Gerade zu dem ihren befolgte, schien es mir verfehlt, einen durch und durch illusorischen Wunsch zu hegen. Wollte man optimistisch sein, blieb freilich immer noch die Möglichkeit, daß, sofern unsere Parallelen ins Unendliche weiterliefen, der Punkt kommen mußte, in dem sie sich treffen würden. Diese Möglichkeit genügte, um einige Hoffnung in mir zu nähren, ja: um mich in ständiger Erregung zu halten. Ich kann euch sagen, daß ich mir die Begegnung unserer Parallelen schon so gründlich und in allen Einzelheiten ausgemalt hatte, daß sie nunmehr ein fester Bestandteil meiner Erfahrung geworden war, ganz als hätte ich sie schon wirklich erlebt. Alles würde von einem Augenblick zum andern eintreffen, ganz einfach und natürlich: nachdem wir so lange getrennt nebeneinander hergefallen waren, ohne uns auch nur um eine Handbreit näherkommen zu können, und nachdem ich sie so lange als Fremde empfunden hatte, gefangen in ihrer parallelen Flugbahn, würde die Beschaffenheit des Raumes aus dem nicht greifbaren Zustand, in dem sie sich bis jetzt befunden hatte, fester und gleichzeitig weicher werden, eine Verdichtung der Leere, die anscheinend nicht von außen, sondern von innen, aus uns selbst heraus stammte, würde mich und Ursula H'x aneinanderpressen (schon brauchte ich nur die Augen zu schließen, um sie näherkommen zu sehen in einer Haltung, die ich als typisch für sie erkannte, wenn sie sich auch von allen ihren gewohnten Haltungen unterscheiden mochte: die Arme nach unten gestreckt und an den Seiten anliegend, die Handgelenke drehend, als recke sie sich und sei zugleich bestrebt, sich einem zu entwinden, was wiederum eine fast schlangenartige Weise war, sich vorwärtszubewegen), und dann würden die unsichtbaren Linien, die sie und ich durchmaßen, zu einer einzigen Linie werden, gebildet aus einer Verschmelzung zwischen ihr und mir, bei der, was weich und geheimnisvoll an ihr war, durchdrungen würde, oder auch vielmehr umschloß und einsaugte, was an mir so lange mit größerer Spannung darunter gelitten hatte, daß es allein war und isoliert und trocken. - Italo Calvino, Kosmokomische Geschichten. Frankfurt am Main 1969 (zuerst 1965)

Begegnung (64)    Bedenkt man, welch außerordentliche Wirkung im Geist des Lesers Lautréamonts berühmter Satz zeitigen kann: »Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«, und zieht man zur Deutung die einfachsten Sexualsymbole heran, so wird man sehr bald auf das Geheimnis der Wirkung kommen; der Regenschirm kann hier nur den Mann bedeuten, die Nähmaschine die Frau (wie übrigens die meisten Maschinen, wobei noch hinzukommt, daß Frauen die Nähmaschine, wie man weiß, häufig zum Onanieren verwenden) und der Seziertisch das Bett, das seinerseits Leben und Tod auf einen gemeinsamen Nenner bringt.  - André Breton, Die kommunizierenden Röhren. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1932)

Begegnung (65)  Als ich mich langsam der Madeleine zubewegte, näherte sich mir ein fünfzigjähriger, eleganter Herr, der seinem Äußeren nach ein Professor hätte sein können und der laut mit sich selbst zu reden schien; er trat auf mich zu und bat mich um einen Franc. »Monsieur«, sagte er zu mir, »machen Sie sich bitte einen Begriff von meiner Notlage. Ich habe nicht einmal das Geld für die Metro.« Ich betrachtete ihn mit Erstaunen. Man sah ihm diese Armut wahrhaft nicht an. Ich reichte ihm einen Zehn-Franc-Schein, er bedankte sich überschwenglich: »Sie können sich nicht vorstellen. Ich habe eben, auf diesem gleichen Boulevard, ein paar Meter weiter, meinen besten, meinen ältesten Freund getroffen. Er hat mir den Dienst verweigert, den Sie mir erweisen. Und übrigens, warum erweisen Sie mir diesen Dienst?« Er trat einen Schritt zurück, wie um mich recht zu sehen, und unvermittelt: »Monsieur, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich wünsche Ihnen, daß sie tun werden, was Sie tun müssen und was Sie tun können: etwas Großes.« Er entfernte sich. Ich bin nicht von Sinnen, und ich erzähle die Geschichte, wie sie mir zugestoßen ist. Ich setzte meinen Weg fort. Ich war kaum einige Schritte gegangen, da hielt ein Polizist mich an. Er wollte wissen, ob der Mann von vorhin mich um Geld gebeten hätte. Ich hatte die Geistesgegenwart, dies zu verneinen. Ein junger Mann neben ihm, den ich erst jetzt bemerkte, zeigte sich erstaunt. Mehrere Personen, zu denen er gehörte, waren so auf ungewöhnliche Weise geprellt worden. Ich dachte schon nicht mehr daran, als am nächsten Morgen Paul Eluard zu mir kam und, ohne daß ich ihm etwas von dem Zwischenfall mitgeteilt hätte, sich über Feuerbachs Konzeption von der Nächstenliebe abfällig äußerte. - André Breton, Die kommunizierenden Röhren. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1932)

Begegnung (66)  Conrad Gesner berichtet, zwei Ziegen seien sich mitten auf einer hohen, schmalen Brücke ohne Geländer begegnet; links und rechts gähnte ein tiefer Abgrund; an ein Rückwärtsgehen war nicht zu denken. Was tun? Nun, die eine Ziege legte sich ebenso ruhig wie vernünftig nieder und ließ die andere über sich hinwegsteigen; dann konnten beide ihres Weges ziehen. - (schen)

Begegnung (67)

Begegnung (68)    Ich fuhr als Junge eines Tages mit einer jener alten, leeren und klapprigen Straßenbahnen durch ein schreckliches Viertel im schrecklichen Rom (für die meisten eines der fröhlichsten), und da sah ich ihn, wie er mir auf dem Gehsteig entgegenkam: finster und trotzig, mit düsterem und zerfurchtem Gesicht, und er murmelte etwas vor sich hin. Was für ein Stich durch mein Herz, was für ein Schuldgefühl, welches Hin und Her zwischen Anziehung und Abstoßung! Er sah mich nicht, aber es war wie die Begegnung von zwei Hunden; und was das komischste ist, ich nahm es als solche wahr, das heißt, ich stellte es mir schon damals unter ebendiesem Bild vor. Jetzt ist es anders, und es ist doch das gleiche. — Aber genug davon, die Hand (ausnahmsweise nicht die physische) zittert mir, wenn ich von meinem Vater und mir spreche. - (land3)

Begegnung (69)  »Pamela, ich habe beschlossen, in dich verliebt zu sein«, sagte er.

»Und deshalb«, sie sprang auf, »schändet Ihr alle Geschöpfe der Natur?«

»Pamela«, seufzte der Visconte, »das ist die einzige Sprache, in der wir miteinander reden können. Jede Begegnung zweier Wesen auf der Welt ist ein Sichzerfleischen. Komm mit mir, ich weiß über dieses Übel Bescheid, und so bist du bei mir am besten aufgehoben; denn ich tue Böses wie alle anderen, doch zum Unterschied von ihnen habe ich eine sichere Hand.«

»Und werdet Ihr auch mich schänden wie die Gänseblümchen oder die Seerosen.«

»Ich weiß noch nicht, was ich mit dir anstellen werde. Gewiß werden mir, wenn ich dich erst besitze, Dinge möglich sein, die ich mir noch gar nicht vorstellen kann. Ich werde dich ins Schloß bringen und dich dort festhalten; kein anderer wird dich zu sehen bekommen, und wir werden dann Tage und Monate vor uns haben, um herauszufinden, was wir tun sollen, und uns immer neue Arten unseres Zusammenseins ausdcnken.«

Pamela lag ausgestreckt auf dem Strande, und Medardo hatte sich neben ihr hingekniet. Beim Sprechen gestikulierte er und umkreiste sie ganz nah mit der Hand, ohne sie jedoch zu berühren.

