terben »Warum nur«, fragte das zwölfjährige Fräulein von ***, »warum nur die Wendung vom ›Sterben lernen‹? Ich finde, man trifft es schon sehr gut beim ersten Mal.« - (Chamfort)

Sterben (2)  Von der Vernunft her müßte ich annehmen, ich wäre tot. Und doch habe ich keine Erinnerung an jene stechende Zersetzung, jenen mulmigen Verfall des Körpers, jene innere Raserei der Schrecken und Hoffnungen, die, wie man sagt, den Weg in den Tod begleiten. Wohl aber erinnere ich mich an eine gewisse körperliche und geistige Dürre, eine schweigsame Lustlosigkeit, ein unablässiges Wegstreben von ernsten Gedanken, um bei teils dürftigen, teils schmutzigen Vorstellungen zu verharren, so als spielte ich mit den ausgefransten Troddeln meines Entsetzens. Ich entsinne mich einer tiefen Faulheit und eines zähen Widerwillens gegen eine fortgesetzte Existenz an immer fremderen Orten; aber keines körperlichen Schmerzes, und wenn meine Gesten allmählich immer knapper wurden, dann rührte das einzig von meiner Abneigung her, mich zu bewegen, in der Welt zu handeln. Ich erinnere mich auch nicht an gewaltsame Gesten gegen mich selbst, ich habe mich nicht umgebracht. In meinen, wie ich annehme, letzten Monaten wurde ich weder von Zorn noch von Rachsucht getrieben; vielmehr von einem sorgfältig ausziselierten und zwischen die Dinge geschobenen Lebensüberdruß, einer beharrlichen Trägheit, die den Dingen ihre Farbe und ihren Geruch nahm. Nur hin und wieder schüttelte mich ein plötzliches Entsetzen vor dem Abgrund, einem Steilhang, der an meiner Seite in die Tiefe führte und vor dessen senkrechtem Abfall ich schaudernd und schwitzend die Zähne fletschte, ohne allerdings je in Versuchung zu geraten, mich hinabzustürzen, im Gegenteil, ich verspürte ein freilich ganz ohnmächtiges Verlangen zu fliehen.  - (hoelle)

Sterben (3) Von verschiedenen Liebesabenteurern und argen Glückspilzen hörte ich erzählen, daß sie mehrere Damen bei dieser süßen Lust in Ohnmacht und Krämpfe fallen sahen; sie kamen indes ziemlich leicht wieder zu sich; verschiedene rufen, wenn sie da sind, aus: »Ach! — ich sterbe!« Ich glaube, dieser Tod wäre ihnen ein sehr süßer. Andre wieder rollen um solchen Entzückens halber ihre Augen im Kopf herum, als ob sie des Todes sterben sollten, und verhalten sich ganz unbeweglich und regungslos. Von andern hörte ich, daß sie ihre Nerven, Adern und Glieder so heftig anspannen und versteifen, daß sie den Krampf bekommen; so hörte ich von einer, die dem so ausgesetzt war, daß sie nichts dagegen machen konnte. Andre lassen ihr Innerstes furzen, als ob man ihnen einen Bruch wiedereinrichtete.  - (brant)

Sterben (4)  Pherekydes, der Lehrer des Pythagoras, wurde krank. Zuerst schwitzte er warmen klebrigen Schweiß aus, der wie Schleim war; später verschlimmerte sich sein Leiden, und schließlich bekam er Läuse. Dann kam die Zersetzung hinzu, und allmählich löste sich sein Fleisch ganz in Läusen auf. So endete er sein Leben. - (ael)

Sterben (5) Ich habe mit dem Tod gerungen. Es ist der ödeste Wettkampf, den man sich vorstellen kann. Er findet statt in einem undurchdringlichen Grau, ohne Boden unter den Füßen, ohne Umgebung, ohne Zuschauer, ohne Wehgeschrei, ohne Glorie, ohne das große Begehren, zu siegen, ohne die große Furcht vor der Niederlage, in einer tristen Atmosphäre von flauem Skeptizismus, ohne rechten Glauben an das eigene Recht und noch weniger an das meines Widersachers. Wenn das der Weisheit letzter Schluß ist, dann ist das Leben ein größeres Rätsel, als viele von uns annehmen - Joseph Conrad, Das Herz der Finsternis, nach (bleist)

