Ich  Jeder einzelne Zweihänder. Das grundrichtigdenkende Ich spricht zu sich selbst: "Wenn alle anderen Ichs plötzlich von dieser Erde verschwänden und ich allein übrigbliebe, würde ich die ganze Menschheit bilden. Da aber das Vorhandensein vieler Menschen neben mir keinerlei Veränderung in und an mir hervorrufen kann, kann ich auch ohne das plötzliche Verschwinden aller Menschen nichts anderes sein als die Menschheit. Ich bin es aber nur, wenn ich auch als Menschheit denke. Dann aber ist mein Denken das Denken der ganzen Menschheit. Da die Menschheit richtig denkt, andernfalls lebte sie längst nicht mehr (s. Donnerechse), so ist mein Denken als Menschheit das allein richtige Lehen. Also bin ich auch imstande, das Schicksal der ganzen Menschheit zu bestimmen. Und diesen Spaß habe ich mir hiermit gemacht, womit die ganze Welt von Ewigkeit zu Ewigkeit mein Wille und meine Vorstellung geworden ist. Wenn alle Zweihänder so richtig denken wie ich, ist die Erde das Himmelreich.

Je mehr Unmenschen durch mein Denken zu Menschheit gemacht werden, um so näher rückt das Paradies. Wer über mich lacht, also sich über mich oder sich mit mir freut, denkt richtig. Wer es aber unternimmt, mich zu widerlegen, der entlarvt sich dadurch nur selbst als falschdenkerischen Dummkopf und blöden Schwindler (s. Schwindel). - (se)

Ich (2) Meine heimat ist österreich, mein vaterland Europa, mein wohnort Malmö, meine hautfarbe weiß, meine augen blau, mein mut verschieden, meine laune launisch, meine räusche richtig, meine ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine sehnsüchte wie die windrose, im handumdrehen zufrieden, im handumdrehen verdrossen, ein freund der fröhlichkeit, im grunde traurig, den mädchen gewogen, ein großer kinogeher, ein liebhaber des twist, ein übler schwimmer, an schießständen marksman, beim kartenspiel unachtsam, im schach eine null, kein schlechter kegler, ein meister im seeschlachtspiel, im kriege zerschossen, im frieden zerhaut, ein hasser der polizei, ein verächter der obrigkeit, ein brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten, unbehaglich schwiegereltern, ein vater von kindern, ein Judas der mütter, treu wie Pilatus, sanft wie Puccini, locker wie Doctor Ward, schüchtern am anfang, schneidig gen morgen, abends stets durstig, in konzerten gelangweilt, glücklich beim schneider, getauft zu St. Lorenz, geschieden in Klagenfurt, in Polen poetisch, in Paris ein atmer, in Berlin schwebend, in Rom eher scheu, in London ein vogel, in Bremen ein regentropfen, in Venedig ein ankommender brief, in Zaragoza eine wartende zündschnur, in Wien ein teller mit sprüngen, geboren in der luft, die zähne durch warten erlernt, das haar nach vorne gekämmt, die bärte wie schlipse probiert, mit frauen im stehen gelebt, aus bäumen alphabete gepreßt, karussells in wäldern beobachtet, mit lissabonerinnen über stiegen gekrochen, auf tourainerinnen den morgen erwartet, mit glasgowerinnen explodiert und durchs dach geflogen, catanesinnen verraten, kairenserinnen bestürzt, bernerinnen vergöttert, an pragerinnen herangeraten, grüßgott gesagt, feigen gestohlen, revolver entdeckt, aus booten gestiegen, papierdrachen verwünscht, masken verfertigt, katakomben gemietet, feste erfunden, wohnungen verloren, blumen geliebt, schallplatten verwüstet, 150 gefahren, unrat gewittert, lampione bewundert, monde verglichen, nasen gebrochen, parapluies stehengelassen, malaiisch betrieben, positionen ersonnen, bonbons zertreten, musikautomaten gerüttelt, dankbar gewesen, heidenangst verspürt, wie der hirsch gelaufen, die lunge im maul gehabt, unter rosen geweilt, spielzeug gebastelt, rockärmel verpfuscht, Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen, gedichte geschrieben, scheiße gesagt, theater gespielt, nach kotze gerochen, eine flasche Grappa zerbrochen, mi vida geflüstert, grimassen geschnitten, ciao gestammelt, fortgegangen, a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden.

Alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft... - (hca)

Ich (3) Mein  Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; »Herr Landrat« sagt;  that‘s me!) : ein Tablett voll glitzernder snapshots.

Kein Kontinuum, kein Kontinuum! : so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht)
Flamme: da fletscht ein nacktes Siedlungshaus in giftgrünem Gesträuch: Nacht.
Flamme: gaffen weiße Sichter, Zungen klöppeln, Finger zahnen : Nacht.
Flamme : stehen Baumglieder; treiben Knabenreifen; Frauen kocken; Mädchen schelmen blusenauf: Nacht! ...  -  Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns. 1953

Ich (4) 

Ich (5) 

 

 
Auch mein Bild kam aus schwarzem Dintenfaß.
Als ich es sah, da wurd ich leichenblaß.
Aus dem Kopfe kommen schwarze Dünste,
Der Arznei- und Dichtkunst schlechte Künste,
Meines ganzen eitlen Lebens Dunst,
Scham, daß ich unwert war so vieler Gunst.
Schaut den alten Leib, der ein Gerippe,
Während ich am Lebensbaum noch nippe,
An den Füßen schaut die Erdenschwere,
Oh! wenn die noch abzustreifen wäre!
Ich vermag es nicht, und ihre Macht
Zieht mich nieder in des Hades Nacht.

- (ker)

Ich (6)... wurde am 15. März 1889 in Karlsbad geboren. In dieser Stadt besuchte ich das Gymnasium, wo ich in dem römischen Schriftsteller P. Ovidius Naso die erste Bekanntschaft mit einem subtilen Geist machte und in Gestalt des Lehrkörpers mit der menschlichen Niedertracht. Ich galt als subversives Element, obwohl ich mich damals nur für Stubenmädchen interessierte und auch sonst bemühte, dem genannten Schriftsteller Ehre zu machen. Das Jus-Studium, das ich mit achtzehn Jahren begann, kam nicht zur Ausführung, sondern Wien, das zu jener Zeit eine sehr beherzigens-werte Stadt war. Mir ist es noch heute rätselhaft, wie es möglich war, daß ich die rechtshistorische Staatsprüfung bestand. Kurz darauf brachte ich einen Spielgewinn an der Hand eines Münchner Faschings durch und fuhr mit dem letzten Goldstück nach Berlin, wo ich mich vierzehn Tage hindurch langweilte, weil ich nachts schlief. Als ich anfing, es umgekehrt zu halten, amüsierte ich mich drei Jahre dermaßen, daß meine Liebe für diese Stadt ebenso unausrottbar bleibt wie die für ihren Argot. Da eine hinter meinem Rücken für mich ordnende Hand mich in Wien weiter inskribiert hatte, konnte ich der Lockung, meine Schulden bezahlt zu sehen, insofern nicht widerstehen, als ich beabsichtigte, vier Monate in Greifswald zu schlafen. Das Resultat war trotzdem positiv, wofür ich mich bei Ovid zu bedanken habe. Ich brachte nämlich das Gespräch auf ihn, und da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor utriusque juris. Es hat mir lange Zeit hindurch sehr genützt. Denn ich entschloß mich bald darauf, keine vorgeschriebene Laufbahn zu ergreifen (gibt es eine schönere Phrase?), sondern in Europa spazieren zu fahren. Der Familienvater, der merkt, daß einer keinen bürgerlichen Lebenswandel führt, ist im allgemeinen sofort davon überzeugt, daß ein ungesetzlicher geführt wird. Das weite Feld der Möglichkeiten, das zwischen diesen beiden Polen liegt, vermöchte ihm nur eine hemmungslose Phantasie zu zeigen. Der Doktortitel nun verzögert jene Überzeugung, indem er die Phantasie zivil anregt. Als der Weltkrieg ausbrach, war ich aber immerhin schon so übel beleumundet, daß mein vierjähriger Zwangsaufenthalt in der Schweiz mir mancherlei Distraktion verschaffte und im übrigen die Muße zur Niederschrift eines für jedermann lehrreichen Handbreviers, »Letzte Lockerung« betitelt, das letzthin Entschlossenheit als wertvoller erklärt als Erfahrung. In den Alpen, für die ich nicht das geringste übrig habe, schrieb ich auch die 33 hanebüchenen Geschichten »Zum blauen Affen«, die zwar einige Kenner sehr priesen, aber meinen schlechten Ruf endgültig befestigten. Als der Weltkrieg zu Ende war, stieg ich wieder in die Eisenbahn. Ich muß gestehen, daß es mich schon langweilt. Aber es ist doch von allem Angenehmen, woran der Globus nicht allzu reich ist, das am wenigsten Ermüdende. Störend empfinde ich nur, daß man mir kontinuierlich die geschmacklosesten Motive unterschiebt. Ich er-kläre deshalb feierlich, daß ich weder Bordellbesitzer bin noch die rechte Hand von Boris Ssawinkow, den ich leider nicht persönlich gekannt habe; daß ich den Berlin-N-Jungen liebe, den deutschen Double-Mokka aber als scheußliche Tunke bezeichne; daß ich den Umgang mit Menschen für ein Psycho-Dancing halte und Lichtenbergs Aphorismen sowie Flauberts »November« für eine gute Vorschule; daß ich der österreichischen Memphis-Zigarette nachtrauere, nicht aber den sie einst in Massen konsumierenden Leutnants; daß ich das von mir sehr geliebte Jicky-Parfüm vermittelst eines Vaporisateurs verwende und jene nicht begreife, die mir deshalb jede Intelligenz absprechen; daß mir Politik zum Kotzen ist, der italienische Lazzo aber sympathisch; daß ich zartfühlend bin, faul, neugierig und roh; daß ich viele Französinnen für exquisite Geschöpfe halte, die meisten Russen aber für Hysteriker; daß ich weder für Skoda reise noch für den Kaiser der Sahara, sondern zu meinem Vergnügen; und daß ich einen tschechoslowakischen Paß besitze und glücklicherweise eine harte Haut. - Walter Serner

