edicht  das gedicht besteht aus fünf strofen jede strofe besteht aus einem wort dieses wort heißt WAGGON das gedicht besteht also aus fünf wortern WAGGON WAGGON WAGGON WAGGON WAGGON weil aberjedes dieser fünf wörter eine strofe darstellt gibt es zwischen dem ersten und dem zweiten dem zweiten und dem dritten dem dritten und dem vierten und dem vierten und dem fünften wort je einen strofenzwischenraum weil aber die fünf strofen ein gedicht sind gibt es nicht nur eine erste und eine letzte und dazwischen eine nächste bzw vor-vorvorletzte und eine übernächste bzw mittlere bzw vorvorletzte und eine überübernächste bzw vorletzte strofe sondern auch die erste die zweite die dritte die vierte die fünfte strofe das jedoch heißt daß die die fünf strofen bildenden wörter nicht nur zwar die gleichen aber nicht dieselben sind sondern auch daß sie zwar durch zwischenräume getrennt sind aber doch auch aneinanderhängen und zwar so daß es unmöglich wäre beispielsweise vom nächsten WAGGON direkt zum überübernächsten oder vom fünften direkt zum zweiten oder vom mittleren direkt zum ersten oder direkt zum letzten WAGGON zu gelangen ohne daß man vorher ein paar strofen vertauscht hätte was hieße daß man sich in einem zwar gleichen aber nicht mehr demselben gedicht bewegen würde und von einem solchen gedicht ist ja hier nicht die rede überhaupt die fortbewegungsfrage denn gesetzt den fall ich bewege mich vom ersten WAGGON durch den zweiten WAGGON in den dritten WAGGON so bewege ich mich gleichzeitig vom vorvormittleren durch den vor-mittleren in den vorvorletzten WAGGON um diesen aber als vorvorletzten zu identifizieren muß ich während ich mich vom vormittleren in den vorvorletzten begebe mich gleichzeitig vom letzten durch den übermittleren in den nächsten also den mittleren oder dritten oder vorvorletzten WAGGON begeben schön und gut aber wie kann das geschehen das kann wohl geschehen weil der erste der zweite der dritte der vierte und der fünfte WAGGON mit unwahrscheinlicher geschwindigkeit ständig ihre plätze tauschen hin und her und durcheinander das sieht ihnen natürlich keiner an weil jeder glaubt er sei im selben und gleichzeitig im gleichen WAGGON was ja auch stimmt nur daß es unmöglich wird die fünf strofen des gedichtes in einem atem zu nennen indem man etwa sagte man fahre in fünf WAGGONS das stimmt nämlich nicht ganz abgesehen davon wer da eigentlich fährt das gedicht im leser oder der leser im gedicht oder irgendwie anders im zusammenhang mit papieruhren oder überhaupt nicht weil WAGGON egal welcher nur ein zum fahren gedachtes wort ist aber es kommt noch schlimmer man stelle sich vor wenn ich zum beispiel nicht nur ein leser sondern gleichzeitig auch ein raucher wäre und ein WAGGON mir zwar als leser als ein gleicher als raucher jedoch keineswegs als derselbe nämlich der mit raucherabteil erschiene oder wenn ich nicht nur ein leser und raucher sondern auch gleichzeitig ein zugschaffner oder ein heilwasservertreter oder ein abgeordneter oder eine romangestalt ein botanist ein grenzübertreter ein orgelpfeifenrestauratör oder gar ein nie eisenbahn fahrender oder ein nie in der eisenbahn ein gedicht lesender oder ein nur im schlafwagenabteil sich an andere gedichte erinnernder wäre oder mein gott mehrere von diesen oder hilfe alle zusammen und gewiß noch einiges hinzu nein nicht auszudenken darum schlage ich vor a) womöglich nie einen zug zu benützen der aus fünf strofen besteht b) wenn es schon sein muß die strofen im kreis anzuordnen damit das problem des zählens theoretisch zumindest vereinfacht wird und auch von rechts nach links lesende leser im gleichen zug gleichzeitig die rückreise machen können c) weil der vorige und der vorvorige vorschlag doch recht unzufriedenstellend sind vielleicht vorher einmal überhaupt versuchen fünfmal hintereinander das gleiche zu tun - (pas)

