chrift  Wenn man das Auftauchen der Schrift mit gewissen Merkmalen der Kultur in Beziehung bringen will, muß man in einer anderen Richtung suchen. Das einzige Phänomen, das sie immer begleitet hat, ist die Gründung von Städten und Reichen, das heißt die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System sowie ihre Hierarchisierung in Kasten und Klassen. Dies ist jedenfalls die typische Entwicklung, die man von Ägypten bis China in dem Augenblick beobachten kann, da die Schrift ihren Einzug hält: sie scheint die Ausbeutung der Menschen zu begünstigen, lange bevor sie ihren Geist erleuchtet. Diese Ausbeutung, die es erlaubte. Tausende von Arbeitern zusammenzutreiben, um sie zu zwingen, die anstrengendsten Arbeiten zu verrichten, trägt der Geburt der Architektur eher Rechnung als die oben erwähnte unmittelbare Beziehung. Wenn meine Hypothese stimmt, müssen wir annehmen, daß die primäre Funktion der schriftlichen Kommunikation darin besteht, die Versklavung zu erleichtern. Die Verwendung der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, d. h. im Dienst intellektueller und ästhetischer Befriedigung, ist ein sekundäres Ergebnis, wenn nicht gar nur ein Mittel, um das andere zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu verschleiern.

Freilich gibt es Ausnahmen von der Regel. Im schwarzen Afrika haben Reiche bestanden, die mehrere hunderttausend Einwohner zusammenfaßten; im präkolumbischen Amerika lebten im Reich der Inka mehrere Millionen. Doch auf beiden Kontinenten haben sich diese Versuche als fragwürdig erwiesen. Man weiß, daß das Reich der Inka ungefähr im 12. Jahrhundert entstanden ist; die Soldaten von Pizarro hätten gewiß kein so leichtes Spiel gehabt, wäre dieses Reich nicht dreihundert Jahre später im Zerfall begriffen gewesen. So wenig wir von der alten Geschichte Afrikas wissen, dürfen wir doch annehmen, daß dort eine ähnliche Situation herrschte: große politische Gebilde entstanden und vergingen innerhalb weniger Jahrzehnte. Es könnte also sein, daß diese Beispiele meine Hypothese bestätigen, statt sie zu widerlegen. Wenn auch die Schrift allein nicht ausreichte, das Wissen zu festigen, so war sie vielleicht unentbehrlich, um die Herrschaft zu konsolidieren. Schauen wir uns in unserer Nähe um: die systematischen Bemühungen der europäischen Staaten um die Einführung der Schulpflicht, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, gehen mit der Erweiterung des Militärdienstes und der Proletarisierung einher. Der Kampf gegen das Analphabetentum brachte eine verstärkte Kontrolle der Bürger durch die Staatsgewalt mit sich. Alle müssen lesen können, damit die Staatsgewalt sagen kann: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe. - (str2)

Schrift (2)   Auf ihre Schiefertafeln gebückt und in ihre Schreibhefte geduckt, malen sie ihre Selbstbildnisse, ohne zu wissen, was sie tun. Die Tüchtigen schreiben über sich selbst nichts Unkluges nieder, ihre Buchstaben sind wie Ameisen mit gut gebauten Körpern, marschieren ordentlich hintereinander her, stoßen nicht, drängen nicht, verlieren keine Beine und Köpfe und wissen Weg und Steg. Die der Unbegabten wimmeln wie Läuse, Flöhe und Mücken durcheinander, man weiß nicht, ob sie stechen oder gestochen werden, ob sie noch saugen oder schon platt geschlagen und breit gepreßt sind, manchmal sitzen die Kleckse wie Spinnen in ihren Netzen, allerlei lahmgezappeltes Tier läßt in den Linien Köpfe und Glieder hängen. - Ernst Barlach, Güstrower Tagebuch, nach: E. B. mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Catherine Krahmer. Reinbek bei Hamburg 1984 (rm 335)
 
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