Ich (7)
Suleika
Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn, zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit

Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.

Hatem
Kann wohl sein! so wird gemeinet;
Doch ich bin auf andrer Spur:
Alles Erdenglück vereinet
Find ich in Suleika nur.

Wie sie sich an mich verschwendet,
Bin ich mir ein wertes Ich;
Hätte sie sich weggewendet,
Augenblicks verlör ich mich.

Nun mit Hatem wär‘s zu Ende;
Doch schon hab ich umgelost:
Ich verkörpre mich behende
In den Holden, den sie kost.

Wollte, wo nicht gar ein Rabbi,
Das will mir so recht nicht ein,
Doch Ferdusi, Motanabbi,
Allenfalls der Kaiser sein.

- Goethe, West-östlicher Divan

Ich (8) Man muß blind oder von albernem Hochmut besoffen sein, um sich für etwas anderes zu halten als für ein Tier, das den anderen kaum überlegen ist... Sieht man denn nicht, daß wir stets in uns selbst eingesperrt sind, ohne aus uns heraus zu können, stets dazu verurteilt, die Kette unseres Traumes ohne Aufschwung mitzuschleppen...  - Guy de Maupassant, nach (err)

Ich (9) Eines, wenn bitten darf, ist strikte zu beachten: außer dem Park, den ich nun habe, verlange noch eine Leistung, von der gesamten Bevölkerung geleistet. Die ist: Ruhe, Abgeschiedenheit. Bin für die Stadt nicht vorhanden, für niemanden, und niemand ist für mich vorhanden. Will mit einhundertfünfzig Millionen nicht nur Bäume und Wasser bezahlt haben, sondern vorzüglich das Recht, ich selbst und allein und ungestört und einsam zu sein. Niemandes Bruder bin ich, bin niemandes Neugier, niemandes Fürsorge, niemandes Betulichkeit. Dies vor allem. - Hciebel Solneman, nach Alexander Moritz Frey, Solneman der Unsichtbare. Frankfurt am Main 1984 (BS 855, zuerst 1914)

Ich (10) Ich bin schon oft daran gegangen vor dem Spiegel meiner Einbildungskraft sizend, mich selbst leidlich zu portraitiren, habe aber immer in das verdammte Antliz hineingeschlagen, wenn ich zulezt fand, daß es einem Vexirgemälde glich, das von drei verschiedenen Standpunkten betrachtet, eine Grazie, eine Meerkaze und en face den Teufel dazu darstellt. Da bin ich denn über mich verwirrt geworden, und habe als den lezten Grund meines Daseins hypothetisch angenommen, daß eben der Teufel selbst, um dem Himmel einen Possen zu spielen, sich während einer dunkeln Nacht in das Bette einer eben kanonisirten Heiligen geschlichen, und da mich gleichsam als eine lex cruciata für unsern Herrgott niedergeschrieben habe, bei der er sich am Weltgerichtstage den Kopf zerbrechen solle.   -  [August Klingemann,]  Nachtwachen von Bonaventura. Frankfurt am Main 1974 (it 89, zuerst 1804)

Ich (11) Eine Autobiographie schreiben heißt soviel wie dem Publikum unsere intimsten Wäschestücke zeigen. Ich werde es tun, obwohl ich der Meinung bin, daß dies niemals eine aufrichtige Tat ist, weil man für diese Gelegenheit saubere Wäsche anlegt.

Ich kann nur das erste Kapitel schreiben, da ich das zweite erst erleben muß.

Alter:  26 Jahre
Statur: 1,75 m
Gesichtsfarbe: rosig
Gestalt:        schlank
Zähne:  gesund
Nase:  regelmäßig
Kinn:   desgleichen
Mund:   desgleichen
Besondere Kennzeichen: habe keine
Mein Strafregister: unbestraft
Vollendete Studien: Universität, wo ich auch in irgendeinem Fach promoviert haben muß
Bei Kriegsbeginn wurde ich geimpft.
Kragenweite: Nr. 37
Ich bin noch nicht syphilitisch.
Schädelbildung: Längendurchmesser 31 cm, Breitendurchmesser 31 cm. Ich bin also ein Quadratschädel. Ein blonder Quadratschädel.

Soweit die Anthropologie.

Bis 2 Jahre uninteressant
Mit 4 Jahren: Typhus
Mit 12 Jahren: mannbar
Mit 13: erste Zigarette; Erbrechen; letzte Zigarette
Mit 19: perverse Liebe zu einer Frau mit Brille. Es gibt nichts Groteskeres, als eine nackte Frau mit Brille. Dieser schaudererregende Anblick hatte großen Einfluß auf mein Leben, wie gewisse als Knabe empfundene Schrecknisse.

Mit 20: Liebe zu einer Frau, die mich nicht liebte.
Mit 21 Die Frau liebte mich noch immer nicht. Mit 22 noch immer nicht, aber gegen Ende des Jahres entschloß sie sich.

Mit 23, 24, 25, 26: stürmische Liebe für dieselbe Frau. Ich bin ein Musterbeispiel der Beständigkeit und Treue, würde verewigt werden, wenigstens in einem Operettentext oder in einem parfümierten Taschenkalender.

Ich bin rachsüchtig wie die Rothäute, ich habe das rachgierige Gedächtnis der Elefanten.

Ich habe lange in Turin gelebt, der Stadt der Türme und der Dummköpfe.

Ich habe einige unwerte, unmoralische kleine Machwerke veröffentlicht, die viel Beifall bei den Angekränkelten fanden.

Ich habe eine Charakteristik einer Dichterin geschrieben, um zu beweisen, daß das, was man über unsere Beziehungen flüsterte, falsch ist. Es kann mir aber nicht gelungen sein, denn was man erst flüsterte, schreit man jetzt über die Dächer.

Auf meinem Passivum stehen einige Verse. Verse sind eine Sache, die niemand liest, die aber alle schreiben.

In allen hervorragenden italienischen Zeitschriften habe ich Artikel publiziert. Einige sind nicht abscheulich.

Häufig war ich im Begriff, Bücher von 400 Seiten herauszugeben. Aber ich besitze die Gabe jenes wohltätigen geistigen Abzugsgrabens, den man Selbstkritik nennt.

Meine Verse erscheinen in der Zeitschrift Die Frau, ein intellektuelles Blatt. Aber das hat nichts zu sagen! Ich habe auch für Die Nummer, eine humoristische Turiner Halbmonatsschrift, geschrieben. Und was das Schlimmste ist, ich habe die Gewissenlosigkeit gehabt, zu unterzeichnen. Eine üble Angewohnheit noch aus der Knabenzeit.

