DER SCHRANK Ein breiter Schrank, geschnitzt; das dunkle Holz der Eichen,
Ganz voll: Von alten Altertümern bis zum Rande, — Dort ists, wo Medaillons man fände, Bilder, Locken — O Schrank aus alter Zeit, du weißt viel Aventüren Oktober 1870 |
Schrank (2) Der Anblick des hohen und schmalen Schrankes dicht neben dem Herd mit dem Trog weckte in mir den ebenso plötzlichen wie unwiderstehlichen Wunsch, dort hinauf zu klettern, und nichts Angenehmeres konnte ich mir vorstellen, als zu sehen, wie mein Vater mich vergeblich im ganzen Zimmer sucht und mich schließlich in diesem Versteck über seinem Haupt entdeckt. Mit einer Bewegung, die ebenso rasch war wie der Gedanke, machte ich mich von der Schärpe frei, die meine Tante festhielt, sprang auf den Herd und von da auf den Schrank.
Zuerst konnte meine Tante nicht umhin, meiner
Gewandtheit Beifall zu zollen. Dann beschwor sie mich, herunterzusteigen.
In diesem Augenblick meldete man uns, daß mein Vater die Treppe heraufkomme.
Meine Tante flehte mich auf den Knien an, meine Stellung
zu verlassen. Ich konnte ihren rührenden Bitten nicht widerstehen. Als
ich jedoch auf den Herd herunterklettern wollte, fühlte ich, daß ich mit
einem Fuß auf dem Rand des Troges stand. Ich versuchte, ihn zurückzunehmen,
und merkte dabei, daß ich nahe daran war, den Schrank mitzureißen. Ich
ließ los und fiel in den Tintentrog. Sicherlich wäre ich darin ertrunken,
doch meine Tante ergriff den Stampfer, der zum Umrühren diente, versetzte
dem Trog einen kräftigen Schlag und zerschmetterte ihn in tausend Stücke.
Im gleichen Augenblick trat mein Vater ein, er
sah einen Strom von Tinte, der sein Zimmer überschwemmte, und eine schwarze
Gestalt, die so entsetzlich heulte, daß die Wände widerhallten. Er stürzte
zurück ins Treppenhaus, verrenkte sich einen Fuß und fiel bewußtlos zu
Boden. - (
sar
)
Schrank (3) „Sie haben mir noch nicht alles erzählt." „Stimmt."
„Sie haben noch was anderes gefunden, außer dieser Kkarte." „Stimmt."
„Und was, wenn man fragen darf?" „Einen Schrank."
„Einen Schr... O Gott! Erzählen Sie mir nicht..."
„Doch, ich erzähl's Ihnen. Weil Sie gefragt haben. Hatte zwar nicht das Vergnügen, mit dem berühmten Knüppel Bekanntschaft zu machen, aber dafür mit dem Schrank. Bei unserer Schlägerei haben wir diesen Schrank angetickt. Und dann ist eine Tür aufgegangen. Und dann lag da eine Blonde."
„Großer Gott!"
„Splitternackt, genauso tot wie 'ne Pekingente." - Léo Malet,
Streß um Strapse. Reinbek bei Hamburg 1991
Schrank (4) Ich betrachte mich in
dem Schrankspiegel. Der Schrank öffnet sich, und heraus tritt eine blonde Frau
(Natascha?) in Kosakenuniform. Plötzlich ist es die Uniform eines Pariser Flics.
Die blonde Frau verwandelt sich in Nestor Burma. Mein Chef schlägt mit seinem
weißen Knüppel auf den Spiegel ein, in dem ich mich immer noch bewundere. Der
Spiegel zersplittert in tausend Stücke... ein furchtbarer Krach... wie eine
Explosion... ein Donner... - Léo Malet, Streß um Strapse. Reinbek bei
Hamburg 1991
Schrank (5) Ich lag spätnachts noch mit weit offenen Augen da und betrachtete voller Schwermut jenen Himmelsteil, den ich von meinem Bett aus sehen konnte; da vermeinte ich, ein leises Knacken zu hören, das ich nicht weiter beachtete, war doch dieser Bau ein Reich der Holzwürmer und Mäuse. Aber das Knacken wiederholte sich, kam aus der Richtung eines großen geschnitzten Wandschrankes aus Eichenholz, den zu öffnen mir nie eingefallen war. Ich horchte hin, noch ein wenig zerstreut, und jetzt hörte ich deutlich ein leichtes Schaben, gleich danach ein drittes, stärkeres Knacken, fast einen leichten Schlag. Natürlich konnten es Mäuse sein, doch glaubte ich, an diesem Geräusch etwas Besonderes wahrzunehmen; meine Aufmerksamkeit erwachte und mit ihr eine ungewisse Angst. Zu schade, daß ich keine Schwefelhölzer hatte.