Gedicht (2) Gedichte? Nein, man erhält nicht zuerst einen Gegenstand, einen Stil, eine eigene Bildwelt, man wird, wenn die Stimme sich ihren Weg bahnt, zuerst mit einer Gehirnhelligkeit konfrontiert, mit der strahlenden Idiosynkrasie eines Menschen, der die Dinge nicht anders sehen kann, als er sie sieht, den die Dinge nicht anders ansehn als in dieser besonderen Anordnung. Man begegnet der Willkür und dem Diktat eines persönlichen Dämons vom Typ des Sokratischen, der immer warnt, niemals tröstet und von dessen Einfluß nichts zeugt als die Fassung, nach der eine Stimme rang wie nach Atem. Nicht zu begründen ins Letzte, läßt jeder Schreibakt sich nur auf die Reizbarkeit eines einzelnen Irrläufers zurückführen, auf seine Symptome, die immer zum Vorschein drängen, sosehr sie auch Anschluß suchen an Philosopheme, politische Ansichten, technische Standards. Selten so deutlich wie im Gedicht steht der Leser unverhofft dem Idiotischen gegenüber, dem einsamen Vorurteil, einer Folge zumeist wenig angenehmer Reflexe, mit denen ein Autor hineinpeilt in eine imaginäre Welt, die dem Außenraum standhalten soll. Irreduzibel, ist es zuletzt ein Vexierbild physiologischen Ursprungs, ähnlich dem Nervensystem, der Anatomie und dem Knochenbau. In ihm wird das Sprechen zurückgeführt an seine Grenzen, werden die anekdotischen Momente von Gattungsleben und Icherleben in Anschauung verwandelt. Denn das Wort ist physischen Ursprungs. - (gr)

Gedicht (3) Was speziell die Gedichte angeht, so verdiente ich 1913 für ein lyrisches Flugblatt bei meinem Freund Alfred Richard Meyer vierzig Mark, während des Krieges für Gedichte in den Weißen Blättern von Schickele zwanzig Mark, nach dem Krieg im Querschnitt für zwei Gedichte dreißig Mark, das macht zusammen für Lyrik neunzig Mark. - Gottfried Benn, Summa Summarum. Wiesbaden 1966 (Werke Band 4, zuerst 1926)

Gedicht (4) Wie sie einst im "Grenier" miteinander diskutierten, meinte Zola zu Mallarmé, daß in seinen Augen ein Dreck und ein Diamant gleichviel wert seien. — "Kann sein", antwortete Mallarmé, "aber der Diamant ist — seltener." Degas ließ es sich nicht nehmen, Mallarmés Poesie zur Zielscheibe verschiedener boshafter Witze zu machen.

"Opfer, beklagenswertes, seinem Los geweiht..."

So erzählte er zum Beispiel, wie Mallarmé seinen Jüngern einst ein Sonett vorgelesen habe, worauf diese in ihrer Bewunderung das Gehörte in Worte zu fassen versucht und es, jeder auf seine Weise, interpretiert hätten: die einen sahen darin einen Sonnenuntergang, die andern den Triumph der Morgenröte; Mallarmé erklärte ihnen: "Aber ganz und gar nicht... es ist meine Kommode."   - (deg)