In Turin habe ich immer allen gesagt, was ich dachte, und mir damit ein Wanzennest von Feinden geschaffen, das mir die Pforten des Turiner Journalismus verschloß. Ein Nicht-Turiner Direktor — Itala Minunni — war es, der sie mir öffnete.

Eine Mailänder Zeitung nahm gastlich eine größere Anzahl meiner Schmähungen gegen die Mitbürger auf, die mir eine neue Schar von Feinden einbrachten, sie rächten sich damit, daß sie versuchten, mir einen Ruf als Päderast, als Zuhälter und als Liebhaber meiner Schwester zu machen...

In Rom lernte ich einen vulkanischen, erfolgreichen, dynamischen Journalisten kennen, der mich zu sich in die Redaktion des Epoca nahm und mich dadurch in einem Jahr die Karriere des Journalismus durchlaufen ließ, die man in Turin nicht in dreißig Jahren kennenlernt.

Ich kann nicht italienisch schreiben, denn wir Norditaliener müssen das lernen, wie man eine fremde Sprache lernt.

In Paris spreche ich französisch. Ich muß einen ausgezeichneten Akzent haben, denn niemand merkt, daß ich Italiener bin. Ich glaube, man hält mich für einen Moldau-Slowaken.

Ich verstehe nichts von Politik. Zuweilen lese ich den Leitartikel meiner Zeitung, um zu wissen, wie mein Direktor darüber denkt und welches dementsprechend meine aufrichtige und spontane politische Überzeugung sein muß.

Meine Unempfindlichkeit für die äußere und die innere Politik ist die beste Garantie für ein ungetrübtes Urteil. Als Sonderkorrespondent zur Wahlberichterstattung nach Neapel geschickt, habe ich fünfundzwanzig Artikel geschrieben, ohne etwas davon zu verstehen. Eben damals begann ich an ein Unterbewußtsein zu glauben. Aber mit Sport mußte ich mich beschäftigen, obschon ich das Pferd nicht vom Jockey, den Radler nicht vom Fahrrad unterscheiden kann. Und ich rühme mich dessen.

Beinahe hätte ich eine Wochenschrift zugrunde gerichtet durch einen Artikel gegen den Egoismus der Alten. Die alten Leute erfreuten sich in unserer Heimat einer guten Presse. Und mein Artikel wirkte so alarmierend, daß viele das Abonnement aufgaben, und andere begnügten sich mit schriftlichen Injurien, für den Direktor und mich gemeinsam bestimmt.

Mir gefallen die keck hingeworfenen Skizzen. Ich verabscheue die Literatur, wo die Leute in Hemdsärmeln den Gemüsegarten begießen, Karten spielen, sich die Nase mit den Fingern schneuzen, wo die Frauen <Mütterchen Rosa> heißen und die Männer <Gevatter Tonio>. Ich lese nur Romane und Novellen, in denen die Männer seidene Hemden tragen und die Frauen jeden Morgen ein Bad nehmen.

Ich bin Vegetarier, aber wenn ich Gäste habe, esse ich Fleisch, um nicht wie ein Poseur zu wirken. Und da ich nicht daran gewöhnt bin, so esse ich auch welches, wenn ich allein bin, um mich zu gewöhnen.

Ich trinke keinen Alkohol. Ich glaube, daß nur wenige Alkohol trinken. Weißwein und Liköre, ja.

Ich liebe die Hunde, und in jeder Novelle lasse ich einen auf-treten, wie Veronese auf seinen Bildern. (Auch in meinen Vergleichen bin ich bescheiden.)

Ich halte die Feder zwischen dem Zeigefinger und Mittelfinger wie alle intellektuellen Friseure, aber ich habe mich nöch nicht vor meinem Schreibtisch fotografieren lassen, mit dem Bücherschrank im Hintergrund und vor meinen inspirierten Augen eine welkende Rose.

Ich habe kein Motto, das ich auf mein Briefpapier drucken lassen könnte, aber wenn ich eines wählen müßte, so würde ich mir Yang-biüs zu eigen machen: ›Wenn du mit einem deiner Haare das Weltall retten könntest, gib es nicht her!‹

Keine Frau hat sich je meinetwegen die Pulsadern durchgeschnitten. Ich habe kein phantastisches Glück bei den Frauen, da ich niemals weiß, was ich zur Richtschnur zu nehmen habe. Begehrst du sie, so sagen sie, du seiest vulgär wie all die anderen Männer, begehrst du sie nicht, so sagen sie, du bist impotent.

Ich beneide niemanden. Das einzige, was ich beneidenswert finde, ist physische Kraft.

Geld verdient man, oder man stiehlt es.

Berühmtheit erlangt man durch Bluff.

Aber die Kraft muß man als eine Gabe der Natur empfangen, wie den Buckel oder den Kretinismus. Ich möchte stark sein, um fünfundsiebzig von hundert meiner Nächsten eins in die Fresse zu geben.

Ich habe viele Jungfrauen in meiner Gewalt gehabt, aber ich habe allen ohne Blutvergießen freien Abzug gewährt.

Ich suche keine Gattin.

Kinder habe ich nicht. Und ich leide darunter. Ich möchte, daß eine Frau mir ein Kind schenkte und dann fortginge, um, wenn sie will, fur andere welche in die Welt zu setzen, aber mich sofort von ihrer Gegenwart befreite. Einen Sohn, der zehn Jahre alt wäre, während ich noch jung genug bin, um ihm eine vorurteilsfreie, nicht durch meine unvermeidliche Dekadenz verdorbene Erziehung geben zu können.

Wenn irgendein dummes oder sonstiges junges Mädchen mich fragte, ob es wahr sei, daß ich mir das Haar mit Sauerstoff bleichte, antwortete ich, nein.

Und alle wären überzeugt, daß ich es mir bleichte.

Jetzt sage ich, daß ich es bleiche.

Und keiner glaubt es mir.

Ich habe keine Achtung, weder vor Männern noch vor Frauen.

Alle Frauen sind wertlos, außer unserer Mutter und der Frau, die wir im Augenblick lieben.

Frauen, die, wenn sie allein sind, lieber kilometerlange Wege zu Fuß zurücklegen, um die zwanzig Centesimi für die Trambahn zu sparen, verlangen — sobald sie mit einem Mann sind — ein Auto, um über den Damm zu gelangen. Viele Frauen verkaufen sich, die eine für einen Kaffee, eine andere für ein Abendessen, eine dritte für eine Eintrittskarte ins Kino; diese gibt sich hin, um für ihren Gatten eine Beförderung zu erlangen, jene andere, um ihrem Sohn Essen zu verschaffen, wieder eine andere aus edler Rache und eine dritte, um die Ehre der Familie zu retten.

Die Männer sind alle Diebe, ausgenommen unser Vater und der Mann, mit dem wir gerade reden. Die Ehrlichkeit der Männer ist nach einem Tarif geregelt. Jedes Gewissen hat einen Tarif. Es gibt Leute, die Gemeinheiten für acht Soldi begehen, und solche, die sich nicht entschließen würden, es für eine Million zu tun.

Aber wenn ihr ihnen zwei bietet, werden sie sie begehen. Geben sie bei zwei Millionen nach, versucht es und bietet ihnen drei.

Der Bestechlichkeitsgrad der verschiedenen Gewissen ist wie der Schmelzpunkt der verschiedenen Metalle. Jedes Gewissen hat seinen Schmelzpunkt. - Aus: Pitigrilli, Luxusweibchen. Reinbek 1988, rororo 12201, zuerst 1922

Ich (12) Von außen gesehen, verlief mein Leben nicht ohne Glück. Ich kam auf ein humanistisches Gymnasium und konnte trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und vieler Geschwister, die auch ihr Recht beanspruchten, das studieren, was meiner Neigung entsprach: Medizin und Naturwissenschaften, also die Disziplinen, die im spezifischen Sinne das letzte Jahrhundert erkenntnismäßig bestimmten, Und das in einer Zeit, wo man noch wirklich studierte: mit Muße, mit Abschweifungen, mit "Nebendingen". Vieles, was dann kam, verdanke ich mehr meiner Indifferenz als meinem Charakter. Ich war in keiner Partei und nicht in der Loge, obschon ich in gewissen Zeiten zu ihr Beziehungen hatte, was sich dann als Vorteil erwies, in den Kriegen kam ich wie durch ein Wunder aus mancher Patsche heil heraus, auch aus Verhaftungen und Flurstreifen und Kommissaren. Als Arzt war ich in heillosen Situationen, aber sie gingen günstig aus. Jeder Arzt, auch der vornehmste und korrekteste, und zu denen kann ich mich nicht einmal rechnen, kommt durch seine engen Verpflichtungen gegenüber seinen Patienten und deren Familien einerseits und andererseits den vielfach im einzelnen strengen Gesetzen und Verordnungen in schwierige Lagen, und wenn sie unglücklich enden, ist ihm Anklage und Strafe sicher. Weiter: als ich als Schiffsarzt bei der Hapag fuhr, ging ich mit einem Segler nach Wladiwostok nicht auf große Fahrt, da meine Neigung zur Seekrankheit schon auf Passagierschiffen so groß und unbeeinflußbar war, daß ich mich scheute und der Segler kam nie zurück. Ich war immer so gesund, daß ich als Arzt mein Geld schlecht und recht verdienen konnte.