»Nun schön, zuerst muß ich wissen, was Ihr mit mir anfangen werdet. Und Ihr könnt mir gern schon jetzt davon eine Probe geben; dann werde ich entscheiden, ob ich ins Schloß kommen kann oder nicht.«

Der Visconte näherte Pamelas Wange seine zierliche und krumme Hand. Die Hand zitterte, und es war nicht ersichtlich, ob sie sich straffte, um zu streicheln oder um zu kratzen. - (vis)

Begegnung (70)

Begegnung (gespenstische)   Über das Geräusch des Regens und des Sturmes hinweg hörte der Geist das gleichmäßige Schnarchen des Gesandten der Vereinigten Staaten. Geräuschlos trat er durchs Getäfel der Wand, mit einem bösen Lächeln um seinen grausamen faltigen Mund, und der Mond verbarg sein Gesicht hinter einer Wolke, als der Geist sich am großen Erker vorbeistahl, wo seine und seiner gemordeten Frau Wappen in Azurblau und Gold gemalt hingen. Weiter und weiter schlich er sich wie ein grausiger Schatten, und die unheimliche Dunkelheit schien ihn voll Ekel anzustarren, während  er  durch  sie hindurchschritt.  Einmal glaubte er jemanden rufen zu hören und hielt inne; es war aber nur das Bellen des Hundes von der Roten Farm,  und so ging er weiter, murmelte seltsame Flüche des sechzehnten Jahrhunderts und stach in einem fort mit seinem rostigen Dolch in der Mitternachtsluft herum. Schließlich gelangte er an die Ecke des Ganges, an der er vorüber mußte, um in das Zimmer des unglücklichen Washington gelangen zu können. Er blieb hier ein wenig stehen; der Wind spielte mit seinen langen grauen Locken und wehte das namenlos schreckliche Grabtuch des toten Mannes zu grotesken und phantastischen Falten. Dann schlug es Viertel, und er glaubte seine Zeit gekommen. Frohlockend warf er sich in die Brust und ging um die Ecke; doch kaum war er so weit, als er mit einem jämmerlichen Schreckensschrei zurücksprang und sein erbleichtes Gesicht mit seinen langen knöchernen Händen bedeckte.

Gerade vor ihm stand ein riesiges Gespenst, regungslos wie ein geschnitztes Bild und unheimlich wie eines Irren Traum! Sein Kopf war kahl und poliert, sein Gesicht rund und dick und weiß; und gräßliches Gelächter schien seine Züge zu ewigem Grinsen verzerrt zu haben. Von seinen Augen strömten Strahlen purpurnen Lichts, der Mund war eine weite Feuerquelle, und ein grusliges Gewand, ähnlich dem seinen, hüllte schneeweiß die titanische Gestalt ein. Auf seiner Brust war ein Blatt Papier, auf dem mit Buchstaben uralter Herkunft etwas Fremdartiges stand, Zeilen der Schmach, wie es schien, eine Liste wilder Sunden, das furchtbare Verzeichnis von Verbrechen, und mit seiner rechten Hand hielt es ein schimmerndes stählernes Schwert empor.

Da er nun noch nie ein Gespenst gesehen hatte, war er natürlicherweise entsetzlich erschrocken und floh, nachdem er noch einen zweiten flüchtigen Blick auf das scheußliche Ungeheuer geworfen hatte, in sein Zimmer zurück. Dabei stolperte er, während er so den Korridor entlangsauste, ein paarmal, weil ihm das lange, ihn umhüllende Grabtuch unter die Füße kam, und schließlich warf er noch seinen rostigen Dolch in den Reitstiefel des Gesandten, wo ihn am Morgen der Diener fand.   - Oscar Wilde, Das Gespenst von Canterville, in: O. W., Lord Arthur Saviles Verbrechen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel 30, Hg. Jorge Luis Borges)

Begegnung (72)   Es war kein Gesicht, aus dem mir die Vergangenheit entgegensprang und mir zurief: Erinnere dich. Nichts dergleichen. Und trotzdem fiel der Mann mir unwillkürlich auf. Der Mann und die knapp geknotete Fliege unter seinem schmalen Kinn. Zwei Sekunden später vergaß ich ihn schon wieder und dachte an etwas anderes. Ich lief weiter und kam am Kino Rotary vorbei. Ohne stehenzubleiben betrachtete ich ein Filmplakat und schaute sofort wieder vor mich hin. Und da kam es zu dem Ereignis, das mich zum Erzählen dieser Geschichte veranlaßt hat. Das heißt, es kam zu dem Vorfall, der mich zuerst verwunderte und dann beunruhigte und schließlich den unstillbaren Wunsch in mir weckte, die Wahrheit herauszufinden. Ich schaute also wie gesagt vor mich hin, und da erblickte ich zum zweiten Mal den Mann, der ein paar Meter zuvor an mir vorübergegangen war. Verständlicherweise war ich überrascht. War der Mann schnell zwanzig oder dreißig Meter zurückgelaufen, um sich dann wieder in derselben Richtung wie zuvor zu bewegen? Möglich wäre es, aber doch sonderbar. Während ich noch über die merkwürdige Episode nachdachte, durchfuhr es mich wie eine Erleuchtung. Nein! Der Mann war ja anders angezogen! Ich hatte eigentlich nur sein Gesicht genauer registriert, aber beim ersten Mal trug er doch unzweifelhaft eine Fliege und nun eine helle Krawatte. Ganz sicher war ich mir nicht, aber mir kam es doch so vor, als sei diesmal auch sein Anzug anders. Natürlich erschrak ich bei der Entdeckung dieses Details, und mir wurde unbehaglich zumute. Um mich zu beruhigen, überlegte ich mir, es könnten ja zwei einander sehr ähnliche Männer oder Zwillinge gewesen sein; und das einzig Sonderbare sei dann, daß einer hinter dem anderen gelaufen wäre. Mit derlei Überlegungen beschäftigt, kam ich am Offizierskasino und danach an der Stelle vorbei, an der sich vor Jahren eine Boîte namens Charly befunden hatte. Es waren also nur noch wenige Meter bis zur Calle Maipú. Dort aber sah ich, nun schon tief betroffen, wie der Mann mir zum dritten Mal entgegenkam.

Beim dritten Mal war der Mann in einem tadellosen weißen Leinenanzug an mir vorbeigelaufen. Am selben Abend schlug ich, allein in meiner Wohnung, als nur noch die Reflexe der Neonlichter durch die Gardinen drangen und der Großstadtlärm allmählich verebbte, in mehreren wissenschaftlichen Abhandlungen nach. Ich las, daß es eine Selbsttäuschung des Gedächtnisses gibt, die darin besteht, daß der Betreffende das Seelenganze, das den gesamten aktuellen Inhalt seines Bewußtseins zu einem gegebenen Zeitpunkt ausmacht, bis ins letzte Detail wiederzuerkennen glaubt, so, als erlebe er einen bereits durchlebten Augenblick vollständig noch einmal. Nicht schlecht. Möglicherweise hatte ich also ein und denselben Augenblick mehrmals hintereinander erlebt. Warum kleidete der Mann sich dann aber um? War es doch nicht ein und derselbe Augenblick?  - Manuel Peyrou, Beinahe wäre es geschehen. In: Argentinische Erzählungen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel, Bd.2, Hg. Jorge Luis Borges)

Begegnung (73)  

Begegnung (74)  Die Prismen, Kugeln und konischen Gebilde, die nach geometrischer Vorstellung einander durchdringen, sind zwangsläufig luftig, leer, unstofflich. Nichts dergleichen könnte in der Wirklichkeit vorkommen.

