- Walter Benjamin
Buchstaben (2) Jede Hieroglyphe war für die Ägypter Bild eines Gotteswortes. Für die Juden hatten Buchstabe und Schrift nicht nur einen göttlichen Ursprung. Sie führten — symbolisch und kombinatorisch — auf Gott zurück. Der Buchstabe Aleph zum Beispiel bedeutete ganz bildhaft Gott. In der orientalischen und graeco-orientalischen Literatur der Antike wimmelt es von Theologien, Kosmogonien, Angelologien und Anthropologien auf Grund von Buchstabenkombinationen der verschiedensten Art. Für den Alchimisten ZOSIMOS hatten Buchstaben Eigenschaften, und sie verteilten Eigenschaften.
Die esoterische Buchstabenmystik der orientalischen Urantike ist (wie die chinesische) in erster Linie theognostisch. Sie bildete Elemente der Mystik, der Magie, der heilenden und bewältigenden Magie, aber auch der gottrufenden, der evokativen Klangmagie. Mit Buchstaben konnte man zaubern und verzaubern. Verzaubern durch den bloßen Klang von Buchstaben? «In Ägypten preisen die Priester sogar die Götter durch die sieben Vokale, indem sie diese der Reihe nach ertönen lassen, und statt Aulos und Kithara wird der Schall dieser Buchstaben gehört wegen ihres Wohlklanges.»
In dieser theologischen Buchstaben-Kryptographie wurden ganze Systeme von Buchstabensymbolen entworfen. Im unergründlichsten Buch der jüdischen Kabbala, im Sepher Jetzira, bildete Elohim sein Universum mit den drei Büchern: Sepher (die Schrift), Sopher (die Zahl) und Siphur (das Wort). Also: Universum, Zeit, Körper. Von den Sephiros, die Elohim erschafft, hat der «Geist des Geistes» «22 Buchstaben geschnitten und in Stein gebildet»: Diese 22 Buchstaben sind die Grundlagen der drei Mütter, der sieben Doppelten und der zwölf Einfachen. Aus ihnen ist die ganze Welt gebildet. Das Alphabet wird zu einem kosmischen Chiffre-System.
Lettristische Permutationen hatten auch im bloßen Klang von Buchstaben und Buchstabengruppen noch einen transzendentalen Sinn. Um 1150 v. Chr. machte man in Ägypten die ‹Entdeckung›, daß die wirksamste Gestalt des Urgott-Namens aus absolut sinnlosen Zusammenstellungen von Buchstaben bestünde. Sogar das ‹Zungenreden› ergab also mythischen Sinn. Auf diese Weise glaubte man eine ‹chemisch reine Gottheit» zu erhalten. Die spätere kabbalistische Bezeichnung Ziruph für Buchstabenversetzung bedeutet auch ‹Schmelzung›. Durch Buchstaben-Permutationen schmilzt man also gewissermaßen das Urwesen ein.
Es gab bestimmte Techniken dazu, so etwa die uns schon bekannten Palindrome, Rücklinge oder Krebsworte, die Kaimata (Worte werden untereinander geschrieben, wobei man jedesmal einen Buchstaben wegläßt, z. B. unser schon zitiertes Amore, more, ore, re) und Analogien. So bringt der Klostergründer S. SABAS in seiner Schrift «Die Mysterien der griechischen Buchstaben», hebräischen Vorbildern folgend, die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabete mit den 22 Schöpfungswerken Gottes, den 22 Büchern des Alten Testaments, den 22 000 Rindern Salomons, den 22 Aretai (Tugenden) CHRISTI in Beziehung. Es gibt sieben Vokale, so wie es sieben Planeten, sieben Sphären, sieben Leiersaiten, sieben Töne in der Oktave, sieben Tonarten gibt.
Eine weitere Technik der antik-semitischen und orientalisch-griechischen ‹Arithmomantik› und ‹Gemantrie›: die sogenannte ‹Isopsephie›, d.h. die Herstellung verborgener Beziehungen in den Wörtern durch Kombinationen von Buchstaben und Zahlen, eine der beliebtesten Methoden in den Talmud-Schriften, in der Kabbala, in der Alchimie, aber auch schon in der althebräischen Lyrik. So ergibt sich für die heutigen Deuter der Geheimnisse um SHAKESPEARE, nach dem System a = 1, b = 2 usw. bis y = 23, z = 24, ‹additiv› aus dem Wortmonstrum in ‹Verlorene Liebesmüh›: ‹honorificabilitudinitatibus› (Zahlenwert = 287): ‹Hi ludi, tuiti sibi, Fr. Bacono nati».