Einmal, etwa um 1930, hatte ich einen Patienten, dem ich das Angenehmste verdanke, nämlich mehrere große Reisen.

Er war Kunsthändler, Inhaber einer bekannten Gemäldegalerie, wir fuhren in seinem großen Horch von Berlin über Paris, Biarritz nach Spanien, aber vor allem in Südfrankreich herum und in den Pyrenäen. Es waren Geschäftsreisen. Wir gingen dann in den kleinen Orten in die entsprechenden Etablissements, auch in Schlösser und mit besonderer Vornehmheit in einige Klöster, und dann begann unsere Litanei:

"Nous cherchons des antiquités surtout des Primitifs et des tableaux de grand valeur“ — sah mein Bekannter dann etwas, was ihm gefiel, wovon er sich etwas versprach, und in seiner Karriere hatte er einige kostbare Trouvaillen gemacht, schlenderte er zunächst weiter durch die Räume, kritisierte dies und das, drehte dies und jenes hin und her, und schließ-lich, schon in der Tür, sagte er, ich habe Sie so lange aufgehalten, ich will nicht ganz ohne etwas fortgehen, tun Sie mir bitte das in meinen Wagen — und wie gesagt, hin und wieder — er war ein großer Experte — stellten sich dann in Berlin die schönsten Seltenheiten heraus. Reisen, die ich mir nie selber hätte leisten können — unvergeßliche Täge am Atlantik, in den Monts Maudits und an der Méditerranée.

Unterhaltlich bin ich kein Matador, ging nie auf Fêten, nicht aus Ablehnung, sondern aus einem physiologischen Grunde, der mein ganzes Leben so beherrschte, daß ich ihn erwähne: eine Müdigkeit von hohen Graden, eine gehirnliche Schwere innerer und äußerer Art, die ich geradezu als Widerstand gegen Eindrücke bezeichnen muß — ich versuchte es mit allen Mitteln zu bekämpfen, aber meistens vergeblich. Ich lebte also so dahin in Wohnungen mäßigen bis mittleren Grades ohne viel Verbindungen, aber 1932 trat jener Herr Oelze aus Bremen in mein Leben, den ich selten sah, in dessen Haus ich nie war, mit dem ich, mit dem wir beide gegeneinander hinsichtlich des Privaten immer "die Regeln wahrten", der mich aber brieflich hoch- und wachhielt und in jenen Jahren Balsam in meine Schrunden träufelte. Literarisch spezialisiert war der Grund seines ersten Besuches bei mir mein Aufsatz über »Goethe und die Naturwissenschaften«, der in dem dann berühmt gewordenen Heft der »Neuen Rundschau« im April 1932 stand — in seinem Alt-Bremer Patrizierhaus war Goethe seit Generationen sehr gepflegt. Aus diesem Besuch entwickelte sich eine Korrespondenz, immer wachsend, die sich heute auf nahezu zweitausend Briefe belaufen wird, und vieles von dem, was in meinen neuen Büchern steht, fand sich als Keim und Setzling in unseren schriftlichen Gesprächen auf jenen blauen Bogen, die er wie ich benutzten. Ich habe ihm daher die erste Arbeit, die nach 1936 wieder erschien, »Die drei alten Männer«, in Dankbarkeit gewidmet. Und dann fand ich noch in späten Jahren, nach viel Unglück und Tod und Trauer in dieser Richtung, eine dritte Frau, eine Generation jünger als ich, die nun mit zarter und kluger Hand die Stunden und die Schritte und in den Vasen die Astern ordnet. - Gottfried Benn, Doppelleben (1949)

Ich (13)   Millionen von Empfindungen zum Beispiel, ebenso verschieden von dem kleinen Katalog derjenigen, die heute die sensibelsten Menschen haben, sind kennenzulernen, zu erproben. Aber nein! Der Mensch wird sich noch lange damit begnügen, »stolz« oder »bescheiden« zu sein, »aufrichtig« oder »heuchlerisch«, »fröhlich« oder »traurig«, »krank« oder »wohlauf«, »gut« oder »böse«, »sauber« oder »schmutzig«, »dauerhaft« oder »vergänglich« usw. usw., mit allen Kombinationen dieser jämmerlichen Eigenschaften.

Nun gut! Was mich betrifft, so lege ich Wert darauf zu sagen, daß ich etwas anderes bin und zum Beispiel außer allen Eigenschaften, die ich mit der Ratte, dem Löwen und dem Netz gemeinsam habe, auf die des Diamanten Anspruch erhebe, und übrigens fühle ich michi ganz und gar solidarisch sowohl mit dem Meer als auch mit der Klippe, gegen die es brandet, und mit dem Kiesel, der dabei entsteht und von dem man weiter unten beispielsweise den Versuch einer Beschreibung findet, ohne alle Eigenschaften vorwegzunehmen, von denen ich hoffe, daß sie für mich durch die Betrachtung und die Benennung sehr verschiedener Gegenstände zu Bewußtseinsinhalten und Gegenständen wirklichen Genusses werden.  - (lyr)

Ich  (14)   Amergin setzte als erster seinen Fuß auf festen Boden, und als er an der Küste Irlands stand, sprach er dies:
 

Ich bin der Wind auf der See;
Ich bin eine Welle auf der See;
Ich bin der Stier der sieben Schlachten;
Ich bin der Adler auf dem Fels;
Ich bin ein Strahl aus der Sonne;
Ich bin die Schönste der Pflanzen;
Ich bin ein starker, wilder Eber;
Ich bin der Lachs im Wasser;
Ich bin ein See in der Ebene;
Ich bin ein Wort Weisheit;
Ich bin eine Speerspitze in der Schlacht;
Ich bin ein Gott, der Feuer wirft ins Gehirn;
Wer verbreitet Licht über dem Hügel?
Wer kennt die Phasen des Mondes?
Wer kennt den Platz, an dem die Sonne ausruht? 

- (anders)

Ich  (15)    (11.  Karte: 24. Nov. 72)/-> ich denke, daß die Durchschnittsmenschen dermaßen zu sind ("geschlossen"), daß sie gar nicht sehen,wo, in welcher Welt, welcher Zeit, an welchem Ort sie leben & was für Bilder, Eindrücke, die im abwesenden Zustand, während ihre Gedanken woanders sind, in sie eindringen wie Viren & sie zerfressen — oder sie wollen es nicht sehen, im Gegensatz zum ersten, und dann frage ich mich heimlich, was haben sie als Einzelne dagegen zu setzen? Da verbergen sie ihre Schätze, wenn es welche sind, und drucksen verlegen herum./Ich fühle mich manchmal ungeheuer leer, ohne Ideen, ohne Gedanken, ohne Vorstellungen: ich sehe mich um, was ist da, was ist los? Ich habe nur, das weiß ich, diese Gegenwart, in der ich mich befinde konkret zur Verfügung, diesen Augenblick & das Material, was darin ist — mehr nicht, aber doch, trotz dieser Beschränkung habe ich jedesmal eine viel größere Ansicht & Einstellung zu dem, was da ist, als das, was zu mir spricht aus dem, was da ist, 1 Zimmer, 1 Essen, 1 Straße, 1 Mensch, 1 Gespräch, 1 Idee, die geäußert wird — das ist kein Traumzustand, liebe Maleen, wie Du meinst, es ist keine Flucht aus der Gegenwart, deren Beschränkungen ich überall sehe, aber ich sehe auch die Verrottung, & immer ist in mir die weitere, hellere Vorstellung, & sie muß möglich sein.- (rom)