Gleiches gilt für den Bergkristall, obwohl seine Struktur und Transparenz mit der Idealnatur der Geometrie übereinzustimmen scheint. Begegnen zwei Nadeln einander, so macht die zuletzt angelangte, vielleicht auch diejenige, deren Wachstumskraft geringer ist, der ersten beziehungsweise kräftigeren am Kreuzungspunkt Platz; sie gleicht ihre Form der Form an, die sie aufhält, oder sie umgeht sie oder teilt sich gar in zwei Zwillingsäste, eine funkelnde Gabel, die sich zu beiden Seiten des Hindernisses fortentwickelt.  - (cail)

Begegnung (75)

- N.N., Wikimedia

Begegnung (77)

"

- Paul Klee

Begegnung (78)

- Paul Rumsey

Begegnung (der dritten Art)

- N.N.

Begegnung (80)  

 - Unica Zürn, Das Weiße mit dem roten Punkt. Texte und Zeichnungen. Frankfurt am Main - Berlin 1988

Begegnung (81)  

- Francois Berthoud

Begegnung (82) Er war sicher, daß sich jemand in seiner Nähe befand. Mühsam drehte er sich auf den Rücken.

Zunächst glaubte er einfach nicht, was er sah. Zwei Meter neben  Zwei Meter neben ihm, an eine Eiche gelehnt, blickte der junge Soldat, dessen Gesicht ihm so zuwider war, auf ihn herab. Er war völlig nackt. Sein schlanker Körper glänzte in der Abendsonne. Mit ausdruckslosen, vagen Augen starrte er den Hauptmann an wie ein fremdes, nie gesehenes Insekt. Der Hauptmann war so verdutzt, daß er sich nicht rührte. Er wollte etwas sagen, aber nur ein trockenes Rasseln drang aus seiner Kehle. Während er den Soldaten beobachtete, schaute dieser zu dem Pferd hinüber. Feuervogel war immer noch schweißnaß, und Striemen liefen über sein Fell. An einem einzigen Nachmittag war aus dem übermütigen Vollblut ein müder Ackergaul geworden.

Der Hauptmann lag zwischen dem Soldaten und dem Pferd. Der nackte Mann nahm sich nicht die Mühe, um den ausgestreckten Körper herumzugehen, sondern schritt von seiner Eiche geradewegs über den Offizier hinweg. Der Hauptmann sah einen Augenblick lang den nackten Fuß des jungen Soldaten dicht vor seinen Augen; es war ein schmaler, wohlgeformter Fuß mit einem hohen Spann. Der Soldat band das Tier los und legte ihm die Hand liebkosend auf das weiche Maul. Dann, ohne einen Blick nach dem Hauptmann, führte er es in den dichten Wald hinein.  - Carson McCullers, Spiegelbild im goldenen Auge. Zürich 1974 (zuerst 1941)

Begegnung (83)

- Alfred Kubin

Begegnung (84)

- N. N.

Begegnung (85)

- Paul Delvaux

Begegnung (86)

- Félicien Rops

Begegnung (87)  Sie kamen an eine riesige silberne Säule, die im Meer stand. Sie hatte acht Seiten, und jede Seite war etwa so breit wie das Blatt eines Ruders. Die Säule erhob sich aus dem Meer, ohne daß da eine Insel gewesen wäre, und sie konnten auch nicht ihren Fuß im Wasser darunter ausmachen, noch sahen sie ihr oberes Ende in der Höhe.

Ein silbernes Netz hing von ihr ins Wasser herab, und die Maschen des Netzes waren so groß, daß ein curragh unter vollen Segeln hindurchfahren konnte. Als sie vorüberfuhren, berührte Diuran eine Masche mit der Speerspitze und hieb mit einem Schlag seines Schwertes ein Stück davon ab. »Besser, du zerstörst dieses Netz nicht«, sagte Maildun, »denn mich dünkt, was du da siehst, ist das Werk eines großen Künstlers.« »Was ich getan habe«, rechtfertigte sich Diuran, »geschah zu Ehren des Gottes, an den ich glaube und damit man unsere Abenteuergeschichte uns auch glaubt. Ich will das Silber auf den Altar der Kirche von Armagh legen, wenn wir je wieder nach Erin zurückkehren sollten.« Das Stück Silber wog zweieinhalb Unzen, wie später die Leute in Armagh feststellten.

Danach hörten die Gefährten, wie jemand auf der Spitze der hohen Säule redete, aber sie verstanden nicht recht, was er sagte, noch konnten sie ausmachen, in welcher Sprache er sprach.   - (anders)

Begegnung (88)  Die Frage ist nun, was passiert, wenn wir auf einen unserer Doppelgänger treffen. Man könnte meinen, das wäre nur eine Art Schattenboxen mit einem Spiegelbild, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass unser Doppelgänger genauso reagieren wird wie wir selbst. Es mag sein, dass wir bis zum Moment der Begegnung die gleichen Vergangenheiten hatten, aber in der neuen Situation könnten wir doch beide etwas unterschiedlich handeln - vielleicht wie eineiige Zwillinge. In der Zukunft würden sich unsere Erfahrungen und Entscheidungen immer mehr unterscheiden. Es ist in der Tat wahrscheinlicher, dass unsere Wege in der Zukunft auseinander laufen und nicht parallel nebeneinander her. Irgendwo im unendlichen Universum muss es dann Kopien von uns (und unseren Doppelgängern) geben, die sich exakt gleich entscheiden und mit uns in jeder Hinsicht identisch sind. Es scheint sogar, dass sich auch irgendwer, der exakt die gleiche Vergangenheit wie wir hat, gerade für eine der anderen Optionen entscheidet, sodass jede denkbare Entscheidung, die wir hätten treffen können, irgendwo von irgendwem getroffen wird.  - (bar2)

Begegnung (89)  Die Backbordwache hatte von Mitternacht bis um vier Uhr Freiwache, als Blunt sich plötzlich gegen drei Uhr wieder erhob, weil er einen erstaunlichen Traum im Kopf hatte, den er sofort gedeutet haben wollte.

So ging er an seine Kiste, holte sein Werkzeug hervor und begann auf seinem Deckel zu rechnen, als plötzlich ein furchtbarer Schrei ertönte, der ihn und alle anderen aufscheuchte, so daß die gesamte Schiffsmannschaft im Dunkeln auf Deck stürzte. Wir wußten nicht, was los war, aber irgendwie haben Matrosen auf See, selbst im Schlaf, ein Gefühl dafür, wenn wirkliche Gefahr irgendwelcher Art droht.

Als wir auf Deck kamen, sahen wir den Maat auf dem Bugspriet stehen und irgend jemandem auf dem dunklen Wasser voraus „Luv! Luv!" zuschreien. In dieser Richtung vermochten wir gerade ein kleines Licht auszumachen, und dann sahen wir den großen schwarzen Rumpf eines fremden Schiffes, das unmittelbar auf uns zulief und so nahe war, daß wir das Schlagen der Marssegel hören konnten, wie sie im Winde killten, das Trampeln der Füße auf Deck und den gleichen Schrei „Luv! Luv!", wie ihn unser Maat ausstieß.