Sterben (6) Während der Krankheit, an der er in Paris starb - 1651 gegen Ostern -, ließ Frau von Pisieux als Gläubigerin alles bis hin zu seinen Pferden verkaufen, auch in der Furcht, daß ihr andere zuvorkämen. Als er drei Tage vor seinem Tod sah, daß man ihm eine Fleischbrühe in einem irdenen Napf brachte, verlangte er einen silbernen. Man brachte ihm einen irdenen Napf. «Wie!» meinte er. «Nichts als Tongeschirr!» Er vermutete schon, daß seine Schwester sein Silbergeschirr an sich genommen hatte. «Bringt mir eine Schüssel.» Man bringt ihm eine aus Ton. Er macht seinen ganzen Schwengelambrosia hinein. «Hier, liebe Schwester», sagt er zu Frau von Pisieux, «das ist alles, was ich noch habe, schlagt Euren Profit daraus, wenn Ihr könnt.»  - (tal)

Sterben (7) Picot starb ungefähr so, wie er gelebt hatte: Er erkrankte in einem Dorf; er ließ den Pfarrer kommen und teilte ihm mit, er wünsche nicht, daß man ihn quäle und ihm die Ohren vollschreie, wie es bei der Mehrzahl der Sterbenden üblich sei; der Pfarrer ging gut mit ihm um, und er vermachte ihm in seinem Testament dreihundert Pfund; als er aber sah, wie der Pfarrer, der ihn schon ins Jenseits befördert glaubte oder nahe daran, zu schreien begann, wie es Brauch ist, zog er ihn am Ärmel und sagte: «Ihr mögt wissen, braver Mann, wenn Ihr mir nicht haltet, was Ihr verspracht, so bleibt mir noch genug zu pusten, um die Schenkung rückgängig zu machen.» Da wurde der Pfarrer klug, und der Abbé verschied in Ruhe.  - (tal)

Sterben (8)  In der Nähe des Brunnens liegt ein röchelndes Kamel auf der Seite; es hat sich beim Sturz in den Brunnen das Kreuz gebrochen, sein Herr hat es wieder herausgezogen, und da liegt es jetzt schon seit drei Monaten, um zu sterben. Wenn sein Herr vorbeikommt, gibt er ihm zu fressen, und Araber geben ihm Wasser; der große Zulauf von Hadschis zum Brunnen erklärt, warum es noch nicht von wilden Tieren gefressen worden ist.  - (orient)

Sterben (9) Obwohl dieser Brief erst Mittwoch fortgehen wird, kann ich nicht anders als ihn jetzt schon anfangen, um Ihnen, meine Gute, zu sagen, daß Herr von La Rochefoucauld heute Nacht gestorben ist. Ich bin so erfüllt von diesem Unglück und dem erschütternden Schmerz unserer armen Freundin, daß ich mit Ihnen davon reden muß. Gestern, Samstag, hatte das Mittel wunderbar gewirkt. Die schwachen Hoffnungen vom Freitag, als ich Ihnen schrieb, waren gestärkt worden, man wollte schon Siegeshymnen anstimmen. Der Atem war gelöst, der Kopf frei, das Fieber gefallen, und in diesem Zustand, gestern um sechs Uhr, trat die Wendung zum Tode ein; plötzlich steigt das Fieber, setzt wieder Atemnot ein, der Kranke beginnt zu phantasieren, in einem Wort: die Gicht hat ihn verräterisch erstickt, und obwohl er kräftig und durch keine Aderlässe geschwächt war, hat sein Sterben nur vier oder fünf Stunden gedauert.   - (sev)

Sterben (10) Was wäre der Bewunderung würdiger als Schneid und Begeisterung eines Baucher, der, ein glühender Pferdefanatiker, besessener Trainer und Zureiter, und dies noch im Augenblick seines Todes, der in seiner Art schöner ist als der Tod des Sokrates, — mit seinem letzten Atem seinem Lieblingsschüler einen letzten Ratschlag gibt: "Die Trense", haucht er, »ganze große Sache ..." Und indem er die Hand des Schülers ergreift und sie so placiert, wie es seiner Ansicht nach sein muß: "Wie gut, daß ich Ihnen vor meinem Tod wenigstens das noch zeigen kann."  - (deg)

Sterben (11)  Die Houyhnhnms leben gewöhnlich bis zum siebzigsten oder fünfundsiebzigsten, sehr selten bis zum achtzigsten Jahre. Einige Wochen vor ihrem Tode fühlen sie eine allmähliche Abnahme ihrer Kräfte, jedoch ohne Schmerz zu empfinden. Während dieser Zeit werden sie häufig von ihren Freunden besucht, weil sie nicht mehr mit ihrer gewohnten Leichtigkeit und Behaglichkeit ausgehen können. Zehn Tage vor ihrem Tode, dessen Augenblick sie mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen können, erwidern sie die Besuche den nächsten Nachbarn, indem sie von Yahoos in einem bequemen Schlitten gezogen werden. Diese Schlitten gebrauchen sie nicht allein bei dieser Gelegenheit, sondern überhaupt, wenn sie alt werden, oder auf großen Reisen oder wenn sie durch Unfall gelähmt sind. Die sterbenden Houyhnhnms, welche diesen Besuch abstatten, nehmen feierlichen Abschied von ihren Freunden, als ob sie sich in einen entfernten Teil des Landes begäben, wo sie die letzte Zeit ihres Lebens zubringen wollten. - (gul)