Ich (16) Gewandtheit und Anlagen habe ich nicht gehabt; und doch bin ich der Sohn eines sehr rüstigen Vaters, dem seine Munterkeit bis ins hohe Alter treu blieb. Es fand sich kaum ein Mann seines Standes, der es in jederlei Leibesübung mit ihm aufgenommen hätte: so wie ich kaum jemand getroffen habe, der es mir nicht zuvortat, ausgenommen im Laufen (worin ich so das Mittelmaß halte). In der Musik hat man mir nie etwas beibringen können, weder im Singen, denn ich habe eine sehr ungefüge Stimme, noch auf Instrumenten. Im Tanz, im Ballspiel, im Ringen habe ich es nur zu einer geringen und sehr landläufigen Fertigkeit bringen können; im Schwimmen, im Fechten, im Kunstreiten, im Springen überhaupt zu keiner. Meine Hand ist so ungelenk, daß ich kaum für mich selber leserlich schreiben kann: dergestalt, daß ich das, was ich hingekritzelt habe, lieber von vorn wieder anfange, als daß ich mir die Mühe mache, es zu entziffern; und ich lese nicht viel besser vor. Ich merke, daß ich den Zuhörern zur Last falle. Im übrigen ein leidlich belesener Mann. Ich weiß keinen Brief recht zu falzen, noch eine Feder zu spitzen, noch bei Tisch vorzulegen, wie es sich gehört, noch ein Pferd aufzuzäumen, noch einen Falken recht zu tragen und steigen zu lassen, noch mit Hunden, mit Jagdvögeln oder mit Pferden zu reden.

Meine körperlichen Eigenschaften stimmen im ganzen sehr gut mit denen meiner Seele überein. Es ist nichts Aufgewecktes an ihr: es ist nur eine volle und feste Rüstigkeit. Ich halte in Beschwerlichkeiten gut aus; aber ich halte aus, wenn ich sie aus eigenem Willen auf mich nehme, und in dem Maße, in dem meine Neigung mich dazu treibt,

Molliter austerum studio fallente laborem.

Anders, wenn mich nicht irgendein Vergnügen dazu anlockt und ich nicht meinem unbedingten freien Willen folge, tauge ich dabei nichts. Denn ich bin so weit gekommen, daß es außer Gesundheit und Leben nichts in der Welt gibt, wofür ich mir ein graues Haar wachsen lassen oder was ich um den Preis von Kopfzerbrechen und Zwang erkaufen möchte, äußerst geruhsam, äußerst ungebunden, sowohl von Natur als aus Vorsatz. Ich gäbe ebensogern mein Blut wie meine Mühe her. Ich habe eine Seele, die ganz sich selbst gehört und gewohnt ist, sich nach ihrem Gefallen zu benehmen. Da ich bis auf diesen Tag keinen Gebieter noch aufgedrungenen Herrn gekannt habe, bin ich stets bis dahin und so gemächlich gegangen, wie es mir behagte. Das hat mich träg und zu fremdem Dienste untauglich und für niemanden als für mich selbst nütze gemacht. Und für mich brauchte ich diese schwerfällige, faule und nichtsnutzige Natur nicht zu zwingen. - (mon)

Ich (17) Christie hielt die Zeit für gekommen, einige Prinzipien ( in Ermanglung eines besseren Wortes) für seine Tolle Idee zu kodifizieren. Er nahm sich ein ganzes Wochenende dafür. Dies waren die Prinzipien, die er sich überlegte:

1]      Ich handele allein. Ich suche bei niemandem um Hilfe nach. Ich führe nur solche Aktionen durch, die innerhalb meiner eigenen Fähigkeiten liegen. Ich bin ein Einzeller.

2]      Daraus folgt, dass ich meine Erfolge allein genieße (und mich über meine Fehlschläge allein gräme). Von beidem erzähle ich niemandem. Nicht einmal der Neuntöterin.

3]      Ich habe mir selbst gegenüber die Pflicht, sowohl anzugreifen wie auch zu überleben, um erneut angreifen zu können.

4]      Ich darf mich in keinster Weise von meiner Umgebung unterscheiden. Ich sollte zufrieden wirken mit dem Job, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene.

5]      Ich brauche nicht mehr Geld, als ich verdiene, und sollte keine Projekte starten, die mehr Geld erfordern, als ich normalerweise habe.

6]      Ich sollte mich nicht für klüger halten, als ich bin. Nach einem Großprojekt sollte ich wieder zu kleineren zurückkehren.

7]      Jedes Projekt ist wichtig, und sei es noch so unbedeutend.

8]      Ich greife immer an (falls ich angreife, falls ich aktiv bin), ich verteidige mich nie. Wenn ich mich verteidige, bedeutet das, dass sie wissen, dass ich da bin, um anzugreifen: Das darf nie geschehen. Wenn ich gezwungen bin, mich zu verteidigen, bin ich geliefert.

9]      Mein Hauptvorteil ist, dass ihr System mich als nicht klug genug eingestuft hat, um ihnen bekannt zu sein: Um effektiv zu sein und es auch zu bleiben, muss ich dieses Unbekanntsein ebenso bewahren wie mein Leben.

10]     Obwohl es so wichtig ist, dass ich von ihrem Standpunkt aus unbekannt, ein Niemand bin, muss ich mir selbst ständig bewusst sein, dass ich kein Niemand bin, sondern dass ich bin, der ich bin. Das heißt, ich muss an meiner inneren Selbstkenntnis festhalten. Wäre dies bloß eine intellektuelle und partielle Verwandlung, dann könnte ich üben, mein wahres Ich durch eine Ortsveränderung zu bewahren. Das heißt, ich könnte nach meinem eigenen Selbstverständnis ich selbst sein, indem ich dieses Ich für diesen einen Ort aufspare. Aber das kann ich nicht tun: Ich muss dieses Ich auch und immer dann sein, wenn ich draußen bin, an den verschiedensten Orten, den Stätten meiner beabsichtigten Triumphe.

11]     Ich darf nicht anwesend sein, wenn eine Aktion stattfindet. Ich muss dem ganz natürlichen Wunsch widerstehen, dort zu sein, um zu sehen, wie es passiert: Ich muss weit weg sein und es wie fast alle Übrigen aus einer anderen Quelle erfahren.

12]     Ich kann es mir nicht leisten, übermäßig hohe Risiken einzugehen; aber ich schöpfe Mut aus dem Umstand, dass ich gesehen habe, dass es zahllose Gelegenheiten gibt, wo die Chancen ganz unbestreitbar zu meinen Gunsten stehen. - Aus: B. S. Johnson, Christie Malrys doppelte Buchführung. Berlin 2002 (Argon, zuerst 1973)