In der nächsten Minute stockte mir der Atem, und ich hörte einen Stoß und ein Krachen wie das Stürzen eines Baumes, und plötzlich riß einer unserer Außenklüver aus den Bolzen am Kranbalken, und dann horten wir unseren Klüverbaum gegen unseren Bug schlagen.

Inzwischen schor das fremde Schiff, das uns so gestreift hatte, in die Dunkelheit davon, und wir sahen nichts mehr von ihm.   - Herman Melville, Redburn. Seine erste Reise. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

Begegnung (90)

- N.N.

Begegnung (91)  Die gelben Gasflammen stiegen vor seinem getrübten Blick gegen den nebligen Himmel, brannten wie vor einem Altar. Vor den Türen und in den erleuchteten Fluren standen Gruppen zusammen, wie zu irgendeinem Ritus geschmückt. Er war in einer anderen Welt, war aufgewacht aus einem Schlummer, der Hunderte von Jahren gedauert hatte.

Mitten auf der Straße blieb er stehen; wild klopfte ihm das Herz in der Brust. Ein junges Weib in langem rosa Kleid legte den Arm auf seine Schulter, hielt ihn fest, sah ihm ins Gesicht. Sie sagte fröhlich: »Guten Abend, Willy.«

Ihr Zimmer war warm und hell. Eine große Puppe saß mit gespreizten Beinen In dem großen Lehnstuhl neben dem Bett. Er versuchte, seine Zunge zum Sprechen zu zwingen, wollte so den Eindruck der Unbefangenheit machen; während sie das Kleid auszog, beobachtete er sie, merkte wohl die stolzen, selbstbewußten Bewegungen ihres duftenden Kopfes.

Da er wortlos mitten im Zimmer stehen blieb, kam sie zu ihm, umarmte ihn fröhlich und feierlich.  - James Joyce, Jugendbildnis des Dichters. Frankfurt am Main 1967 (zuerst 1916)

Begegnung (91)  

Begegnung (93)  Man hat die Frage aufgeworfen, was zwei Menschen, die in der Wildniß, jeder ganz einsam, aufgewachsen wären und sich zum ersten Male begegneten, thun würden: Hobbes, Pufendorf, Rousseau haben sie entgegengesetzt beantwortet. Pufendorf glaubte, sie würden sich liebevoll entgegenkommen; Hobbes hingegen, feindlich; Rousseau, sich schweigend vorübergehn.  - (schop)

Begegnung (94) Jegoruschka schaute nach oben. Und so unerwartet war das, was er dort zu sehen bekam, daß er sogar ein wenig erschrak. Zu seinen Häupten stand auf einem der großen unförmigen Steine der kleine Knabe, nur im Hemd, der gleiche, den er vorher unweit des Weibes hatte stehen sehen, rundlich, mit großem hervortretendem Bäuchlein und mit dünnen Beinchen. Voll stumpfer Verwunderung und nicht völlig frei von Furcht, ganz so, als erblicke er vor sich Erscheinungen aus dem Jenseits, betrachtete er, ohne zu zwinkern und mit weit offenem Munde Jegoruschkas roten Baumwollkittel und die Kalesche. Wahrscheinlich lockte und erfreute ihn die rote Farbe des Kittels, während der Wagen und die darunter schlafenden Leute seine Neugier zu wecken schienen; es mochte sein, daß er selbst nicht einmal gemerkt hatte, wie ihn die angenehme rote Farbe und die Neugier aus der Siedlung nach unten gezogen hatten, und jetzt mußte er wahrscheinlich selber über seine eigene Verwegenheit staunen. Jegoruschka betrachtete ihn lange, und ebenso betrachtete er Jegoruschka. Beide schwiegen und empfanden eine gewisse Verwirrung. Nach einem langen Schweigen fragte Jegoruschka: »Wie nennt man dich?«

Die Backen des Unbekannten schienen noch mehr aufzuschwellen; er preßte sich mit dem Rücken an einen Stein, glotzte und bewegte die Lippen, wobei er mit heiserem Baß erwiderte: »Tit.«

Und mehr hatten die beiden Buben einander nicht zu sagen. Nach einem weiteren kurzen Schweigen hob der geheimnisvolle Tit, ohne die Augen von Jegoruschka zu lassen, erst ein Bein hoch, tastete mit der Ferse nach einem Stützpunkt und erklomm hierauf den Stein; von dort schwang er sich, immerzu nach hinten sichernd und Jegoruschka fest anschauend, als fürchte er, daß dieser ihm von hinten eins versetzen könnte, auf den nächsten. Stein, und auf diese Weise kletterte er so lange, bis er völlig hinter dem Gipfel der Anhöhe verschwunden war.   - Anton Tschechow, Die Steppe. Nach (tsch)

Begegnung (95)

Begegnung (96)

- Fotostudio Manassé, ca. 1930

Begegnung (97)

  - N.N.

Begegnung (98) Am Horizont, gleichsam als wäre es ein Wirbelsturm oder eine Windhose, ragte plötzlich von der Erde bis zum Himmel eine schwarze Säule empor. Ihre Umrisse waren nicht klar zu erkennen, allein vom ersten Augenblick an war deutlich zu beobachten, daß sie nicht auf der Stelle verharrte, sondern sich mit rasender Schnelligkeit vorwärts bewegte, immer geradeaus, direkt auf Kowrin zu, und daß sie beim Nahen immer kleiner und deutlicher wurde. Kowrin sprang zur Seite in den Roggen, um ihr auszuweiclieii, und vermochte es kaum schnell genug zu tun...

Ein Mönch in schwarzem Gewände, die Haare grau und die Brauen schwarz, glitt mit über der Brust gekreuzten Armen vorüber ... Seine bloßen Füße berührten die Erde nicht. Er war bereits etwa drei Klafter weiter, da schaute er sich nach Kowrin um, nickte ihm zu und lächelte freundlich und doch irgendwie voll listiger Schläue. Allein was für ein blasses, entsetzlich blasses und hageres Antlitz! Nun ward es wieder größer, er schwebte über den Fluß, stieß unhörbar an das lehmbraune Ufer und an die Fichten und entschwand, zwischen diesen vergleitend, wie Rauch.  - Anton Tschechow, Der schwarze Mönch, nach (tsch)

Begegnung (99)  Wie die drei Männer im Schilfdickicht, die Füße im Wasser, unbeweglich beieinanderstanden, sahen sie aus dem Wald oben in die Lichtung Gestalten, die sie zum Erstarren brachten, hervortreten. Sie hatten die Erscheinung von Menschen, aber waren an Leib und Arm und Beinen mit bunten Stoffen bedeckt, ihre Gesichter und Hände waren weiß wie Fischschuppen, und dem Größten hingen dunkle Haare um die Backen und das Kinn. Jeder trug einen Gurt, an dem ein dünner Stab hing, über der Schulter blickte jedem ein Kolben. Was die drei entsetzlichen Gestalten, die aus dem Wald getreten waren, sprachen, verstanden die im Schilf nicht. Es waren unbekannte Geister. Die drei warfen sich auf den Boden, legten ihre Stäbe hin, schnarrten, brummten, knurrten, taten wie Menschen, die erschöpft waren. Dann stand der eine Unheimliche mit dem schwarzen Bart auf, ein anderer folgte, sie stiegen die Böschung zum See herunter, das Wasser hatte es ihnen angetan. Sie stellten sich nebeneinander unten hin, knieten, legten sich auf den Bauch, und, der Schreck ließ die Fischer im Schilf nicht los, die Gestalten fingen an, vom Seewasser zu trinken, schlürfend wie Verdurstende. Diese wagten Giftwasser zu trinken, sie konnten es, sie hatten es vielleicht auf die Fische abgesehen, wollten das Sipo unwirksam machen.