Gedicht (5) Verse sind entschieden etwas Kindisches. Die Leute, die da Sachen nach vorgegebenen Maßen und Takten schreiben, die Zeilen, die alle gleich ausklingen, das Geleier (wie das eines Kindes, das etwas aufsagt) - im Grunde ist das alles lächerlich. Wenn ich einen Sohn hätte, der literarische oder auch nur allgemein geistige Interessen hätte, ich würde ihm, so ungern ich auf diesem Gebiet lenkend eingreife, alle Lyriker wegnehmen. Diese Leute hemmen die geistige Entwicklung erheblich. Ich selber habe fünfzehn Jahre damit verloren, mich von ihren Mätzchen einlullen zu lassen. Und der Roman? Wie kann ein Mann mit fünfzig Jahren noch Romane schreiben? Wie kann man in dem Alter noch welche lesen? Lyrik und Roman, das ist mit Sicherheit der niederste Bereich der Literatur. - (leau)

Gedicht (6)  Gedichte muß man so schreiben, daß sie, wenn man sie durchs Fenster wirft, die Fensterscheibe zerschlagen. - (charms)

Gedicht (7) Das Gedicht macht sich nicht im Munde allein, es macht sich mit dem Auge, dem Ohr, dem allgemeinen Unbewußten, mit den Bewegungen des Pulsschlags und der Peristaltik - das Gedicht macht sich selbst mit der Hand, die es aufzeichnet und überdem mit einem Erdämmern neuen Vernehmens, das nirgends ein Vorbild haben kann oder will.
Nennen und Darstellen ist nicht Dichtung.

Doch erfährt sich die Erfindung in solch verschütteten und vergessenen Zonen des intimstenGelebtwerdens, daß keine Bedingungen dafür gestellt werden können.
Die langsam zögernd in Erscheinung tretende Formulierung ergibt sich dem erhörenden Auge des Aufzeichnenden unfreiwillig und freigebend zugleich.  - Raoul Hausmann, nach: Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs: Raoul Hausmann. DADA und Neodada. Innsbruck 1994

Gedicht (8)

Ein Gedicht

Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden.
In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer
zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem
Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem

Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind
in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht
hier zum Anfassen. Es gibt keine Gerüche hier in
diesem Gedicht. Keiner braucht über einen Zaun

oder über eine Mauer in diesem Gedicht zu klettern.
Es gibt in diesem Gedicht hier nichts zu fühlen.
Das Gedicht hier kannst du nicht überziehen.
Es ist nicht aus Gummi. Kein weißer Schatten

ist in dem Gedicht hier. Kein Mensch kommt
hier in diesem Gedicht von einer Reise zurück.
Kein Mensch kommt in diesem Gedicht hier atemlos
die Treppe herauf. Das Gedicht hier macht keine

Versprechungen. In dem Gedicht stirbt auch keiner.
In diesem Gedicht spürst du keinen Hauch. Es gibt
keinen Laut der Freude in dem Gedicht hier. Kein
Mensch ist in dem Gedicht hier verzweifelt. Hier

in dem Gedicht ist es ganz still. Niemand
klagt in diesem Gedicht. Niemand redet hier
in dem Gedicht. Hier in diesem Gedicht schlagen
sich auch keine Arbeiter wund. Das Gedicht hier

steht einfach nur hier. Es enthält keine Schlüssel
zum Aufschließen von Türen. Es gibt keine Türen
in diesem Gedicht. Das Gedicht hier ist ohne
Musik. Es singt keiner in diesem Gedicht, und

keiner macht hier in diesem Gedicht jemanden
nach. Keiner schreit hier in dem Gedicht, flucht,
fickt, ißt und nimmt ein Rauschmittel. Es gibt in
diesem Gedicht keine bombastische Ausstattung

für dich. Das .Gedicht hier geht nicht, liegt nicht,
schläft nicht, es kennt keinen Tag, es kennt keine
Nacht. Du brauchst hier in diesem Gedicht keine
Rechnungen zu bezahlen. Es gibt keinen Hausbesitzer

in dem Gedicht hier, der die Miete erhöht. Es gibt
keine Firmen in diesem Gedicht. Es gibt in dem
Gedicht keinen Staat Kalifornien. Es gibt kein
Oregano in dem Gedicht, In diesem Gedicht gibts