Ich (17) Curriculum vitae Ich, Alois Brandstetter, wurde am 5. Dezember 1938 in Aichmühl bei Pichl bei Wels geboren. Man erreicht Aichmühl von Wels aus über Oberthan, Oberham und Geisensheim, von Bad Schallerbach aus über Holzhäuseln, Winkeln, Oberthambach und Unterthambach. Mein Vater Martin Brandstetter war Besitzer einer kleinen Mühle, einer sogenannten Schwarzbäckerei, eines kleinen Sägewerkes, eines kleinen Elektrizitätswerkes, einer kleinen Landwirtschaft und sechs kleiner Kinder, von denen ich das jüngste, kleinste und schwächste war. Mein Vater mahlte noch in den 30er Jahren, als rundum Kunstmühlen aufkamen, mit Mühlsteinen. Mit einer Kunstmühle zu mahlen, sagte er oft, sei keine Kunst. Mein Vater belieferte fünf Bauern in der Umgebung mit Strom. Wenn einer seiner Elektrizitätskunden eine Kreissäge einschaltete, mußte er seine Mühle abstellen, weil der Strom dann hinten und vorne fehlte. Immer habe ich meinen Vater bewundert, weil er keine Kunstmühle hatte, und weil er Treibriemen mit seinen bloßen Händen bei laufendem Antrieb auflegen und abwerfen konnte. Die größte Freude hatten meine Geschwister, wenn sie der Sägeknecht auf dem Blockwagen reiten ließ. Das Faszinierende an dieser Fahrt auf den Baumstämmen zum Sägeblatt war wohl ihre außerordentliche Langsamkeit. Es dauerte einen halben Vormittag, bis sich die einspännige Säge durch den Block gebissen hatte, und doch sprangen meine Geschwister immer mit einer solchen Überstürzung und Hurtigkeit schon Meter weit vor dem sägenden Eisen von ihrem Gefährt, als sei bereits höchster Alarm. Ich aber, der jüngste, kleinste und schwächste, stand immer abseits. Ich war ängstlich und zaghaft und ständig mit meiner Furcht beschäftigt. Ich hatte Widerwillen und Angst vor Sägeblättern, Bombenangriffen, dem Zahnarzt, dem Tod, dem Wasser, den Lehrern, dem Gewitter, der Hölle, den Zigeunern, Messer, Gabel, Schere, Licht, vor Backöfen und Jauchegruben, vor Pferden, Kühen, Schweinen, Hunden, Katzen, Ratten und Mäusen, vor dem Wolf, der Nacht und ihrer Finsternis, der Turbine. Ich hatte Angst, daß ich mit meinen Zähnen die Hostie beschädigen und den Herrn Jesus verletzen könnte. Ich hatte Angst vor den Pocken, Masern und Windblattern, dem Nesselausschlag, der Höhe und der Tiefe, dem Friedhof, den Erlen am Bach, vor den Sieben Hauptsünden, den Sünden gegen die Zehn Gebote Gottes, namentlich die Unkeuschheit, die Fünf Gebote der Kirche, vor dem Schulmeister, den Dienstboten, dem Heuboden, dem Hühnerstall, dem Nikolaus, dem Krampus und der Habergeiß. Jch hatte Angst, daß mir vielleicht schon einmal die Sünde wider den Heiligen Geist, die nicht vergeben wird, unterlaufen sein könnte. Ich hatte Angst vor den Rauhnächten, dem Bettnässen, den Amerikanern und den Russen, vor der Hexe, den Verwandtenbesuchen, vor Sensen, Äxten, Sicheln und glühenden Öfen, dem Wolkenbruch, dem Schnee, dem Hagel, dem Sonnenstich, meinem Geschlechtsteil, der Pilzvergiftung, den geschluckten Kirschkernen, dem Spinat, der Einbrennsuppe, fettem Fleisch, Totenwachten, dem Rosenkranzbeten, der Peitsche und dem lieben Gott.

Vor allem die Gottesfurcht war bei mir sehr stark und schön ausgeprägt. Darum sagte unser Pfarrer, daß mich Gott zum Priestertum berufen möchte, und daß ich Adsum sagen solle. Ich sagte Adsum und kam als Zehnjähriger an das Bischöfliche Knabenseminar Kollegium Petrinum nach Urfahr. Wider alles Erwarten befiel mich aber dort zwei Jahre später eine heftige Pubertät. Ich las während dreitägiger Exerzitien ›Durch die Wüste‹, ›Durchs wilde Kurdistan‹, ›Von Bagdad nach Stambul‹, ›In den Schluchten des Balkan‹, ›Durch das Land der Skipetaren‹ und ›Der Schut‹. Ich habe oft Unkeusches gedacht, geredet und begehrt. Ich habe mir wochenlang die Zähne und die Schuhe nicht geputzt. Ich habe mich nicht an das Silentium religiosum im Schlafsaal gehalten. Ich habe den Küchenmädchen zugezwinkert. Ich habe behauptet, daß mir die tägliche Zwiebelsuppe langsam bis zum Halse steht. Ich habe gesagt, daß ich lieber Müller werden möchte als Pfarrer. Ich habe nicht mitgesungen und mitgebetet. Ich bin, statt der heiligen Messe andächtig beizuwohnen, lieber auf dem Abort gesessen. Ich habe mich mit dem Präfekten auf nichts eingelassen. Ich habe mich selbst befriedigt. Ich habe schludrig ministriert. Meine Kniebeuge war nicht exakt. Ich bin nicht zum Altar geschritten, sondern geschlurft. Ich habe mich des heiligen Petrus unwürdig erwiesen. Ich war froh, als ich entlassen wurde. Nach dem Kollegium Petrinum kam ich an ein öffentliches Gymnasium. Ich konnte vom Petrinum her perfekt Latein. In Mathematik brauchte ich aber Nachhilfestunden. Schließlich maturierte ich mit Auszeichnung. Das ließ sich an dieser Schule bei durchschnittlicher Intelligenz gar nicht vermeiden. Daraufhin ging ich nach Wien und studierte an der Alma Mater Rudolphina Germanistik und Geschichte. Ich schrieb Referate über die Rolle der Westindischen Kompanie, die Kindertotenlieder bei Eichendorff und Rückert, die Querela de divisione imperii des Florus von Lyon, über Ferdinands II. Verhältnis zu den Schönen Künsten und die Damnatio memoriae der frühen römischen Kaiserzeit. Ich wurde zuletzt mit meinen Laut- und bedeutungskundlichen Untersuchungen an der Mundart von Pichl bei Wels zum Doktor der Philosophie promoviert. In dieser Arbeit schreibe ich auf der letzten Seite: Curriculum vitae. Ich, Alois Brandstetter, wurde am 5. Dezember 1938 als Sohn des gewer-betreibenden Müllers Martin Brandstetter und seiner Ehefrau Anna, geb. Berger, in Aichmühl bei Pichl bei Wels geboren. ich bin österreichischer Staatsbürgerschaft und römisch-katholisch usw. - Aus: Alois Brandstetter: Überwindung der Blitzangst. München 1974 (dtv sr 27)

Ich (18) EINIGE AUSKÜNFTE ÜBER NEUNUNDFÜNFZIG JAHRE DASEIN

24. Mai 1899, Namur. Geburt in einer bürgerlichen Familie. Vater aus den Ardennen. Mutter Wallonin, Unter den Großeltern ein Teil, den er nicht gekannt hat, deutscher Abstammung. Ein um drei Jahre älterer Bruder. Entfernte spanische Herkunft.

1900 bis 1906, Brüssel. Teilnahmslosigkeit. Appetitlosigkeit. Widerstand. Desinteressiert. Er meidet das Leben, die Spiele, die Zerstrenungen und die Abwechslung. Abscheu vor Nahrung. Gerüchen, Kontakten. Sein Knochenmark erzeugt kein Blut. Sein Blut ist nicht nach Sauerstoff verrückt. Blutarmut. Träume ohne Bilder, ohne Wörter; reglos. Er träumt von der Dauer, einer gleichförmigen Fortdauer. Sein Dasein am Rande, seine streikende Natur machen angst oder irritieren. Man schickt ihn aufs Land.

1906 bis 1910. Putte-Grasheide. Weiler in der Gegend Campine. Fünf Jahre Internat. Ärmliches, hartes, kaltes Internat. Unterricht auf flämisch. Seine Mitschüler sind Söhne und Töchter von Kleinbauern. Verschwiegen. Verschlossen. Schämt sich für die Umgebung, für alles, was ihn umgibt, für alles, was ihn seit seiner Geburt umgeben hat: schämt sich für sich selbst, schämt sich, nur das zu sein, was er ist, Verachtung auch für sich selbst und für alles, was er bis jetzt kennengelernt hat. Nach wie vor Ekel vor Nahrung, er steckt sie, in Papier eingewickelt, in die Taschen und vergräbt sie dann im Freien.

1911 bis 1914, Brüssel. Rückkehr nach Brüssel. Gerettet! Er zieht also eine Wirklichkeit einer anderen vor. Die Vorlieben beginnen. Vorsicht, früher oder später wird die Zugehörigkeit zur Welt entstehen. Er ist zwölf, Ameisenkämpfe im Garten. Entdeckung des Wörterbuchs, der Wörter, die noch nicht den Sätzen gehören, noch nicht den Phrasendreschern, der Unmenge von Wörtern, die man selbst und nach eigenem Gutdünken verwenden kann. Unterricht bei den Jesuiten. Mit Hilfe des Vaters interessiert er sich für das Lateinische, eine schöne Sprache, die ihn von den anderen absondert und woanders hinversetzt: sein erster Aufbruch. Auch die erste längere Anstrengung, die ihm gefällt. Musik, ein wenig.