Jetzt zuckten die beiden am See hoch, spien vor sich im Schwall, richteten sich auf, stöhnten, würgten, taumelten zurück, suchten davonzulaufen. Aber es hielt sie fest. Noch vor dem Fuß der Böschung wurden sie um sich gedreht, drehten sich am Boden. Dann lagen sie ohne Bewegung in ihren bunten Stoffen, der mit dem Bart auf dem Gesicht, der andere auf der Seite. Als die dritte Gestalt von oben herunterlief, sprangen, so leise sie konnten, die Fischer aus dem Schilf. Einer nach dem ändern klatschte ins Boot. Wie einen Zauber sah der am Ufer dunkle Leute in der Nähe fahren, durch die Pfähle gleiten, davonrudern.   - Alfred Döblin, Amazonas-Trilogie. Bd.1, Land ohne Tod. München 1991

Begegnung (100)  

- Apollonia Saintclair

Begegnung (101)  

Begegnung (102)  

- N.N.

Begegnung (103)  Als aus einem Haus diese große Rothaarige herauskam und im selben Augenblick ein nackter Jüngling und als ich ihm zurufen wollte: wo gibt's denn so was!, da öffnete er für mich ein buntscheckiges Flügelpaar und verschwand zwischen den Dächern. Das Mädchen aß eine Knoblauchzehe, und ich, mein Veilchen zwischen Daumen und Zeigefinger . . . Dann folgte ich ihr, nicht weil ich sie besonders begehrenswert fand, außerdem schielte sie, ich folgte ihr mehr wegen dieses wunderlichen Herrn, der nur seine Federn als Bekleidung hatte, und auch wegen des Veilchens, obgleich, kurz, ich folgte ihr bis zu den Hallen, und jetzt merke ich, daß ich das Wesentliche und Komische der Geschichte vergessen habe.   - (lib)

Begegnung (104)  

- Thomas Bush Hardy

Begegnung (105)  

- N. N

Begegnung (106)   Cosimo blickte hinab. An einem großen Baum in seiner Nähe war eine Schaukel befestigt, auf der ein ungefähr zehnjähriges Mädchen saß.

Es war ein blondes Mädchen mit hochgekämmtem Haar, was in Anbetracht seines Alters etwas komisch aussah; auch das blaue Kleid wirkte zu erwachsen, und der beim Schaukeln hochgeraffte Unterrock war überreich mit Spitzen besetzt. Die Kleine hatte die Augen halb geschlossen und hielt die Nase in die Luft, als sei sie gewohnt, die große Dame zu spielen; sie  knabberte an einem Apfel und neigte bei jedem Biß den Kopf , der Hand entgegen, die den Apfel umklammern und sich zugleich am Seil der Schaukel festhalten mußte; jedesmal, wenn die Schaukel den Tiefpunkt ihrer Bahn erreichte, stieß sie sich ab, wobei sich die Spitzen ihrer Schuhchen ins Erdreich bohrten, und blies sich die Schalenreste der verzehrten Apfelstücke von den Lippen; zugleich sang sie: »O la la la... O la balançoire...«, wie ein kleines Mädchen singt, das sich aus Schaukel und Lied und Apfel schon nichts mehr macht (wenn ihm auch der Apfel noch etwas wichtiger ist) und das bereits andere Gedanken im Kopfe hat. Cosimo hatte sich vom Gipfel der Magnolie bis zur untersten Astreihe hinuntergelassen, und nun stand er mit seinen Füßen auf je einer Astgabel und stützte beide Ellbogen auf einen vor ihm liegenden Ast, wie auf ein Fensterbrett. Die Schwünge der Schaukel trugen ihm das Mädchen bis dicht unter die Nase.

Sie gab nicht acht und hatte ihn nicht bemerkt. Auf einmal sah sie ihn dort, aufrecht auf dem Baume, mit Dreispitz und Gamaschen. »Oh!« sagte sie. Der Apfel fiel ihr aus der Hand und rollte unter die Magnolie. Cosimo zückte seinen Degen, neigte sich vom letzten Ast hinunter, erreichte den Apfel mit der Degenspitze, spießte ihn auf und streckte ihn dem Mädchen hin, das inzwischen die ganze Schaukelstrecke durchmessen hatte und sich an der gleichen Stelle wie eben befand. »Nehmen Sie ihn nur, er ist nicht schmutzig geworden, nur auf der einen Seite etwas eingedrückt!«

Das blonde Mädchen bereute bereits, daß es über den unbekannten kleinen Jungen dort auf der Magnolie so verdutzt gewesen war, und hatte seine hochnäsige Haltung wieder eingenommen. »Sind Sie ein Dieb?« fragte es.

»Ein Dieb?« sagte Cosimo gekränkt; dann dachte er darüber nach: In gewisser Hinsicht gefiel ihm der Gedanke. »Ja, das bin ich«, antwortete er und zog sich den Dreispitz über die Stirn. »Haben Sie etwas dagegen?«

»Und was wollen Sie hier stehlen?«

Cosimo betrachtete den Apfel, den er auf die Spitze seines Degens gespießt hatte; dann fiel ihm ein, daß er hungrig war und bei Tisch kaum eine Speise angerührt hatte. »Diesen Apfel«, sagte er und begann, ihn mit der Klinge seines Degens zu schälen, die er entgegen den häuslichen Verboten stets äußerst scharf zu halten pflegte.

»Dann sind Sie also ein Obstdieb«, bemerkte die Kleine.  - Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen. München 1984 (zuerst 1957)

Begegnung (107)  

- Apollonia Saintclair

Begegnung (108)  

Begegnung (109)   Es handelt sich um einen makabren, ziemlich melancholischen und sanften Traum. Mein Vetter Rafael Saura ist schon lange tot, das weiß ich, und dennoch treffe ich ihn plötzlich in einer leeren Straße. Überrascht frage ich ihn: „Was machst du denn da?" Er antwortet traurig: „Ich komme täglich hier vorbei." Plötzlich bin ich in einem dunklen Haus, unordentlich und voller Spinnweben, in das ich Rafael habe eintreten sehen. Ich rufe ihn, er antwortet nicht. Ich gehe wieder hinaus und rufe jetzt auf derselben leeren Straße nach meiner Mutter: „Mutter, Mutter, was machst du denn hier unter den Schatten?"   - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

Begegnung (110)

Begegnung (111)   Ich werde es nicht kapieren, wie sehr ich es auch versuche. Sagen wir, es war ein Mädchen in Schwarz, der ich eine Tür zur Straße offenhielt. Lassen wir es dabei bewenden. Eine Stunde davor sah ich einen Mann, den ich mehr mochte sehr viel mehr. Aber es ist nicht so leicht, darüber hinwegzugehen. Vollkommenheit ist keine Sache, die du so leicht vorüberziehen läßt. Was für ein Körper. Die kleinen abgeflachten Hinterbacken; das Beben des Fleisches unter dem geschmeidigen Stoff! Aaaah! nicht, daß ich mit dir ins Bett gehen will. In der Tat was kann man da schon sagen? außer daß der Verstand manchmal eine fragwürdige Nereide ist und Fleisch eine zumindest ebenso gute Gaze, wie es Wörter sind: etwas in dieser Art. Etwas von mir - dir - Herzen auf der Zunge? Ah zut was soll's? Es ist nicht so, als hätte ich sie wieder verloren. Ohnehin ist es schwierig, Gewinn von Verlust zu unterscheiden.  - (kore)

Begegnung (112)   

Begegnung (113)   Die Kollision der Andromeda- und Milchstraßen-Galaxie ist ein vorausgesagtes astronomisches Ereignis. Die Kollision wird in einigen Milliarden Jahren erwartet.