kein Meer. Du kannst in dem Gedicht hier nicht
schwimmen. Das Gedicht, das hier steht, enthält keine
Wärme, das Gedicht enthält keine Kälte. Das Gedicht
hier ist nicht schwarz, es hat keine Fenster und

kennt keine Angst. Das Gedicht hier zittert
nicht. Das Gedicht hier ist ohne Spiegel. In diesem
Gedicht gibts auch kein Spiegelei. Einen Supermarkt
gibt es hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht,

das du hier liest, hat keine Titten und keine Fohse,
das Gedicht hier ist völlig körperlos. Keiner stöhnt
hier in dem Gedicht. Das Gedicht blutet nicht, es
verschweigt nichts, das Gedicht hat keine Regel,

das Gedicht ist kein Zitat, für keinen. Hier in
diesem Gedicht findet niemand einen Pfennig,
und hier in diesem Gedicht fährt kein Mensch mit
einem Auto. Keine Reifen quietschen um die Ecke.

In diesem Gedicht lutscht niemand zärtlich an
einem Schwanz. Es gibt hier in dem Gedicht keine
Lampen. Das Gedicht ist kein gelber Schal. Das
Gedicht, auf das du hier schaust, hustet nicht.

Hier in dem Gedicht kannst du nicht küssen.
Hier in diesem Gedicht wird auch nicht gepißt. Du
kannst mit diesem Gedicht nichts anfangen. Das
Gedicht besteht aus lauter Verneinungen. Die

Verneinungen in diesem Gedicht werden immer mehr.
Hier gibts keinen Kiff in dem Gedicht. In diesem
Gedicht lacht kein Mensch. Das Gedicht kennt
keine Arbeit. Niemand sieht in diesem Gedicht Fernsehen.

Das Gedicht trägt keine Uhr. Das Gedicht ist nicht
zeitlos. Es braucht soviel Zeit, wie du brauchst,
um das Gedicht hier zu lesen. Kein Wasserhahn
tropft in dem Gedicht hier, und keiner verlangt

in dem Gedicht hier nach Zigaretten. Hier das
Gedicht gibt kein Trinkgeld. Keine Toilette ist
hier in dem Gedicht. Es gibt keine Stadt in diesem
Gedicht. Hier in dem Gedicht wäscht keiner sich die

Füße. In die Schule zu gehen, ist hier in dem Gedicht
nicht nötig. In dem Gedicht leckt auch keiner eine
Möhse. Dein Geschlechtsteil richtet sich hier in
dem Gedicht nicht auf. Du kannst hier in dem Gedicht

dich nicht hinsetzen und denken. Das Gedicht hier
ist nicht der Staat. Es ist nicht die Gesellschaft.
Es ist kein Flipperautomat. Das Gedicht hier
hat keinen Hund. Mit diesem Gedicht kann sich keiner

identifizieren. Keine Polizisten fahren in diesem
Gedicht herum und suchen nach einem Bruch. Eine Kuh
liegt hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht hier
ist nicht gedankenlos. Das Gedicht hier ist nicht

gedankenvoll. In dem Gedicht erscheint auch kein
Sommertag. Es ist niemals Dienstag in diesem Gedicht,
es gibt keinen Mittwoch in diesem Gedicht, es herrscht
nicht Freitag in diesem Gedicht und kein Donnerstag

fehlt in dem Gedicht hier. Es ist nicht Montag,
Samstag und Sonntag in hier dem Gedicht.
Das Gedicht hier ist nicht die Verneinung von Montag
oder Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf.