1914 bis 1918, Brüssel. Fünf Jahre deutsche Okkupation. Erster Französischaufsatz. Ein Schock für ihn. Was er alles in seiner Phantasie findet! Ein Schock selbst für den Lehrer, der ihn zur Literatur ermuntert. Aber er schüttelt die Verlockung zu schreiben ab, die ihn vom Wesentlichen ablenken könnte. Von welchem Wesentlichen? Dem Geheimnis, von dem er seit seiner frühesten Kindheit vermutet, daß es irgendwo existiert, und von dem die Menschen seiner Umgebung offensichtlich nichts wissen. Lektüren in alle Richtungen. Forschende Lektüren, um seine in der Welt verstreute Familie zu entdecken, wahre Anverwandte, und dann wieder nicht wirklich verwandt, die vielleicht »wissen« (Hello, Ruysbroek, Tolstoj, Dostojewski). Lektüre der Vitae der verblüffendsten, vom Durchschnittsmenschen am weitesten entfernten Heiligen. Auch exzentrische Lektüren der Extravaganten und der Gruppe Jungbelgien mit ihrer bizarren Sprache, die er sich noch bizarrer wünscht. Nach seinem Abitur, da die Universität wegen der deutschen Okkupation geschlossen ist, zwei Jahre Lesen und geistiges Basteln.

1919. Bereitet sich auf die Prüfung in Physik, Chemie, Biologie vor. Tritt nicht zur Prüfung an. Gibt das Medizinstudium auf.

1920, Boulogne-sur-Mer. Mustert als Matrose auf einem Fünfmasterschoner an.

Rotterdam. Zweite Anmusterung. Auf der Victorieux, einem stilvollen Zehntonner, den Frankreich soeben von den Deutschen erhalten hat. Wir sind vierzehn in einem kleinen Logis im Vorschiff. Erstaunliche, unerwartete, stärkende Kameradschaft. Bremen, Savannnah, Norfolk, Newport-News, Rio de Janeiro, Buenos Aires. Bei der Rückkehr nach Rio beklagt sich die Mannschaft über die schlechte Verpflegung, weigert sich weiterzufahren und läßt sich geschlossen krankmelden. Aus Solidarität verläßt er mit ihnen das Schiff... und entgeht dadurch auch dem Schiffbruch, der zwanzig Tage darauf südlich von New York stattfindet.

1921. Die weltweite Verschrottung der Schiffe (früherer Transport von Truppen und Nachschub) erreicht ihren Höhepunkt. Unmöglich, eine Anmusterung zu finden. Das große Fenster schließt sich wieder. Er muß sich vom Meer abwenden. Zurück in die Stadt und zu den verhaßten Leuten. Ekel. Verzweiflung. Allerlei kümmerliche, kümmerlich ausgeübte Berufe.

1922. Lektüre von Maldoror. Ein Ruck... der in ihm bald das lang vergessene Bedürfnis zu schreiben auslöst. Erste Seiten. Franz Hellens und dann Paulhan sehen etwas darin, andere sehen nichts darin. Immer noch reserviert. Er möchte nicht schreiben »müssen«. Das hindert am Träumen, das treibt ihn hinaus. Er rollt sich lieber ein. Belgien endgültig verlassen.

1924, Paris. Er schreibt, aber immer noch zwiespältig. Kann kein Pseudonym finden, das ihn und seine Tendenzen und Virtualitäten umfaßt. Er zeichnet weiterhin mit seinem gewöhnlichen Namen, den er verabscheut, für den er sich schämt wie für ein Etikett, das den Vermerk »niedere Qualität« trüge. Vielleicht behält er ihn bei, um der Unzufriedenheit und der Unbefriedigung die Treue zu halten. Er wird folglich nie im Stolz schreiben, sondern immer diesen Klotz mitschleppen, der ihn am Ende jedes Werks vor dem auch noch so geringen Gefühl des Triumphs und der Vollendung bewahrt.

1925. Klee, dann Ernst, Chirico ... Tiefe Uberraschung. Bisher haßte er die Malerei und das Malen selbst, »als ob es nicht schon genug Wirklichkeit gäbe, genug von dieser abscheulichen Wirklichkeit. Sie noch einmal wiederholen, noch einmal auf sie zurückkommen wollen.« Verschiedene Stellen. Eine Zeitlang in einem Verlag in der Herstellung.

1927. Einjährige Reise durch Ecuador, mit und zu Gangotena, einem vom Genie und vom Unglück heimgesuchten Dichter. Er stirbt in jungen Jahren, und nach ihm fangen seine zum Großteil unveröffentlichten Gedichte in einem Flugzeugbrand Feuer und gehen für immer verloren.

1928. Paris.

1929. Tod seines Vaters. Zehn Tage darauf Tod seiner Mutter. Reisen in die Türkei, nach Italien, Nordafrika. Er reist gegen ... Um die Heimat in ihm auszutreiben, seine Bindungen aller Art und was sich in ihm wider seinen Willen an griechischer, römischer oder germanischer Kultur oder an belgischen Gewohnheiten angelegt hatte. Reisen, um heimatlos zu werden. Langsam weicht die Ablehnung jedoch dem Wunsch nach Assimilation. Sich zu öffnen wird dann sehr lehrhaft für ihn sein. Ein langwieriger Prozeß.

1930 bis 1931 in Asien. Endlich seine Reise. Indien, das erste Volk, das ihm als Ganzes dem Wesentlichen zu entsprechen scheint, das im Wesentlichen die Erfüllung sucht, endlich ein Volk, das es verdient, von den andern unterschieden zu werden. Indonesien, China, Länder, über die er zu schnell schreibt, aufgeregt und wundersam überrascht darüber, daß sie ihm so nahegehen, Länder, über die er dann Jahre hindurch nachdenken und grübeln muß.

1932. Lissabon — Paris.

1935 Montevideo, Buenos Aires.

1937. Beginnt anders als nur beiläufig zu zeichnen. Erste Ausstellung in der Galerie Pierre, Paris.

1938 bis 1939, Meudon. Kümmert sich um die Zeitschrift Hermès.

1939. Brasilien (Minas Gerais und Provinz Rio).

1940, Januar. Rückkehr nach Paris. Massenflucht im Juli. Saint-Antonin. Dann in Le Lavandou.

1941 bis 1942. Le Lavandou mit der, die bald seine Frau sein wird.

1943. Rückkehr nach Paris. Deutsche Okkupation (die zweite).

1944. Tod seines Bruders.

1945. Durch die Lebensmittelrationierungen geschwächt, erkrankt seine Frau an Tuberkulose. Gemeinsam in Cambo. Besserung.

1947. Fast geheilt. Rekonvaleszenz- und Schmerzverdrängungsreisen durch Ägypten.

Februar 1948. Tod seiner Frau infolge schrecklicher Verbrennungen.

1951 bis 1953. Er schreibt immer weniger, er malt mehr.

1955. Er wird französischer Staatsbürger.

1956. Erste Erfahrung mit Mescalin.

1957. Ausstellungen in den Vereinigten Staaten, in Rom, in London. Bricht sich den rechten Ellbogen. Hand unverwendbar. Entdeckung des linkshändigen Menschen. Genesung. Und jetzt? Trotz ständiger, lebenslänglicher Bemühungen in alle Richtungen, sich zu verändern, folgen seine Knochen, ohne sich um ihn zu bekümmern, blind ihrer familiären, rassischen, nordischen Evolution.

H.M. - Henri Michaux stirbt 1984 in Paris. - (mich)

Ich (19)

Erster Oberbarde bin ich bei Elphin,
Und mein Herkunftsland ist die Region der Sommersterne;
Idno und Heinin nannten mich Merddin,
Einst werden alle Könige mich Taliesin nennen.
Ich war bei meinem Herrn in der höchsten Sphäre,
bei Luzifers Fall in die Höllentiefe,
Vor Alexander trug ich das Banner;
Ich weiß die Namen der Sterne von Nord bis Süd;
Ich war auf der Galaxie beim Thron des Spenders;
Ich war in Kanaan, als Absalom erschlagen wurde;
Ich begleitete Awen (den Göttlichen Geist) auf die Ebene im Tale Hebron;
Ich war am Hof von Dôn vor Gwydions Geburt
Ich war der Lehrer von Elia und Henoch;
Ich bin beflügelt vom Genius des herrlichen Bischofs;
Ich war schon beredt, bevor ich die Gabe der Sprache erhielt;
Ich war am Ort der Kreuzigung des gnadenvollen Sohnes Gottes;
Ich war drei Epochen im Kerker von Arianrhod;
Ich war der Führer der Arbeiter an Nimrods Turm;
Ich bin ein Wunder, dessen Ursprung niemand kennt.
Ich war bei Noa auf der Arche in Asien,
Ich sah die Zerstörung von Sodom und Gomorra;
Ich war in Indien, als Rom erbaut wurde;
Jetzt bin ich hergekommen zu den Resten Trojas.
Ich war bei meinem Herrn in der Eselskrippe
Ich stärkte Moses in den Wassern des Jordan
Ich war mit Maria Magdalena am Firmament;  
Ich habe aus Caridwens Kessel die Muse erhalten;
Ich war der Barde der Harfe bei Lleon of Lochlin.
Ich war auf dem White Hill am Hofe von Cynvelyn,  
Ein Tag und ein Jahr im Stock und in Fesseln,
Ich litt Hunger nach der Jungfrau Sohn,
Ich ward genährt im Lande der Gottheit,
Ich war Lehrer aller Geister,
Ich vermag das ganze Universum zu lehren.
Ich werde bis zum Tag des Gerichts auf dem Antlitz der Erde weilen;
Und niemand weiß, ob mein Leib Fleisch oder Fisch;
Dann war ich neun Monate lang
Im Schoß der Hexe Caridwen;
Anfangs war ich Klein-Gwion
Und einst werd ich Taliesin sein.