 

Die Milchstraße hat ca. 100 bis 300 Milliarden Sterne, welche etwa 400 Milliarden Sonnenmassen wiegen. Die Andromeda-Galaxie wiegt 800 Milliarden Sonnenmassen und beinhaltet 1000 Milliarden Sterne. Beide Galaxien sind die schwersten der lokalen Gruppe.

Da sich beide Galaxien mit einer Radialgeschwindigkeit vrad von etwa 120 km/s aufeinander zu bewegen, bestimmt die Tangentialgeschwindigkeit vtan, ob eine Kollision stattfinden wird. Bei vtan ˜ vrad bilden die beiden Systeme ein gravitativ gebundenes System. Bei einem Wert von vtan unter 40 km/s ist eine Kollision zu erwarten.

Aufgrund der hohen Komplexität des Problems sind Vorhersagen zu dem genauen Verlauf des Ereignisses sehr schwierig. Es ist unwahrscheinlich, dass einzelne Sterne direkt miteinander kollidieren, da die Entfernungen zwischen den Sonnensystemen sehr groß sind. Es gibt unterschiedliche Schätzungen für den Kollisionszeitraum.

Das Ereignis beginnt laut Schätzung der NASA in 3 bis 4 Milliarden Jahren und dauert etwa 3 Milliarden Jahre bis zur Ausbildung des Verschmelzungsprodukts. Computersimulationen zeigen, dass eine elliptische oder eine Polarring-Galaxie entstehen würde. Die Dreiecksgalaxie könnte ebenso mit beiden Galaxien fusionieren, wenn diese sich aufeinander zu bewegen.

Ein Name für das Fusionsprodukt beider Galaxien wurde von Cox-Loeb mit „Milkomeda“ entworfen. Es setzt sich aus Andromeda und Milky Way (englisch für Milchstraße) zusammen.  - Wikipedia

Begegnung (114)  Sie machte sich klar, daß sie schon eine ganze Weile dicht hinter einer ungeschlachten Gestalt herging, einem Mann in einem Umhang. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb vor einem kleinen Bäckerladen stehen, der nach der Straße zu offen war und auf dessen Ladentisch eine Öllampe brannte. Pellegrina kam auf gleiche Höhe mit dem Mann und blieb neben ihm stehen; bevor er weiterschritt, in den Kreis Helligkeit hinein, seufzte er tief, immer noch unkenntlich in der Dunkelheit ringsum. Dann aber, als der Lichtschein auf ihn fiel, sah sie, daß es ein sehr alter Mann war, mächtig gebaut; sein Gesicht war ohne Runzeln, es war eher verhärtet und gleichsam glattgerieben, wie ein großer, alter, gelber Knochen, und die Augen waren ausgebleicht. Der Gedanke schoß ihr durch den Kopf, wie es ihr mit zwölf Jahren mutwillig hätte in den Sinn kommen können: ›Das ist ein ertrunkener Matrose, der schon, lang im Wasser war. Er steht aufrecht, weil sie ihm nach Seemannsart ein Gewicht an die Füße gebunden haben. Aber er schwankt noch ein bißchen, das macht die Strömung.‹  - Tania Blixen, Widerhall. Letzte Erzählungen. München 1968

Begegnung (115)  

- N. N.

Begegnung (116)  Acht Tage lang kämpften wir in unserem Einbaum gegen eine Strömung, die durch die täglichen Regenfälle immer stärker wurde. Als wir einmal an einem kleinen Strand zu Mittag aßen, hörten wir ein Rascheln: es kam von einer sieben Meter langen Boa-Schlange, die wir mit unserem Gespräch aufgeweckt hatten. Mehrere Kugeln waren nötig, um sie zu erledigen, denn diesen Tieren machen Wunden am Körper nichts aus: man muß den Kopf treffen. Als wir sie ausnahmen - was einen halben Tag in Anspruch nahm -, fanden wir in ihrem Leib ein Dutzend Junge, die schon lebendig waren, aber an der Sonne eingingen. Und eines Tages, als wir gerade mit Erfolg eine irara, eine Art Dachs, erlegt hatten, erblickten wir zwei nackte Gestalten am Ufer; unsere ersten Bororo. Wir nähern uns ihnen und versuchen, mit ihnen zu sprechen: sie kennen nur ein einziges portugiesisches Wort: fumo, Tabak, das sie sumo aussprechen (behaupteten nicht die alten Missionare, die Indianer seien sans foi, sans loi, sans roi - ohne Glauben, ohne Gesetz, ohne König -, weil in ihrer Phonetik weder f noch l noch r vorkamen?).  - (str2)

Begegnung (117)   Ich habe einen entsetzlichen Durst, der mich ganz vergessen läßt, daß mir vielleicht gleich eine der gefährlichen englischen Handgranaten entgegenfliegenwird, und daß ich von dem dicht besetzten Hohlweg nur durch einen schmalen Erdwall geschieden bin. Ich gehe wie in einem Traum auf den Laufrosten entlang und stoße plötzlich auf einen riesigen Kerl, der der Länge nach im Graben liegt. Aha, das scheint der Richtschütze gewesen zu sein. Und diesen Schuß, der ihm durch beide Schläfen gefahren ist, kann ich auf meine Rechnung setzen. Er hat ihm ein Auge aus der Höhle getrieben. Und dort, über ihm auf der Brustwehr, steht auch das Maschinengewehr, mit dem er, solange es ging, unter uns gewütet hat. Es ist fast ganz von einem blitzenden Berge ausgeschossener Hülsen bedeckt. Noch zittert die Luft über dem glühheißen Lauf.

Der herkulische Geselle mit dem großen, blendendweißen Augapfel vor dem wilden, ganz von Rauch geschwärzten Schmiedegesicht sieht schauerlich aus. Nur mit Widerstreben trete ich über ihn hinweg. Aber vor allem Wasser, ich verschmachte vor Durst. Ich gehe einige Schritte weiter und komme an einem Stolleneingang vorbei. Vielleicht, daß es da unten etwas zu trinken gibt. Aber wie fahre ich zusammen, als ich auf der untersten Stufe einen Engländer sitzen sehe, der sich nicht im mindesten um meine Anwesenheit zu kümmern scheint. Er ist eifrig damit beschäftigt, einen Munitionsgurt über seine Knie zu ziehen und hier und da eine lockere Patrone einzureihen.  - Ernst Jünger, Feuer und Blut. Hamburg 1929

Begegnung (118)

- Federico Fellini

Begegnung (119)   Bills erwachsener Sohn Merrill, ein ehemaliger Fremdenführer und Eisenbahner, rührte in Gegenwart seines Vaters keine Zigarette an. Einmal fragte Flossie Bill: »Bill, wenn du mir im Wald begegnen würdest, was würdest du dann tun?«

»Nun«, sagte Bill, »ich würde dich nicht erschießen.«  - (wcwa)

Begegnung (120)  

- Richard Müller [?]