Die Sucht nach dem ‹Psephos›, nach der Entsprechung, führt allerdings schon in der Antike zu einer Psephomanie, zu einer populärmagischen Onomatomantik, zu einer preziös-manieristischen Buchstaben-Orakelei für Markt und Pöbel. Neben Isopsephie und Ziruph (Buchstabenumstellung) finden wir schließlich noch die ‹Temura›, die Buchstabenversetzung.
Alles das wirkt in Kabbala und Alchimie weiter, so vor allem im kabbalistischen
Sepher Jetzira, in der magischen Symbolistik der Alchimisten und in der arabischen
Zauber-Literatur. Akrosticha findet man schon in den Klageliedern des Jeremias,
in den Sprüchen Salomons und in den Psalmen. Sie werden, als nur ästhetisches
Mittel, dann verwendet in der jüdischen Lyrik des 6.—13. Jahrhunderts, in den
Piyyutim. In diesen Gedichten findet man, neben
den ersten Reimen, auch zahllose Anagramme. In der Karfreitag-Liturgie der katholischen
Kirche, in den Lamentationes, haben sich die hebräischen Psalmen-Akrosticha
erhalten, so vor allem diejenigen von Psalm 118 (acht Verse beginnen
mit Aleph, weitere 8 mit Beth usw.). Ganzen ‹Ketten›
von Akrosticha begegnet man in den ABCdarien der Marienverehrung und in der
griechisch-byzantinischen Kirchenpoesie. AEIOU — diese Formel galt als ‹Name›
Gottes. - Gustav René Hocke, Manierismus in der
Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek bei Hamburg
1969 (rde 82/83, zuerst 1959)
Buchstaben (3) Das M ist nicht
nur eine Einführung, eine Tür mit zwei Flügeln und dem
Spalt dazwischen, die Lippen, wenn sie bei Wörtern wie stumm oder murmeln die
Luft herauslassen (es sei denn, daß die vielen parallelen senkrechten Linien
den Eindruck eines Waldes erzeugen) - es ist im Innern meiner eigenen Identität.
Moi ['ich', 'mir', 'mich']: da stehe ich eingeschlossen
von meinen beiden Wänden wie in einem Haus
[frz. maison] oder einem Schrank [frz. armoire]. Das
I ist eine entzündete Fackel. Das O
ist der Spiegel, das Gewissen
- es sei denn, daß man es lieber als Kern sieht, oder als das offene Fenster,
durch welches das innerste Licht sichtbar wird. Die Seele
- das ist das "moi" als Ziel allen Strebens, hin zu diesem O, das
durch das I leuchtet, das in ami [Freund] der graphischen Hervorhebung folgt,
während es ihr in aimer [lieben] vorangeht. Memoire ['Gedächtnis']: ich erinnere
mich meiner selbst. Ich bin ein Mann [frz. homme] oder
eine Frau [frz. femme], mit meiner eigenen Miene [frz.
mine], mit einem nach außen gewandten Gesicht, das aus dem Inneren geformt wird.
Manchmal mit einer Maske [frz. masque], einem tragbaren
Gesicht, das an einem Stiel befestigt ist. - Paul Claudel, nach: Phantastische Alphabete. Wiesbaden 1997
Buchstaben (4) Ist Ihnen schon aufgefallen, daß das Y ein malerischer Buchstabe mit unzähligen symbolischen Bedeutungen ist? Ein Baum kann als Y dargestellt werden; die Gabelung eines Weges, das Zusammenfließen zweier Wasserläufe bilden ein Y; ein Ochsen- oder ein Eselskopf lassen sich als Y stilisieren; ebenso kann ein Y die Silhouette eines Weinglases mit Stiel oder einer Lilie mit Stengel sein - oder eines Menschen, der die Arme zum Gebet gen Himmel streckt.
Diese Beobachtung kann im übrigen auf alles ausgedehnt werden, was die menschliche Schrift ausmacht. Alle Elemente der alltäglichen, profanen Schrift stammen von kultisch verwendeten Symbolen aus dem sakralen Bereich. Die Hieroglyphen sind der notwendige Ursprung der Schriftzeichen; alle Buchstaben waren einst Ideogramme, und diesen gingen stets Bilder voraus.
