ERSTER
MÖRDER
Wie
ist
dir
jetzt
zumute?
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Shakespeare,
König Richard
III.
Gewissen (zartes) »Hört Ihr den Lärm auf der
Straße? Eine Witwe von sechzig Jahren hat heute früh einen Kavalier von siebzehn
Jahren geheiratet. Nun haben sich alle Spaßvögel aus dem ganzen Viertel zusammengerottet,
um das Beilager durch ein lärmendes Konzert von Becken, Töpfen und Kesseln zu
verherrlichen.« - »Ihr sagtet mir doch«, fiel der Student ein, »daß Ihr es seiet,
der die lächerlichen Heiraten stiftet, aber an dieser habt Ihr keinen Teil?«-
»Das ist gut erraten, warum«, antwortete der Hinkende; »ich war ja gefangen.
Aber wenn ich auch frei gewesen wäre, so hätte ich mich doch schwerlich damit
abgegeben. Die Frau hat ein gar zartes Gewissen und bloß deswegen wieder geheiratet,
damit sie gewisse Freuden, die sie liebt, ohne Vorwurf genießen kann. Solche
Verbindungen sind nicht meine Passion; es macht mir mehr Vergnügen, die Gewissen
zu quälen als zu beruhigen.« - Alain René Lesage, Der Hinkende Teufel. Nördlingen 1987 (Greno 10/20, zuerst 1707)
Gewissen (3) »Wie?« sagte Riccardo. »Dieser so glücklich aussehende Mann hat gestohlen?«
»Ja, er hat gestohlen«, sagte der Große Sekretär.
»Und er hat keine Gewissensbisse?«
»Nein, keine Gewissensbisse.«
»Aber die bekommt er bald?«
»Ach!« seufzte der Große Sekretär. »Wer weiß das schon?«
»Aber das Gewissen muß sich doch eines schönen Tages rühren!«
»Dann sieh dir mal sein Gewissen an!«
Riccardo schärfte seinen Blick und sah auf der Schulter des glücklichen Herrn
ein kleines Wesen mit schläfrigen Augen, das dazu neigte, jedermann zuzulächeln,
so daß es - wegen des Ortes, an dem es sich befand und wegen der Liebkosung,
mit der es sein Köpfchen an das Ohr des dicken Mannes legte, an einen Papagei
erinnerte und, wegen seiner Bereitschaft zu lachen und zuzustimmen, wie eine
verrückt gewordene Neuvermählte aussah in jenem Augenblick, da sie ihr Jawort
gibt und zugleich mitansehen muß, wie ihr Bräutigam aufsteht und sich davonmacht.
- Vitaliano Brancati, Auf der Suche nach einem Ja. In: V.B.: Der Alte
mit den Stiefeln. Zürich 1991 (zuerst 1946)
Gewissen (3) Vatter Ubu (zu Achras): Hornzackwamme, mein Herr! Sie wollen sich also absolut nicht davonscheren?! Genau wie mein Gewissen, das ich mir auch nicht vom Hals schaffen kann.
Das Gewissen: Mein Herr, spottet doch des großen Klopstock nicht.
Vatter Ubu: Der große Klopfstock ist gewiß eine gar treffliche Vorrichtung, doch dauert das Stück schon recht lange; wir haben keinerlei Absicht, sie heute noch in Gang zu setzen. (Man hört es läuten, wie wenn ein Zug angekündigt wird; dann überquert das Krokodil schnaufend die Bühne.)
Achras: Also bitte scheen, nicht wahr, was ist denn das schon wieder?
Vatter Ubu: Das ist ein Käuzchen.
Das Gewissen: Das ist ein ausgeprägtes Kriechtier; übrigens (er befühlt es) besitzen seine Gliedmaßen alle Merkmale der Spezies der Schlangen.
Vatter Ubu: Also, es ist ein Wal, denn der Wal ist der aufgeblasenste Kauz, den es gibt; und dieses Tier kommt mir recht aufgeblasen vor.
Das Gewissen: Und ich sage Ihnen, es ist eine Schlange.
Vatter Ubu: Ein Beleg für die Blödheit und Unsinnigkeit meines Herrn Gewissens! Wir dachten uns schon lange bevor Sie es sagten: es ist tatsächlich eine Schlange! Sogar eine Klapper -!
Achras (beschnuppert es): Eines ist gewiß, nicht wahr: es ist kein Polyeder.
- Alfred Jarry, Ubu Hahnrei oder Der Archaeopterix. In: A.J., Ubu. Stücke und
Schriften. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1897)
Gewissen (4) Ueberhaupt jede Inkonsequenz, jede
Unbedachtsamkeit, jedes Handeln gegen unsere Vorsätze, Grundsätze, Ueberzeugungen,
welcher Art sie auch seien, ja, jede Indiskretion, jeder Fehlgriff, jede Balourdise
[Tölpelei] wurmt uns hinterher im Stillen und läßt einen Stachel im Herzen zurück.