Begegnung (121)  

Begegnung (122)   Ich habe die Absicht, mich zu Fuß zur »Nouvelle France« zu begeben, wo Nadja um halb sechs Uhr sein soll; um nicht zu lange umherzuschlendern, gehe ich gegen vier Uhr weg. Gerade die Zeit, um einen Umweg über die Boulevards zu machen: nicht weit von der Oper muß ich in einem Laden meinen reparierten Füllfederhalter abholen. Gegen die Gewohnheit gehe ich auf dem rechten Trottoir der Rue de la Chaussée-d'Antin. Ich schicke mich an, den Passanten auszuwei-chen, und unter den ersten ist Nadja, in ihrem Aussehen wie am ersten Tag. Es zeigt sich, daß sie ganz unfähig ist, ihre Anwesenheit in dieser Straße zu motivieren, und um längere Fragen abzuschneiden, behauptet sie, holländische Bonbons zu suchen. Schon haben wir, ohne Absicht,kehrtgemacht und treten in das nächstbeste Café ein. Nadja wahrt mir gegenüber einen gewissen Abstand, zeigt sich sogar mißtrauisch. So dreht sie meinen Hut um, zweifellos um die Initialen auf dem Futter zu lesen, obwohl sie es angeblich mechanisch macht, aus der unbewußten Gewohnheit, die Nationalität gewisser Männer festzustellen. Sie gesteht, daß sie nicht zum vereinbarten Rendezvous kommen wollte. Als ich sie traf, hatte ich bemerkt, daß sie in der Hand das Exemplar der Pas Perdus hielt, das ich ihr geliehen habe. Jetzt liegt es auf dem Tisch, und mit einem Blick auf den Schnitt sehe ich, daß nur ein paar Blätter aufgeschnitten sind. Es sind die des Aufsatzes mit dem Titel: »Der neue Geist«, wo ganz genau eine auffallende Be­gegnung erzählt wird, die Louis Aragon, André Derain und ich eines Tages im Abstand von ein paar Minuten hatten. Die Unentschlossenheit, die jeder von uns bei dieser Gelegenheit bewies, die Verwirrung, mit der wir uns ein paar Augenblicke später an einen Tisch setzten, um zu charakterisieren, womit wir es eben zu tun hatten, dieser einzigartige mystische Ruf, der es Aragon und mir notwendig erscheinen ließ, an dieselben Stellen wieder zurückzugehen, wo uns diese wirkliche Sphinx in den Zügen einer bezaubernden Frau erschie­nen ist, die von einem Trottoir zum anderen ging und an die Passanten Fragen stellte, diese Sphinx, die uns einen nach dem anderen ausließ, so daß wir auf der Suche nach ihr die Linien eiitlangliefen, die diese Punk­te ihrerseits sehr launenhaft verbanden, die Ergebnis­losigkeit dieser Verfolgung, der die verstrichene Zeit jede Hoffnung nahm - auf das ist Nadja sofort zugegangen. Sie ist erstaunt und enttäuscht darüber, daß ich glaubte, der Bericht der flüchtigen Ereignisse an die­sem Tag könne einen Kommentar entbehren. Sie drängt mich, daß ich mich über den genauen Sinn ausspreche, den ich ihm beimesse, und, da ich ihn veröffentlicht habe, über den Grad der Objektivität, den ich ihm zu­billige. Ich muß antworten, daß ich darüber nichts weiß, daß mir auf einem solchen Gebiet einzig und allein das Recht der Feststellung erlaubt scheint und daß im Falle eines Mißbrauchs des Vertrauens ich selbst das erste Opfer gewesen bin; aber ich merke wohl, daß sie es mir nicht erläßt, in ihrem Blick lese ich die Un­geduld, dann Bestürzung. Vielleicht glaubt sie, daß ich lüge: eine starke Verlegenheit bleibt zwischen uns bestehen. - André Breton, Nadja. Frankfurt am Main 1984 (BS 406, zuerst 1928)

Begegnung (123)  Kurz hinter Poitiers verlor Bruno die Kontrolle über sein Fahrzeug. Der Peugeot 305 geriet ins Schleudern, rutschte über die halbe Fahrbahn, streifte die Leitplanke und blieb stehen, nachdem er sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte. »Verdammte Scheiße!« fluchte er dumpf, »so ein Mist!« Ein Jaguar, der mit 220 Stundenkilometern angerast kam, bremste heftig, wäre um ein Haar gegen die andere Leitplanke geprallt und fuhr wild hupend davon. Bruno stieg aus, reckte seine Faust und brüllte »Arschloch!« hinter ihm her, »du verdammtes Arschloch!«Dann wendete er den Wagen und fuhr weiter.  - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001 (zuerst 1998)

Begegnung (124)  Etwa auf halbem Weg machte die Straße nach Watertown auf dem Gipfel eines steilen Berges eine scharfe Doppelkurve, und dort traf sie den Leoparden; sie hatte wegen der Kurve heruntergeschaltet und fuhr nur etwas über dreißig Stundenkilometer. Zuerst sah sie die Augen, glühendrot; automatisch blendete sie die Scheinwerfer ab, hielt an und schaltete den Motor ab. Der Leopard, der auf der schmalen, von hohen Böschungen gesäumten Straße kauerte, schien unentschlossen, in welche Richtung er flüchten sollte. Sein Schwanz schwang hin und her, blitzte schwarz und golden auf; mißmutig wegen der Scheinwerfer knurrend, starrte er sie an, und sie starrte zurück, wie gebannt, vergaß sich selbst, ihre Umgebung, das Gefühl, das sie beherrschte. Nach einer endlos erscheinenden Weile gähnte der Leopard, wandte ihr seine Seite zu, erhob sich, lief ein Stück die Böschung hinauf und wieder herunter und verschwand über den Gipfel im Dunkel. Nicht ganz ohne Anstrengung, wie Eleanor bemerkte, deren professionelle Gewohnheit, alles genau zu beobachten, selbst stärker war als die Erregung, mit der sie diese Begegnung erfüllte; es gab keinen Zweifel, daß die Bestie vor kurzem etwas Schweres gefressen hatte; ihr Bauch hing tief herab. Hoskins hatte offenbar bezüglich seiner Schafe die Wahrheit gesagt. Vielleicht hatte der Leopard die betrunkene Mrs. Lannick aus Angst getötet; möglicherweise hatte sie ihn irrtümlich für einen Hund gehalten.   - Joan Aiken, Die Kristallkrähe. Zürich 1974

Begegnung (125)   Am Tage der ersten Vorstellung von Apollinaires Couleur du Temps am Konservatorium Renée Maubel unterhielt ich mich während der Pause auf dem Balkon mit Picasso, da nähert sich mir ein junger Mann, stammelt ein paar Worte und gibt mir schließlich zu verstehen, daß er mich für einen seiner Freunde gehalten habe, der im Krieg gefallen sein soll. Natürlich bleibt es dabei. Bald darauf beginne ich durch Vermittlung eines gemeinsamen Freundes einen Briefwechsel mit Paul Eluard, den ich noch nicht kennengelernt hatte. Während eines Urlaubs besucht er mich: ich stehe derselben Person gegenüber wie bei der Aufführung von Couleur du Temps.   - (nad)

Begegnung (126)  »Ich will damit nicht sagen, daß ich das, worüber ich rede, je praktiziert habe oder auch nur praktizieren könnte«, beteuerte Sam mit aufgeregter Stimme. »Ich will damit nur sagen, daß es kein Leben gibt, das einen so vollständig vom Unglück befreit wie das mystische. Wenn du das Habenwollen aufgibst, wenn du das dauernde Streben nach dem Besitz dessen, was dich anzieht, aufgibst, durchströmt dich ein schönes, überwältigendes Glück, und du hast das Gefühl, in das Geheimnis von Allem einzudringen. Es gibt nur zwei Todsünden auf der Welt: die eine ist Grausamkeit, und die andere ist Besitzgier, und beide zerstören dein Glück.«

»Ich stimm Ihnen zu! Ich stimm Ihnen zu!« rief John. »Nur ist das Gegenteil von dem, was Sie sagen, auch richtig. Nein, nein! In Ihrem christlichen Weg steckt eine Menge, ja, alles steckt in Ihrem christlichen Weg; doch muß er heidnischen Zielen dienstbar gemacht werden! Das ist die große Lehre des Tao, die keiner versteht - außer mir!« Ein unverkennbar diabolischer Funken glomm in seinen gelblich-grünen Augen, und seine sehnige, schwächliche Gestalt schien sich fast wie unter winzigen Stromstößen zu winden, so wie die Rauchkringel, die von seiner Zigarette aufstiegen.