Nun erfolgte ein leises Hauchen, das auch der Wind sein mochte, natürlich, doch hätte ich gewettet, daß es der Atem eines Lebewesens war. Und da, wie um mir Gewißheit zu verschaffen, legte sich der Wind für einen Augenblick, und in meiner großen Nervenanspannung und der eingetretenen Grabesstille vermeinte ich nun ein ganz leichtes und wiederholtes Geräusch wie von einem atmenden Mund zu hören; ein Geräusch, das ich bis dahin für gar nicht hörbar gehalten hatte. Mit einem Ruck setzte ich mich in meinem Bett auf, dessen Federn laut ächzten. Was auch immer es gewesen sein mochte, ich mußte dieser Gefahr begegnen, wenn es eine war, und auf sie zugehen; was ich nach kurzem Zögern auch tat, wobei mir die Haare fast zu Berge standen.
Das Geräusch oder die Andeutung eines Geräuschs hatte mit dem Augenblick aufgehört, da ich mich bewegte. Mit vorgehaltener Pistole (ich hatte sie in diesen gefährlichen Zeiten stets unter dem Kopfkissen) riß ich die lose in ihren Angeln sitzenden Schranktüren auf. Bei dem Ungewissen Licht sah ich nichts anderes als eine hier und dort abgebröckelte Wand. Von den Querbrettern war nur noch das etwa in Kopfhöhe befindliche oberste an seinem Platz, während das gleich darunter befindliche auf der einen Seite herabgefallen war und mit seinem anderen Ende noch auf der Leiste, also quer lag, und das mittlere ganz fehlte. Also eigentlich nichts Besonderes oder Bemerkenswertes. Und doch meinte ich, mich nicht getäuscht zu haben. Nun lag ja in einem solchen Trutzbau die Vermutung nicht fern, daß die Rückwand eines Schrankes einen geheimen Durchgang verdeckte. Folglich untersuchte ich, vor allem tastend und so gut ich konnte, diese Rückwand; aber ich bemerkte nichts Verdächtiges.
Was tun? Natürlich nahm ich mir vor, meine Untersuchung bei Tageslicht fortzusetzen;
für den Augenblick blieb mir nichts übrig, als wieder ins Bett zu gehen und
mir einzureden, der Zwischenfall sei nur eine Täuschung meiner verwirrten Sinne
oder eine Auswirkung des Weines gewesen. Doch fühlte ich sehr wohl, daß dem
nicht so war. - Tommaso Landolfi, Herbsterzählung. Reinbek bei Hamburg
1990 (zuerst 1975)
Schrank (6) Es ist ist ein großer Nußbaumschrank, schlicht, hoch, schwer und zugleich elegant, gleichsam ein Symbol gediegener Beständigkeit; im übrigen ist er immer verschlossen. Drinnen ist der Schrank in größere und kleinere Fächer unterteilt, und in jedem dieser Fächer wohnt ein Schriftsteller; in Wirklichkeit sind es alte Puppen, die lediglich aufgrund der Untätigkeit, der Dunkelheit und der Langeweile zu Schriftstellern geworden sind. Sie tragen alle bunte Kostümchen, oft die typische Tracht irgendeiner Region oder Provinz, und ihr Kopf ist leicht disproportioniert im Vergleich zum Körper, zu flach oder zu spitz oder einfach zu voluminös; bis auf einen sehr im Vordergrund stehenden Dichter, der einen ganz kleinen Kopf hat, und das bringt die anderen immer zum Lachen, als ob es komischer wäre, einen kleinen Kopf zu haben als einen großen.
Jedenfalls, da der Schrank nie geöffnet wird und die Fächer keine andere
Kommunikation erlauben, als die unter Gefangenen übliche, nämlich durch Klopfzeichen
nach einem vereinbarten System, haben sich nach und nach alle Puppen der Literatur
hingegeben; so sind sie Romanschreiber, Lyriker, Literaturkritiker,
Theaterkritiker, Verlagsberater geworden. Dort drinnen
herrscht ständiges Klopfen: Jeder will die anderen
seine Werke hören lassen. - J. Rodolfo Wilcock, Das Stereoskop der Einzelgänger.
Freiburg 1995 (zuerst 1972)
Schrank (7)
Schrank (8) Das Bett war verschoben worden, gerade so weit, daß sein Kopfteil etwas über den Rand einer Schranktür ragte, die nicht ganz geschlossen war. Das Gewicht des Bettes verhinderte offenbar, daß die Tür aufging. Ich trat näher, um festzustellen, aus welchem Grunde sie aufgehen wollte. Langsam schlich ich auf die Tür zu, und als ich halb durch das Zimmer war, bemerkte ich, daß ich meine Pistole in der Hand hielt.
Ich drückte gegen die Schranktür. Sie gab nicht nach. Ich drückte stärker. Vergebens, sie rührte sich nicht. Ich stemmte mich dagegen, schob mit dem Fuß das Bett auf die Seite und gab langsam nach.