Der Mensch, die Gesellschaft, ja die ganze Welt ist im Alphabet enthalten.
Das Freimaurertum, die Astronomie, die Philosophie und alle Wissenschaften haben
hier ihren nicht mehr wahrnehmbaren, aber wahren Ausgangspunkt - es ist auch
nicht anders denkbar. Das Alphabet ist eine Quelle. A
ist das Dach - Giebel mit Querbalken -, der Bogen (lat. arx) oder der
Willkommensgruß zweier Freunde, die sich umarmen und die Hand geben. D ist der
Rücken. B ist der Rücken auf dem Rücken: der Buckel.
C ist die Mondsichel. E ist die Grundmauer mit Pfeiler,
Stütze und Säulensims: die gesamte Architektur in einem einzigen Buchstaben
skizziert. F ist der Galgen (lat. furca). G
ist das Jagdhorn. H ist die Fassade der Kirche mit ihren zwei Türmen. I ist
das Kriegsgerät, das ein Geschoß abfeuert. J ist die Pflugschar und auch das
Füllhorn. K ist die Gleichheit von Einfall- und Ausfallswinkel, eines der Schlüssel
der Geometrie. L ist das Bein mit dem Fuß. M ist das Gebirge
oder aber das Lager mit aneinandergereihten Zelten. N ist die verriegelte Tür
mit quergestellter Stange. O ist die Sonne. P ist der stehende Lastenträger
mit seiner Fracht auf dem Rücken. Q ist die Pferdekruppe mit Schweif. R ist
die Ruhepause: der Lastenträger, der sich auf seinen Stab stützt. S
ist die Schlange. T ist der Hammer.
U ist die Urne und V das Gefäß, daher werden beide Buchstaben häufig vertauscht.
Über das Y haben wir bereits gesprochen. X sind die gekreuzten Schwerter, der
Kampf, dessen Ausgang ungewiß ist; so haben die Hermetiker das
X als Symbol für das Schicksal genommen, und in der Algebra ist es das Zeichen
für eine unbekannte Größe. Z ist der Blitz:
die Gottheit. - Victor Hugo, nach: Phantastische Alphabete. Wiesbaden 1997
Buchstaben (5) Gegen Morgen träumte ihm, er hätte
sich in einem der Seitenschiffe der Bibliothek des Clementinum verborgen. Ein
Bibliothekar mit schwarzer Brille fragte ihn: »Was
suchen Sie?« Hladik antwortete: »Ich suche Gott.« Der Bibliothekar sagte: »Gott
ist in einem der Buchstaben auf einer der Seiten eines der vierhunderttausend
Bände des Clementinum. Meine Eltern und die Eltern meiner Eltern haben diesen
Buchstaben gesucht. Ich habe mich blind danach gesucht.« Er nahm die Brille
ab, und Hladik sah die Augen, die tot waren. Ein Leser
kam herein, um einen Atlas zurückzugeben. »Dieser Atlas taugt nichts«, sagte
er und reichte ihn Hladik. Der öffnete ihn aufs Geratewohl. Er sah eine Landkarte
von Indien; ihn schwindelte. Mit plötzlicher Gewißheit berührte er einen der
winzig kleinen Buchstaben. Eine allgegenwärtige Stimme sprach zu ihm: »Die Zeit
für deine Arbeit ist dir gewährt.« Hier erwachte Hladik. -
Jorge Luis Borges, Kunststücke, nach (
bo3
)
Buchstaben (6)
Buchstaben (7) Es bleiben die Buchstaben keine »toten Buchstaben«, sondern werden vom Saft einer kostbaren Kabbala durchströmt, der sie ihrer dogmatischen Starre entreißt und bis in ihre äußersten Verästelungen hinein belebt. Ganz von selbst verwandelt sich das A zur Jakobsleiter {oder zur zweischenkligen Leiter des Anstreichers), das I (ein Militär in Hab-acht-Stellung) zur Feuer- und Wolkensäule, das O zur Weltkugel, das S zum Schlängelpfad (sentier) oder zur Schlange (serpent), das Z zum Blitz, der nur der Blitz von Zeus oder Jehova sein kann.