»Sie sind mir zu spitzfindig«, knurrte Sani, streckte seine grau-bestrumpftcn Beine aus und blickte an seinen weiten, dreckigen Stiefeln hinab auf den hellen Vorleger, den Mary so sorgfältig in Bürgermeister Wollops Laden ausgesucht hatte.

»Ich bin nur spitzfindig, weil ich einfach bin«, erwiderte der andere. »Hören Sie, Dekker«, redete er weiter, »Sie brauchen nicht zu glauben, ich mische mich in Ihre Privatangelegenheiten ein, wenn ich Ihnen einen Rat gebe.«

Sanis Gesicht zuckte vor Unmut, und seine Kinnmuskeln zogen sich zusammen. Einen winzigen Augenblick lang betrachteten die beiden Männer einander wie Angehörige zweier verschiedener Tierarten, die sich per Zufall auf einer Waldschneise begegnet sind. Das Zucken in Johns linker Wange sandte sein stummes Signal an Sams verkniffenes Kinn, ganz wie das Zittern in den Schnurrhaaren einer Ratte dem Schnüffeln einer Dachsschnauze antworten mochte.   - (cowp)

Begegnung (127)  

Begegnungen (128)  

- N. N.

Begegnungen (129) 

Begegnungen (130) 

Pinguin und Seeelefant

- N. N.

Begegnung (131) 

- Roy Ward Baker


Begegnung (132)

           Arrogante Katze
...and the cat said: "Can you purr?"

- William Heath Robinson

Begegnung (133)

Der Asra

Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.

Täglich stand der junge Sklave
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.
Täglich ward er bleich und bleicher.

Eines Abends trat die Fürstin
Auf ihn zu mit raschen Worten:
»Deinen Namen will ich wissen,
Deine Heimat, deine Sippschaft!"

Und der Sklave sprach: "Ich heiße
Mohamet, ich bin aus Jemen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.«

- Heinrich Heine, nach: Martin Walser, Brandung. Frankfurt am Main 1985  

Begegnung (134)  Ein beliebiger Weg vor der Stadt. (Einzige Bedingung, daß man niemand begegnet.) Der Hund ist plötzlich da, wie ein Einfall. Er benimmt sich absichtlich hündisch, scheinbar ganz erfüllt von seinen geringen Verrichtungen, aus denen er aber unbemerkt abgezielte, merkwürdig sichere Blicke nach dem Fremden wirft, der seinen Weg fortsetzt. Keiner dieser Blicke geht verloren. Der Hund ist bald vor, bald neben dem Gehenden, immerfort in heimlicher Beobachtung begriffen, die sich steigert. Plötzlich, den Fremden einholend:
Also doch! Also doch!

Er giebt überstürzte Zeichen der Freude von sich, mit denen er schließlich den Weitergehenden aufzuhalten sucht. Dieser macht eine schnelle, freundliche, beruhigende und zugleich abtuende Gebärde und kommt mit einem halben Schritt nach links leicht an dem Hund vorbei.
Der Hund in freudiger Erwartung:
Es steht noch bevor.

Er schluchzt vor Gefiihlsüberfülle. Endlich stürzt er sich, das Gesicht hinaufhaltend, nochmals vor den rascher ausschreitenden Mann: Jetzt kommt es, denkt er, und hält sein Gesicht hin, inständig, als Erkennungszeichen. Jetzt kommt es.
Was? sagt der Fremde, einen Augenblick zögernd. Die Spannung in den Augen des Hundes geht in Verlegenheit über, in Zweifel, in Bestürzung. Ja wenn der Mann gar nicht weiß, was kommen soll, wie soll es dann kommen? - Beide müssen es wissen; nur dann kommt es. Der Gehende tut wieder seinen halben Schritt nach links, ganz mechanisch diesmal; er sieht zerstreut aus. Der Hund hält sich vor ihm und versucht - nun fast ohne besondere Vorsicht anzuwenden - dem Fremden in die Augen zu sehen. Einmal glaubt er ihnen zu begegnen, aber die Blicke haften nicht aneinander.
Ist es möglich, daß diese Kleinigkeit. . . denkt der Hund. Es ist keine Kleinigkeit, sagt der Fremde plötzlich, aufmerksam und ungeduldig.
Der Hund erschrickt: Wie (er faßt sich mühsam), wenn ich doch fühle, daß wir . . . Mein Inneres. . . meine . . . Sprich es nicht aus, unterbricht ihn der Fremde fast zornig. Sie stehen einander gegenüber. Diesmal gehen ihre Blicke ineinander, die des Mannes in die des Hundes, wie Messer in ihre Scheiden gehn.
Der Hund giebt zuerst nach; er duckt sich, springt zur Seite und mit einem von rechts seitwärts kommenden, untenbleibenden Aufblick gesteht er;

Ich mochte etwas für dich tun. Alles mochte ich für dich tun. Alles.

Der Mann ist schon wieder beim Gehen. Er tut, als ob er nicht verstanden hätte. - Rainer Maria Rilke, nach (arc)

Begegnung (135)

Nicht du bist vorbereitet
und nicht ich, einander
zu begegnen.
Du ... weißt ja wohl, warum.
Wie hab ich sie geliebt!
Folg diesem kleinen Pfad.
In den Händen
verbrennen mich die Löcher
der zwei Nägel.
Und siehst du etwa nicht,
daß ich verblute?
Wag nicht, dich umzudrehn,
geh langsam weiter
und bete, so wie ich,
zum heiigen Kajetan,
da du nicht vorbereitet
und nicht ich, einander
zu begegnen.

- Federico García Lorca, Dichtung vom Cante Jondo. Frankfurt am Main 1984

Begegnung (137)   So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in demselben Augenblick stieß ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das, was jetzt geschah, sich in etwa fünf Sekunden abspielen konnte. So dicht man es auch erzählt, es dauert viel länger. Ich hatte mir weh getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, daß ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkürlich, getröstet zu sein. Da er das nicht tat, hielt ich ihn für verlegen; es fiel ihm, vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache aufzulösen war. Ich war schon vergnügt genug, ihm dabei zu helfen, aber dazu war es nötig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt, daß er groß war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch natürlich gewesen wäre, über mich gebeugt, so daß er sich in einer Höhe befand, auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als der Geruch und die eigentümliche Härte seines Anzugs, die ich gefühlt hatte. Plötzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiß es nicht, ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Höhe der schrecklichen Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.  - Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)

[Begegnung 1-21] [Begegnung 22-55]


Gesellschaft Zufall

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