- (westw)

Gedicht (9) Mein Leben lang habe ich mir von diesem alten Freund Strafpredigten anhören müssen über meine Schwerfälligkeit, den Ernst der Weltlage nach Maßgabe seiner Dialektik einzusehen. Dabei leuchten mir seine Ansichten in vielen Fällen durchaus ein. Ich sehe sowohl den besonderen Punkt, der den kriminellen Mißbrauch des Geldes betrifft, als auch den Stellenwert, der dem Gedicht bei unserer Offensive zukommt; es ist ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht, dieses Gesindel unter Druck zu setzen, das uns mit Hilfe der diversen Englisch-Fakultäten »der Universität« mit ihrer »heiligen« Rücksichtnahme auf abgedroschene Traditionen in Knechtschaft halten will. Formell spielt es den Kriminellen auf Regierungsseite in die Hände, die allein Gehorsam erzwingen können.

»Auf dieser Ebene muß man sie angreifen!« schreit Pound.

Aber wir verkennen, so erklärt er, daß eben der Formalismus des Gedichts dem Kriminellen Sicherheit gibt, er ist dort so fest verankert, daß eine wehleidige Bürokratie - mit all ihren Preisen und Auszeichnungen - nur für die Bande arbeitet, zu deren Zerschlagung sie angetreten ist. Allein das Gedicht (nicht die »Poesie«, dieses Beschwichtigungsmittel) ist die Kapsel, in der, zuweilen bei der Intelligenz, die Fakten des Falles zur sicheren Verwahrung gegeben werden können.

Daher der Haß auf das Gedicht, die bösen und brutalen Versuche, es zu unterdrücken - der Schock, den es manchmal auslöst - und die unablässigen Bestrebungen, jeden zu verleumden, der von seiner Flamme berührt ist ~ falls es eine Flamme ist, und das ist, wie man feststellen muß, nicht oft der Fall. Das Gedicht ist der aktive Faktor mancher grundsätzlichen Attacke. Oft genug liegt in ihm die Welt auf der Lauer.

Man verbrennt Bücher, man unterdrückt ihre Freiheit, man wirft die Autoren ins Gefängnis, man versucht sogar - ich denke an »Guernica« - Bilder zu verbrennen. All das gibt Pound recht, wenn er das Gedicht als seinen Ausgangspunkt nimmt, so wie eine Eiche zu demselben Zweck eine Eichel nimmt oder Senf ein Feld mit Blüten bedeckt. - (wcwa)

Gedicht (10) Zunächst ein paar einfache Dinge, die man lernt, wenn man im OFFENEN arbeitet, oder in dem, was sich auch FELDKOMPOSITION nennen läßt, im Gegensatz zur ererbten Zeile, Strophe, Gcsamtform, nämlich der "alten" Basis des Nicht-Prqjektiven.

1. die Kinetik des Ganzen. Ein Gedicht ist eine Energiemenge, die von dort, wo der Dichter sie herhat (er wird eine Reihe verschiedener »Quellen« haben), mittels des Gedichtes selbst den ganzen Weg hinüber zum Leser übertragen wird. Okay. Dann muß das Gedicht selbst an jeder Stelle ein hochwertiger Energieträger und ebenso an jeder Stelle ein Energieentlader sein. Nun, wie kann der Dichter besagte Energie bereitstellen, wie kann er das, mit was für einem Verfahren kann er an jeder Stelle eine Energie einschleusen, die mindestens das Äquivalent der Energie ist, die ihm den ersten Anstoß gegeben hat, jedoch eine Energie, die nur dem Vers eigen ist und die sich außerdem naturgemäß von der Energie unterscheiden wird, die der Leser, weil er ein dritter Faktor ist, für sich beanspruchen wird?

Dies ist das besondere Problem, dem sich jeder Dichter, der der geschlossenen Form den Rücken kehrt, gegenübergestellt sieht. Und es schließt eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse ein. Sobald der Dichter sich an die FELDKOMPOSITION wagt - sich ins Offene begibt -kann er keinen ändern Weg verfolgen als den, den das im Entstehen begriffene Gedicht für sich selbst angibt. Danach hat er sich zu verhalten und muß sich, Punkt für Punkt, der verschiedenen Kräfte bewußt sein, die gerade jetzt untersucht zu werden verlangen. (Dieser Anstoß ist beispielsweise viel mehr als nur ein solcher, den Pound, um uns auf die Beine zu helfen, so klug den »musikalischen« Satz genannt hat; richtet euch danach, Jungens, und nicht nach dem Metronom.)