Sterben (12)  Ameisen legen keinen Wert auf Individualität. Selbst sie finden, daß sie alle gleich aussehen. Wenn also eine Ameise stirbt, ist das keine Tragödie (auch nicht für die sterbende Ameise). Was zählt, ist die Sicherheit der Königin und der Kolonie. Kein Ameisentod außer dem der Königin — auch nicht Deiner — hat eine Bedeutung.

Daher ist in SimAnt im Gegensatz zu anderen Spielen Sterben nicht mit Verlieren gleichzusetzen. Mit dem Sterben einer Ameise geht die Welt nicht unter, und das Spiel ist noch lange nicht zu Ende. Du verlierst dadurch lediglich etwas Zeit und Energie. - Michael Bremer, Handbuch zu: SimAnt, der Ameisenkolonie-Simulator. 1991 (Maxis)

Sterben (13)  Auf dem Weg zur Hong Kong-Bank sehen wir, an eine Mauer gelehnt, eine nackte, wie zufällig von Lumpen bedeckte Frau unbestimmten Alters, die außer von uns - so sieht es aus - von niemandem wahrgenommen wird; und auch wir verlangsamen unseren Schritt nur eine Schrecksekunde lang. Schon abseits vom Betteln. Ausgestoßen von Ausgestoßenen. Ein Versäumnis, daß sie noch lebt. Und überall, auch seitlich der (seit wann schon?) sterbenden Frau, Hammer und Sichel an Wänden, auffällig sorgfältig gepinselt. Schließlich regieren in Westbengalen die Kommunisten  und weitere Linksparteien, die das Sterben auf offener Straße verboten haben.

Lebt sie noch? Nachgestellte, verlegene Fragen beim Tee, während ich mich ausschwitze, mein deutsches Porenfett abfließt; oder ist sie, die mit unsereins schon lange fertig ist, auch mit sich endlich fertig?

Lese Lichtenberg, Sudelbücher: »Wenn alle Menschen des Nachmittags um 3 Uhr versteinert würden.«  - Günter Grass, Zunge zeigen. Darmstadt 1988

Sterben (14) «Ich bin kein Ingles», sagte er sehr träge. «O doch», sagte sie. «Du bist mein Ingles.» Und sie nahm ihn bei den Ohren und küßte ihn auf die Stirn.

«So», sagte sie. «Wie war das? Küsse ich dich jetzt besser?» Dann gingen sie miteinander den Bach entlang, und er sagte:

«Maria, ich liebe dich, und du bist so reizend und so wunderbar und so schön, und es tut mir so wohl, bei dir zu sein, daß mir zumute ist, als möchte ich sterben, wenn ich dich liebe.»

«Oh», sagte sie. «Ich sterbe jedesmal. Du nicht?» «Nein. Aber fast. Hast du gemerkt, wie die Erde gezittert hat?»

«Ja. Als ich starb. Bitte, leg deinen Arm um mich.»

«Nein. Ich halte deine Hand. Deine Hand genügt mir.»

Er sah sie an und blickte über die Wiese hin, ein jagender Habicht flog vorbei, und die großen Abendwolken stiegen nun über die Berge empor.

«Und bei anderen ist es nicht so?» fragte Maria. Sie gingen jetzt Hand in Hand.

«Nein. Wirklich nicht.»

«Du hast viele andere geliebt.»

«Einige. Aber keine wie dich.»

«Und es war nicht so ? Wirklich nicht?»

«Es war angenehm, aber es war nicht so.»

«Und dann hat die Erde gezittert. Hat sonst nie die Erde gezittert?»

«Nein. Wirklich nicht.»