-  Nach (grav)

Ich (20)  Sobald die Formen des Grauens innerhalb einer vorgegebenen Mythologie ihren Ausdruck finden, stellen sie sich als vollständige, nicht deduzierbare Fakten dar; und ihnen gegenüber hat der Schriftsteller die intellektuell »unmögliche« Verpflichtung, sie in ihrer Unförmigkeit zu beschreiben und anzuerkennen. Sobald Lovecraft mit solchen Vorstellungsbildern in direkte Verbindung kommt, verzichtet er auf die »objektive Kristallklarheit«, auf das harte Handwerk eines Arrangeurs von Worten, wird er zum sinnlichen Instrument der Vision. Er entzieht sich dem fleischlichen, faszinierenden Bild nicht, akzeptiert es als echte, erfahrbare, lebendige Halluzination. Wenn er nicht die fährnisreiche Dimension des Propheten hat, so kommt ihm doch der pathetische Ruhm eines aufrichtig tendenziösen Zeugen zu. Wann immer Lovecraft als vorbehaltloser und unglaubwürdiger Chronist die abseitigen Fratzen beschreibt, von denen sein Dasein erfüllt ist, beschreibt er das einzige unförmige Monster, mit dem er von Grund auf Erfahrung hat, sich selbst. - Giorgio Manganelli, aus: H. P. Lovecraft, Cthulhu. Geistergeschichten. Übs. H. C. Artmann. Frankfurt am Main 1972 (st 29, zuerst 1928)

Ich (21) Giorgio Manganelli ist ein ziemlich häßlicher, zweifelsohne fetter Mann, dennoch wirkt seine Häßlichkeit nicht abstoßend, da er eine Eigenschaft hat, die einer seiner Musikfreunde folgendermaßen definierte: »Du bist nicht anthropomorph«. Man kann ihn also nicht einordnen.

Giorgio Manganelli, für seine Freunde der MANGURU, ein ausgestorbenes, zoologisches Wunder, dessen einzig übriggebliebenes Exemplar er ist, läßt seinen Sarkasmus noch bissiger erscheinen, indem er seinen Tee lediglich nippt und dabei die Schokoladentorte und sein Selbstbildnis zerbröckelt.

Die Wohnung ist eine Bücherhöhle, die Bücher stehen und liegen dichtgedrängt überall vom Fußboden bis zur Decke. Durch die Höhle zieht sich ein Weg wie durch ein Labyrinth. Die Illusion, daß dieses unnütze Wesen eine Wohnung sein soll, wird einem so ein für alle Mal genommen.

Es ist schön, die Stunden mit Manganelli zu verbringen, sowohl ihn zu lesen, als auch ihn zu hören. Man geht nach Hause mit der Lust, im Wörterbuch nachzuschlagen. Er hätte Psychoanalytiker werden können. Früher war er sehr zerbrechlich und sehr wehrlos. Aber seine vorzügliche, herausragende Intelligenz hat ihn mit den Jahren gestärkt. Jetzt ist er der »Schwarze Mann« geworden. Aber früher?

Man weiß, daß er 1921 in Mailand geboren ist, daß er als Kind mit den kleinen Mädchen spielte, weil er Angst vor Jungen hatte, daß er immer der erste gewesen ist, nicht seiner Klasse, sondern der ganzen Schule, und daß er sich unerbittlich ferngehalten hat jedwedem Sport.

Aber um die unklaren Fetzen seiner möglichen Biographie wieder zusammenzuflicken, lassen wir ihn selbst wieder sprechen. Spöttisch und inspiriert fährt Manganelli fort, von sich zu reden, immer in der dritten Person, indem er den Text eines Schutzumschlages nachäfft:

Er hat jung geheiratet und ist noch jünger geschieden worden. Seine Ehe ist eigentümlich fruchtbar. Er hat eine Tochter, die er für eine der besten Gestalten Dostojewskis hält, und er legt seine Hoffnung in drei wahrscheinliche, aber feinsinnige Vorstellungen: daß er ziemlich jung stürbe, um wiedergeboren werden zu können, als Sohn seiner eigenen Tochter.

Schlecht und unglücklich, zerlumpt und neurotisch mußte er dem Beruf des Lehrers nachgehen. Was er auch immer gelehrt hat, er war ein schlechter Lehrer von 1947 bis 1971.

Am 15. Juli 1953, dem von ihm so genannten Unabhängigkeitstag, verließ er Mailand, um der peinlichen Wahl zwischen einem gewaltsamen Tod oder einem geistigen Verfall zu entgehen. Er kam nach Rom, und seitdem haßte er jahrelang Mailand. Es gelang ihm dennoch, wieder nach Mailand zu gehen, ohne die »Madonnina« — den Dom, das Wahrzeichen von Mailand — zu sehen.

Roccabianca ist sein Geburtsort in der Emilia Romagna, wenige Kilometer vom Po entfernt, in der Nähe von Parma. Deshalb hat er zum Essen eine brutale und verhängnisvolle Beziehung. Er hat mit den Ravioli gerauft, sich durch die Unzucht des Lambrusco verführen und die Unverschämtheiten des lokalen Käses hinrei-ßen lassen. Er hat sich in kreisrunden Torten beruhigt. Obwohl er darüber erstaunt ist, ist er kein Alkoholiker, er raucht nicht und haßt die Menschen, die während des Essens rauchen. Im Dezember 1960 begann er, auf absolut unverständliche Weise ein Buch zu schreiben. Seitdem schreibt er, und wahrscheinlich ist dies die einzige lasterhafte Gewohnheit, die er angenommen hat.

Manganelli sagt uns, daß er Mailand gehaßt habe, seitdem er in Rom war, warum?

Mailand war seine Kindheit und alles, was damit verbunden ist. Wahrscheinlich ist ein Rest von Frustration zurückgeblieben, über den er nicht spricht.

Vielleicht hat die Analyse den Schriftsteller, der eingeschlossen war in der Hülle eines schlechten Lehrers, befreien können.

Welcher literarischen Bewegung gehört er an?

Der der makkaronischen Dichtung, und der »mehrsprachigen« Literatur, d. h. einem Stil, der das Hochitalienische mit Umgangssprachlichem und dialektischen Ausdrucksweisen durchsetzt. Der Stil, der Carlo Emilio Gadda als geistigen Vater hat.

Bemerkenswert ist die Reaktion Gaddas auf die Veröffentlichung des ersten Buches von Manganelli, »Hilarotragoedia« (»Niederauffahrt«) 1964.

Gadda las den Titel und nicht das Buch. »Dieser Mensch da plagiiert mich«, begann er zu brüllen.

»Meine Erkenntnis des Schmerzes ist eine Hilarotragoedia«, und er schrie noch immer, als er vor der Tür von Manganellis Haus erschien, der inzwischen an der Piazza delle Goppelle wohnte. Es war zwei Uhr nachmittags, einige Minuten vorher waren an derselben Tür (auch ohne Vorankündigung) die Frau und Tochter Manganellis erschienen. Der Neoschriftsteller hatte die Freude ( oder nicht), nach zehn Jahren das erste Mal seine Verwandten wiederzusehen. Die Situation war typisch — sowohl für Manganelli wie auch für Gadda.

Manganellis Verfolgungswahn triumphierte, indem er explodierte: »Sie verfolgen mich!«. Der Grund einer rasenden Reaktion war die Angst vor der Konfrontation mit seiner Frau und seiner Tochter, die ihm den Atem raubte.

Als Gadda die verzweifelte Unschuld Manganellis betrachtete, wurde ihm klar, daß sein unvergleichbares Doppel genauso unschuldig war wie er selbst. - (pill)

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