2. das Prinzip, das Gesetz, welches eine derartige Komposition offenbar beherrscht und das, wenn man ihm folgt, die Entstehung eines projekriven Gedichtes möglich macht. Es lautet: FORM IST NIE MEHR ALS EINE AUSDEHNUNG VON INHALT. (Oder so wurde es von Robert Creeley formuliert, und ich finde das absolut vernünftig, vielleicht mit dem Zusatz, daß die richtige Form eines Gedichtes die einzig und ausschließlich mögliche Ausdehnung des zur Debatte stehenden Inhalts ist.) Da ist es, Brüder, und wartet, ANGEWANDT zu werden.

Und nun 3. der Prozeß des Ganzen: wie läßt sich erreichen, daß das Prinzip die Energien so modelt, daß die Form dabei herauskommt. Ich denke, es läuft am Ende auf folgenden Satz heraus (den mir Edward Dahlberg als erster eingehämmert hat): EINE WAHRNEHMUNG MUSS SOFORT UND DIREKT ZUR NÄCHSTEN WAHRNEHMUNG FÜHREN. Das meint genau, was es sagt, es handelt sich, und zwar in je-dem Punkt (sogar wenn es darum geht, wie wir mit der täglichen Wirklichkeit und der täglichen Arbeit fertig werden, möchte ich meinen), ums Weitermachen, in Bewegung-Bleiben, Dranbleibcn, Geschwindigkeit, die Nerven und ihre Geschwindigkeit, die Wahrnehmungen und deren Geschwindigkeit, die Handlungen, die Bruchteile von Handlungen; das alles, Bürger, laß es sich so schnell bewegen, wie du kannst. Und falls du dich auch als Dichter etablieren willst, NÜTZE, NÜTZE, NÜTZE den Prozeß an jeder Stelle: immer, immer, in jedem gegebenen Gedicht muß muß muß eine Wahrnehmung DIREKT IN DIE NÄCHSTE ÜBERGEHEN ..... - Charles Olson, nach (wcwa)

Gedicht (11)  Ein gutes Gedicht  ist ein Beitrag zur Wirklichkeit. Die Welt wird nie mehr sein, was sie war, nachdem sie um ein gutes Gedicht vermehrt worden ist. Ein gutes Gedicht trägt dazu bei, Form und Bedeutung des Universums zu verändern, und es hilft jedem, seine Kenntnis von sich und der umgebenden Welt zu erweitern.   - Dylan Thomas, Quite Early One Morning (i954), nach (windab)

Gedicht (12) Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, hergestellt aus Worten. Nichts an einem Gedicht ist sentimentaler Natur; damit will ich sagen: es darf sowenig wie irgendeine andere Maschine überflüssige Teile enthalten. Seine Bewegung ist eine Erscheinung eher physikalischer als literarischer Art. - William Carlos Williams, nach (wort)

Gedicht (13)  Das Gedicht geht hervor aus subjektivem Zwang und objektiver Wahl.
Das Gedicht ist flutende Ansammlung ursprünglicher bestimmender Werte in Gleichzeitigkeitsbeziehung mit irgendeinem, der dadurch der erste wird.