«Ja», sagte sie. «Und das haben wir für diesen einen Tag.» - Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt. Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1940)

Sterben (15)  Der amerikanische Satiriker und (seit 1951) Autor der zählebigsten Humor-Kolumne des Zeitungsbusiness hielt in dem noblen Sterbehospital mit nur einer Handvoll Zimmern Hof, verabschiedete sich von der Familie und auch den entferntesten Freunden. Er empfing Orden, Geschenke wie ein Fürst, das feinste Essen, die herrlichsten Bouquets. Er gewährte täglich über Stunden possenreißende Audienzen, telefonierte, tratschte, flirtete mit den Schwestern, gab Interviews und begann an einem Buch zu arbeiten. Fast viertausend Briefe, erst nur Abschiede, dann Genesungswünsche. Prominente gaben sich die Klinke in die Hand. Nach fast fünf Monaten wurde Buchwald, sozusagen wegen Vertragsbruchs, von dem Hospiz gefeuert. Seine Nieren arbeiteten zu gut. Kein Koma, nichts. Andere Sterbende warteten. - Uwe Schmitt, Die Welt vom 14. Dezember 2006

Sterben (16)   An dem letzten Tag seines Lebens erkundigte Augustus sich wiederholt danach, ob das Volk auf der Straße über seinen Zustand schon beunruhigt sei, ließ sich einen Spiegel reichen, sein Haar kämmen und die herabsinkenden Kinnladen heraufziehen. An die Freunde, die er vorgelassen hatte, richtete er die Frage, ob sie nicht dächten, daß er seine Rolle in der Komödie des Lebens ganz artig gespielt hätte, und fügte dann die auf der Bühne übliche Schlußformel auf griechisch hinzu:

Hat das Ganze Euch gefallen, nun so klatschet unserm Spiel,
Und entlaßt uns freudig alle insgesamt mit Beifallruf!

Darauf verabschiedete er alle Anwesenden. Während er sich bei den eben aus Rom Eingetroffenen nach dem Befinden der kranken Tochter des Drusus erkundigte, verschied er plötzlich in den Armen seiner Gattin Livia mit den Worten: "Livia, gedenke unserer glücklichen Ehe und lebe wohl!" leicht und schmerzlos, wie er es sich immer gewünscht hatte. Denn fast stets, wenn er früher vernommen hatte, daß jemand schnell und ohne Qualen gestorben sei, bat er die Götter für sich und die Seinen um die gleiche "Euthanasie" - denn dies griechische Wort pflegte er zu gebrauchen. Nur ein einziges Zeichen von Geistesabwesenheit machte sich bemerkbar, ehe er seinen Geist aufgab; denn er fuhr plötzlich erschreckt auf und klagte, er werde von vierzig Jünglingen fortgeschleppt. Auch das war indessen mehr eine Vorahnung als Irrereden; denn ebensoviel Soldaten seiner Leibgarde waren es, die seine Leiche hinaustrugen. - (sue)

Sterben (17)

Und dann kommt der heitere Teil vom Sterben. Versöhnt
Mit dem Tag der Geschäfte verspricht und Verträge bricht,
Drehst du dich früh aus dem Spiegel.
                                              Dein gebrauchtes Gesicht,
Scharf rasiert, das dem Quengeln von innen höhnt,
Gehört dem Empfangschef, der die Verhandlungen führt.
Hinterm Jochbein verschanzt, hinter funkelnder Brille –
Hat seine Leichenblässe dich nicht manchmal gerührt?
Sicher, man kennt sich. Das heißt, ohne Promille
Tritt keiner dem andern zu nah (und auch das besser selten).
Denn vor der schmierigen Wand, konzentriert auf das Gelbe
Im Porzellan, ist man wieder der Andre, wieder derselbe,
Dem im Moment der Entleerung die Klassiker gelten.
»Alles fließt.« »Hör auf in den Eingeweiden zu wühlen.«
»Lebe verborgen.« »Erkenne dich selbst.«
Doch bevor du hier fortgehst, vergiß nicht zu spülen.

- Durs Grünbein, Nach den Satiren. Frankfurt am Main 1999

Sterben (18)   ICH WILL NICHT STERBEN WIE EIN HUND. Zu Recht fragt man sich — und fragt man die anderen —, warum ein Mensch, der wie ein Schwein gelebt hat, den Wunsch äußert, nicht wie ein Hund zu sterben.

Zunächst: Was heißt das — wie ein Hund sterben? Den geistlichen Obrigkeiten zufolge besteht es darin, diese angenehme Welt ohne die Sakramente zu verlassen und sich geradewegs zum Friedhof zu trollen, ohne irgendeine religiöse Zeremonie. Der BÜRGER, der nicht wie ein Hund sterben möchte, muß also einen Priester holen lassen, wenn eben möglich den Geistlichen seiner Pfarrei, und mit ihm über die Einkommensteuer reden, über die Nachteile von Mastix als Zahnersatz für die Flußpferde, über die Vorteile des intensiven Anbaus von Topinambur oder die Dringlichkeit einer geharnischten Reform der Schulpflicht in Kamtschatka — eine Manifestation des christlichen Glaubens, die ihm nach dem Tode das Recht verleiht, seine Gebeine in die Kirche tragen und sich von einem Schwarzkittel zum Friedhof geleiten zu lassen, wenn die Familie vor dieser Ausgabe nicht zurückschreckt.