Ein schweres Gewicht lastete auf der Tür. Ich gab noch mehr nach. Sie ging etwa dreißig Zentimeter weit auf, ehe irgend etwas geschah. Dann kam es aber plötzlich. Er kam heraus - seitwärts, in gewisser Weise rollte er. Ich stemmte mich wieder gegen die Tür und hielt ihn dadurch einen Moment aufrecht und betrachtete ihn.
Er war immer noch groß, immer noch blond, immer noch in einer groben Sportjacke, einem Hemd mit offenem Kragen und trug immer noch einen Schal. Aber sein Gesicht war nicht mehr rot.
Ich gab dem Druck der Tür weiter nach, und er rutschte an der Innenseite der Tür entlang, drehte sich dabei wie ein Schwimmer in der Bran= düng, sank auf den Boden und blieb bewegungslos liegen, fast auf dem Rücken, aber das Gesicht mir zugewendet. Das Licht von der Lampe neben dem Bett fiel auf seinen Kopf. Auf seiner rauhen Jacke war eine verbrannte und fleckige Stelle - etwa dort, wo sein Herz sein mußte. Er würde also die fünf Millionen doch nicht bekommen. Niemand würde etwas bekommen, auch Marty Estel seine fünfzig Mille nicht. Denn der junge Mister Gerald war tot.
Ich blickte in den Schrank, in dem er gewesen war. Die Tür stand jetzt weit offen. Es hingen Kleider darin, Damenkleider, sehr hübsche und geschmackvolle Kleider. Er war rückwärts in den Schrank hineingetrieben worden, wahrscheinlich mit erhobenen Händen, weil ihm jemand eine Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Und dann war er in dem Schrank erschossen worden, und wer es auch getan hatte, der Mörder war nicht schnell oder nicht stark genug gewesen, um die Tür richtig schließen zu können. Oder er war gestört worden und hatte eben nur das Bett herübergezerrt, so daß es die Tür zuhielt, und dann alles so zurückgelassen.
Auf dem Boden im Schrank schimmerte etwas. Ich hob es auf. Es war eine kleine
automatische Pistole, eine 25er, eine Waffe für eine Damenhandtasche.
- Raymond Chandler,
Gefahr ist mein Geschäft. Frankfurt am Main und Berlin 1966
Schrank (9) Ich beschränke mich darauf zu erzählen, wie Marcelle sich erhängte: sie erkannte den normannischen Schrank und klapperte mit den Zähnen. Und als sie mich dann ansah, wußte sie, daß ich der Kardinal war. Sie heulte und schrie, und es gab keine andere Möglichkeit, ihr Einhalt zu gebieten, als sie allein zu lassen. Als wir wieder ins Zimmer kamen, hatte sie sich im Schrank erhängt.
Ich schnitt den Strick durch, aber sie war tot. Wir legten sie auf den Teppich.
Simone sah, wie mein Glied sich spannte, und rieb es mir; wir : legten uns auf
die Erde, und ich beschlief sie, neben dem Leichnam. Simone war Jungfrau, und
es tat uns weh, aber es war uns gerade recht, daß es weh tat. Als Simone aufstand
und die Tote anschaute, war Marcelle eine Fremde, und auch Simone war es für
mich. Ich liebte weder Simone noch Marcelle, und wenn man mir gesagt hätte,
ich sei soeben gestorben, dann hätte mich das nicht verwundert. All diese Ereignisse
blieben mir verschlossen. Ich betrachtete Simone, und es freute mich, ich erinnere
mich dessen noch ganz genau, daß sie sich schlecht aufzuführen begann. Der Leichnam
irritierte sie. Sie konnte es nicht ertragen, daß dieses Wesen, das die gleichen
Formen hatte wie sie selber, ihre Berührung nicht mehr spürte. Vor allem die
offenen Augen reizten sie. Sie überschwemmte das stille Gesicht, und es war
erstaunlich, daß die Augen sich nicht schlössen. Wir waren still, alle drei,
und das war das Trostloseste. Jede Art der Langeweile verbindet sich für mich
mit jenem Moment und mit dem komischen Hemmnis, das der Tod bedeutet. Das hindert
mich nicht, daß ich ohne Aufbegehren daran denke und sogar mit dem Gefühl heimlicher
Mittäterschaft. Es war das Fehlen jeder Exaltation, was die Situation so absurd
machte; die tote Marcelle war mir weniger fern als die lebende, in dem Maße,
so denke ich, in dem das absurde Dasein alle Rechte besitzt. Daß Simone über
sie gepißt hatte, aus Überdruß, aus Unbehagen, zeigte, bis zu welchem Grade
uns der Tod fremd, unbegreiflich blieb. -
(obs)
Schrank (10)
GEÖFFNETER SCHRANK Unten stehen die Schuhe. |
- Günter Grass, Die Vorzüge der Windhühner. Göttingen
1993 (zuert 1956)
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