Mancher würde sich wundern, wenn er sähe, woraus sein Gewissen, das ihm ganz
stattlich vorkommt, eigentlich zusammengesetzt, ist: etwan aus 1/5 Menschenfurcht,
1/5 Deisidämonie [Dämonenfurcht], 1/5 Vorurtheil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit:
so daß er im Grunde nicht besser ist, als jener Engländer,
der geradezu sagte: I cannot afford to keep a conscience (ein Gewissen
zu halten ist für mich zu kostspielig).
- Schopenhauer, Preisschrift Über die Grundlage der Moral
Gewissen (54) »Das Gewissen
des Menschen kann tatsächlich mit dem Stachel
einer Biene verglichen werden, der, weit davon
entfernt, zum Wohlbefinden des Besitzers beizutragen, nicht einmal einen einzigen
Augenblick funktionieren kann, ohne dessen Tod herbeizuführen.
Sein Wert vom Standpunkt des Überlebens ist infolgedessen jedenfalls rein sozialer
Art; und wenn die Menschheit von ihrer jetzigen Phase der sozialen Entwicklung
jemals zu der eines höheren Individualismus übergeht, wie manche unserer Philosophen
zu hoffen wagen, dürfen wir annehmen, daß dieses interessante geistige Phänomen
allmählich verschwinden wird, genau wie die Muskeln und Nerven, mit denen früher
die Bewegungen unserer Ohren und unserer Kopfhaut
bei allen Menschen mit Ausnahme einiger zurückgebliebener Individuen der Atrophie
anheimgefallen und nur noch für den Physiologen von Interesse sind.« - Dorothy Sayers, Ein Toter zu wenig. Frankfurt am Main
1973
Gewissen (55) Das Gewissen
ist vermessen in dem Starken, schüchtern in dem Schwachen und Unglücklichen,
unruhig in dem Unentschlossenen, also ein Organ der Stimmungen,
die uns beherrschen, und der Meinungen, die uns lenken.
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(vauv)
Das Gewissen ist die veränderlichste aller Normen. -
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(vauv)
Gewissen (56) Der Hauptmann: Vatter Ubu, ich bin unschuldig. Vatter Ubu: Unser Gewissen allein hat Sie gehört, und das wird es niemandem weitersagen.
Der Hauptmann: Vatter Ubu, ich bin -
Vatter Ubu: Schon wieder! Ins Sack! Pfahlgeist Clam, tun Sie ihre Pflicht!
Pfahlgeist Clam: Humm, Herrjä! Ich weiß, was ich zu tun habe: Verrenkung der Nase, Ausreißung des Hirn durch die Ferse, Einstechung des hölzernen Stäbchens in die Ohnen -
Vatter Ubu: Und schließlich die große erneuerte Köpfung auf dem Hackstock, nach Johannes dem Täufer. Danach steht es dem Herrn Hauptmann in unserer Sanftmut frei, sich zum Henker zu scheren. Es soll ihm kein weiteres Leid geschehen, denn ich will ihn gut behandeln.
Das Gewissen (kommt aus dem Koffer hervor): Herr, undsofort, machen Sie sich einige Anmerkungen. Herr, Ihr Benehmen ist unwürdig. Der Hauptmann ist Ihr im Ehebruch - oder mit Ihrer Gattin, Madame France - gezeugter Sohn, und außerdem, undsofort, ist er unschuldig.
Vatter Ubu: Mein Herr Gewissen, trotz der Picquiertheit Ihrer scharfen
Vorwürfe mögen wir es nicht, wenn man uns so ein Theater macht, uns
hat noch nie jemand ein Theater gemacht, und Sie werden bestimmt nicht den Anfang
machen. Andernfalls zwingen Sie uns noch, Sie auf der höchsten Bergesspitze
abzusetzen, die für unsere Gebirgsjagden reserviert ist; oder Sie in den
allertiefsten Stollen unserer Bergwerke zu versenken, die wir zum Zwecke unserer
pataphysischen Versuche während unserer
Reisen durch die Beifallsstürme unserer Untertanen erforschen. Und wenn
Sie nicht stillschweigen, weil großer Schmerz immer stumm ist, werde ich
Ihnen, um Ihnen sehr weh zu tun, auf die Füße steigen. (Er schließt
es weder im Koffer ein.) - Alfred Jarry, Die Teufelsinsel. In: A. J. Ubu. Stücke
und Schriften. Frankfurt am Main 1987
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