Diese Festung, deren sämtliche Tore Freiheit ausströmen, diese Gabel aus Dampf, die in der Luft einen Körper von prometheischer Spannweite hält, den der Blitzstrahl erleuchtet und meidet, das ist das Gedicht, voll maßloser Launen, das im Augenblick uns gewinnt, dann erlischt.   - Aus: René Char, Partage formel - Unanfechtbarer Anteil, in: R. C., Zorn und Geheimnis. Frankfurt am Main 1991 (zuerst 1948)

Gedicht (14)   Ich sagte, der Autor besitzt einen dumpfen schöpferischen Keim, eine psychische Materie. Das wäre, anders ausgedrückt, also der Gegenstand. der zu einem Gedicht gemacht werden soll. Auch hierzu gibt es interessante Erörterungen namentlich aus der französischen Schule einschließlich Poe, die Eliot kürzlich in einem Aufsatz wieder aufgriff. Der eine sagt, der Gegenstand ist nur Mittel zum Zweck, der Zweck ist das Gedicht. Ein anderer sagt: ein Gedicht soll nichts im Auge haben als sich selbst. Ein dritter: ein Gedicht drückt gar nichts aus, ein Gedicht ist. Bei Hofmannsthal, der doch zumindest in seiner letzten Periode bewußt die Verbindung zu Kult, Bildung und Nation aufnahm, fand ich eine sehr radikale Äußerung: „es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie" - das kann nichts anderes heißen, als daß die Poesie, also das Gedicht, autonom ist, ein Leben für sich, und das bestätigt uns sein nächstes Wort: „die Worte sind alles." Am berühmtesten ist die Maxime von Mallarmé: ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten.  Eliot  nimmt den bemerkenswerten Standpunkt ein, ein gewisses Maß von Unreinheit müsse selbst die Poesie pure bewahren, der Gegenstand müsse um seiner selbst willen in gewissem Sinne gewertet werden, wenn ein Gedicht als Poesie empfunden werden solle. Ich würde sagen, daß hinter jedem Gedicht ja immer wieder unübersehbar der Autor steht, sein Wesen, sein Sein, seine innere Lage, auch die Gegenstände treten ja nur im Gedicht hervor, weil sie vorher seine Gegenstände waren, er bleibt also in jedem Fall jene Unreinheit im Sinne lEliots. Im Grunde also, meine ich, es gibt keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst.    - Gottfried Benn, Probleme der Lyrik (1951), in: G.B., Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden 1965

Gedicht (15)  Ein Gedicht isl eine Energiemenge, die von dort, wo der Dichter sie herhat (er wird eine Reihe verschiedener »Quellen«  haben), mittels des Gedichtes selbst, den ganzen Weg hinüber zum Leser übertragen wird, Okay- Dann muß das Gedicht selbst, an jeder Stelle, ein hochwertiger Energieträger, und, an jeder Stelle, ein Energieentlader sein. (. . .)

Vom Augenblick an, wo der Dichter sich an die FELD-KOMPOSITION wagt — sich ins Offene begibt -— kann er keinen andern Weg verfolgen als den, den das im Entstehen begriffene Gedicht, für sich selbst, angibt. (. - .)

FORM IST NIE MEHR ALS EINE AUSDEHNUNG VON INHALT. (Oder so wurde es von einem, von Robert Creeley, formuliert, und ich sehe das absolut ein, mit diesem möglichen Zusatz, daß richtige Form, in einem gegebenen Gedicht, die einzig und ausschließlich mögliche Ausdehnung des zur Debatte stehenden Inhalts ist.) Da ist es. Brüder, und wartet, ANGEWANDT ZU WERDEN (. . .)

Wie laßt sich erreichen, daU das Prinzip die Energien so modelt, daß die Form dabei herauskommt. Und ich glaube, das läßt sich mit einem Satz umreißen (den mir Edward Dahlberg als erster eingehämmert hat}: EINE ERKENNTNIS MUSS SOFORT UND DIREKT ZUR NÄCHSTEN ERKENNTNIS FÜHREN. (...} Und falls du dich auch als Dichter etablieren Willst, NÜTZE, NÜTZE, NÜTZE den Prozeß an jeder Stelle: immer, immer, in jedem gegebenen Gedicht muß muß muß eine Erkenntnis, DlRECTEMENT, IN EINE NÄCHSTE ÜBERGEHEN!