Andere Buchstaben verkörpern mehr oder weniger den Gehalt bestimmter Wörter, deren Initial sie sind: V keilt sich ein zum Flügelschlag wegen des Worts »vautour« (Geier), zum »ventre évidé« (hungerhohler Bauch) wegen »vorace« (Völlerei), wird zum Krater, denkt man an den Vesuv oder einfach an den Vulkan. R ahmt den rauhen Umriß von »rocher« (Riff) nach; B die bierbauchige Form von »Bibendum« (diesem dicken Biedermann, der sich in schrecklicher Atmung auf- und abbläht), das Lippenmaul von »bebe« (Baby) oder das Verdichtende eines B-Moll; P hat etwas Erhöhtes in » po-tence« (Hochgericht, Pranger) oder in »Prinz«; M die Majestät von »mort« (Tod) oder »Mutter«; C das Konkave von »cavernes« (Höhlen), »conques« (Muscheln) oder »coquilles d'œufs« (Eierschalen), die gern zerbrechen.
Andere — betrachtet man ihre Gestalt, ihren Namen oder bestimmte Verwendungsweisen — muten an wie Zubehöre irgendeiner zugleich einfachen und tragischen Handlung: X ist wahrhaftig das Kreuz (croix) über der endgültig begrabenen Sache, in deren Geheimnis man nie eindringen wird, und zugleich der Folterbock, auf den diese ungenannte Sache gespannt ist, um dort lebendig gerädert oder gar gevierteilt zu werden; H, Homonym von »hache« (Hackbeil) und mit dem Aussehen einer Guillotine, aus zwei Streben bestehend, zwischen denen ein transversales Fallbeil gleitet; Y, das wie ein Baumstamm ist, der in zwei mächtige, kahle, in den Himmel gereckte Äste ausläuft, oder wie das einzige Bruchstück eines Säulengangs, das eine geschleifte griechische Stadt überlebt hat.
Andere dagegen haben ein liederliches Benehmen, sind Possenreißer, in allerlei Flitterkram umherstolzierend und einzig das Pittoreske im Sinn: G, ein großer Florentiner Herr, im Wams mit Plusterärmeln, die Faust posiert in Höhe der Hüfte und in nächster Nähe des schweren Stichblatts seines Degens oder des Griffs seines Dolches; K, wo sich eine Art Winkel eingenistet oder das ein Axthieb verwüstet hat, der ihm die ganze Mitte des Gesichts spaltete, das nun so zerschlagen aussieht wie bei der bösen Fee Carabosse: zwischen den monströsen Aufragungen von Stirn und Kinn der tief herabhängende Mund und plattgedrückte Nasenlöcher; Q mit dem runden und jovialen Gesicht des Liebhabers gängiger Sprachspiele, mit einem auf dem kleinen Knoten der Krawatte abgestützten Doppelkinn; Q, ein Buchstabe, der, spricht man ihn, schneidend ist wie der Axthieb, der in den nun in die beiden Hinterbacken gespaltenen primordialen Globus diese tiefe Furche zog; W, das angelsächsische Wörter wie »tramway«, »wattman«, »wagon« wachruft und sich, wie ein Maschinenteil anmutend, mit allem einläßt, was modernes Fortbewegungsmittel ist.
Manche Buchstaben schließlich bleiben ziemlich belanglose Gefiige: das dickbauchige
D; E, die gekrümmte Zinke; das erkernde F; J, ein Angelhaken oder umgekehrter
Krummstab; L, der beinlose Stuhl, die Lehne aufrecht auf den Boden gesetzt;
N, der Beginn einer Zick-Zack-Formation; T, der einzige tragende Pfeiler eines
Architravs; U, eine rundbödige Vase, im Längsschnitt gesehen. Hier ist alles
nur spielerische Form; allein der Blick ist beteiligt, das Schriftzeichen schmarotzt
nicht von den Wörtern, mit denen es verknüpft ist, und vermischt sich auch nicht
mit dem Laut, den es zu bezeichnen hat, wie im Fall des S, dessen zischende
Tonführung fsonorite sifflante) mit seiner Schlängelung in Einklang steht, des
R, das, wie ein schroffes Riff (roc escar-pe} aufgerichtet, zugleich ein rauh
röchelndes Rollen hören läßt, des V, flinker Vogelflug (vol veloce), der die
Luft schlitzt, oder Schwert (glaive) mit scharfer Spitze, das mit seiner vibrierenden
Klinge zwischen die anderen Schriftzeichen fährt. - Michel Leiris, Streichungen.
München 1982 (Die Spielregel Bd. 1, zuerst 1948)
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