Ich denke, daß der PHOJEKTIVE VERS diese Lektion lehrt, und ist: nämlich daß nur der Vers passieren darf, worin es dem Dichter gelingt, sowohl das, was er durch sein Ohr aufgenommen hat, wie auch den Druck seines Atems zu registrieren. (. . .)

Als mögliche Korrektur an der heutigentags geschriebenen Prosa und Lyrik würde es nichts schaden, wenn sowohl Reim wie Metrum und, beim Wort als Quantum, sowohl Sinn wie Klang, weniger im Vordergrund stünden als die Silbe, und wenn es der Silbe, diesem schönen Geschöpf, in stärkerem Maße erlaubt wäre, die Harmonie anzuführen.

Doch die Silbe ist nur das erste Kind des Inzests des Verses (immer bringt dieses ägyptische Ding Zwillinge zur Welt!). Das andere Kind ist die ZEILE. Und gemeinsam, diese beiden, die Silbe und die Zeile, ergeben sie ein Gedicht, ergeben sie dieses Gebilde, die — wie wollen wirs nennen, die Herrin des Ganzen, die 'singuläre Intelligenz'.  - Charles Olson, nach (frach)

Gedicht (16)  Was die Leute zu sagen versuchen, was sie uns, unablässig und vergeblich, zu verstehen geben wollen, ist das Gedicht, das sie in ihrem Leben zu verwirklichen trachten. Wir haben es vor uns, fast mit Händen zu greifen; es ist anwesend in jedem Augenblick, wie eine sehr fein verteilte Substanz, die wir aus allem, was gesprochen wird, heraushören können. Das Gedicht hat seinen Ursprung in halblauten Worten, wie ein Arzt sie jeden Tag von seinen Patienten vernehmen kann. - William Carlos Williams, nach (wort)

Gedicht (17) 
 

Das Hohelied

Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.

Ja, günstig war die Stunde ihm,
Der Gott war nochbegeistert;
Er hat den spröden, rebellischen Stoff
Ganz künstlerisch bemeistert.

Fürwahr, der Leib des Weibes ist
Das Hohelied der Lieder;
Gar wunderbare Strophen sind
Die schlanken, weißen Glieder.

O welche göttliche Idee
Ist dieser Hals, der blanke,
Worauf sich wiegt der kleine Kopf,
Der lockige Hauptgedanke!

Der Brüstchen Rosenknospen sind
Epigrammatisch gefeilet;
Unsäglich entzückend ist die Cäsur,
Die streng den Busen teilet.

Den plastischen Schöpfer offenbart
Der Hüften Parallele;
Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt
Ist auch eine schöne Stelle.

Das ist kein abstraktes Begriffspoem!
Das Lied hat Fleisch und Rippen,
Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt
Mit schöngereimten Lippen.

Hier atmet wahre Poesie!
Anmut in jeder Wendung!
Und auf der Stirne trägt das Lied
Den Stempel der Vollendung.

Lobsingen will ich dir, o Herr,
Und dich im Staub anbeten!
Wir sind nur Stümper gegen dich,
Den himmlischen Poeten.

Versenken will ich mich, o Herr,
In deines Liedes Prächten;
Ich widme seinem Studium
Den Tag mitsamt den Nächten.

Ja, Tag und Nacht studier ich dran,
Will keine Zeit verlieren;
Die Beine werden mir so dünn -
Das kommt vom vielen Studieren.

- Heinrich Heine

Gedicht (18)   Der Wert eines Gedichts liegt oft in einer einzigen Zeile oder auch nur in einem einzigen verdienstlichen Wort. So hängt es schwer an seinem Stiel, dock so lange in Sicherheit, wie es der Baum nickt loslassen will.  - (kore)
      

Poesie

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

Verwandte Begriffe

Synonyme