Das alles — muß ich das eigens sagen? — ist natürlich für die Galerie bestimmt. Man krepiert für die Galerie, um nicht wie ein Hund zu sterben. Entweder verstehen Sie's, oder Sie verstehen's nicht, aber darauf kommt's an.

»Die Religion ist mir schnuppe«, sagt der Grünkernhändler, »aber ich will nicht sterben wie ein Hund.«  - (bloy)

Sterben (19)   abschwimmen, abstieben, übern Bach gehen, baden gehn, Brezen machen, flattern, heimgehn, krachen gehn, peigern, scheppern gehn  - (pu)

Sterben (20)  Jetzt schon weinte Engeltrut wie eine Regenwolke; dann aber gar wie ein Wolkenbruch, als der Tischler der Menschen kleinstes Haus brachte - worin man jedoch, wie ein Emporkömmling, täglich ein größeres macht, weil man es täglich durch verkleinerndes Einstäuben geräumiger einrichtet für einen neuen Gast von Wurm. - Der Vogler dingte dem Tischler ein Drittel des Sargpreises - des Preises für die nicht-gemalten Gemälde - zum Erstaunen des Tischlers und aller ab, wiewohl sich noch untersuchen läßt, ob nicht eben ein lebendiger Sarg-Sasse und Konklavist etwas herunterbieten könne. Er ließ sich seine Montur anziehen und damit in den viel zu schmalen und kurzen Sarg (der tischlerische Dieb hatte auf einen Mann ohne alles Gefühl gezählt) einschachteln; geschworen mußte ihm dabei werden, daß keine Totenfrau ihn anrühre oder gar wasche für ein paar Würmer, die selber nicht reinlich leben. Verfasser dieses muß schon irgendwo anders die Abneigung bemerkt haben, welche die meisten Männer gegen Totenfrauen (Leichenweiber) und Wehmütter hegen, vielleicht weil sie dem Zwischenreiche der beiden in das Leben und aus dem Leben führenden Frauen ungern ihre männliche Machtvollkommenheit unterordnen; denn gegen Leichenbesorger und Geburtshelfer hätten sie wohl weniger.

So sehr das Volk auch Abendmahl, wie Testament, für eine Selbstverschreibung an den Tod ansieht: so konnte seine zerronnene Frau ihn doch nicht in dieser freien Wohnung liegen sehen, ohne ihn zu freier Kost zu bereden, zum Abendmahl. Er wollte aber lange nicht, bis er endlich sagte: der Pfarrer möge kommen, wenn man ihn vorher eine halbe Stunde allein gelassen, damit er sein letztes Haus-, Heil- und Stärkungsmittel versuche.

Engeltrut sah und hörte ihm unter dem Gebrauche dieses Mittels heimlich zu durchs Schlüsselloch .....

- Die sächsische Zensur könnte - so liberal sie auch gegen das sei, was Meß-Fuhrleute bei schlechtem Wetter auf dem Wege sagen - letztern nicht erlauben, mein Buch auf eine Messe zu fahren, wenn ich auch nur eine Seite mit den Flüchen anfüllte, welche der Vogler ausstieß im Sarg. Er stellte sichs so lebhaft vor, er stehe in voller Blüte auf keinem engern Felde als dem Schlachtfelde, und zwar als Korporal vor seinen Leuten, daß er unter dem Schwünge der längsten Arme und dem Ballen der magersten Fäuste entsetzlich fluchte und sakramentierte. Der Fluch-Orkan sollte ihn etwas stärken halt' er gehofft. Aber der alte heiße, sonst eisenhaltige Sprudel überlegte ihn diesmal bloß mit einigem Mattgold nachglänzender Zeit, und er sank kränker ins enge Haus zurück. Er fühlte, im Krieg sei mehr Geselligkeit; gemeinschaftliches Kämpfen - Siegen - Sterben und geselliges Übereinanderfaulen.

Engeltrut holte den durch sein Sakramentieren desto nötigern Beichtvater samt dem Sakrament. - Nach dem Abendmahl sagt' er: »In dieser Nacht fahr' ich ab, und eßt vorher.« - »Ach Vater!« sagte Helf. - »Nun so leistet mir noch einen christlichen Liebesdienst!« sagt' er. Er ließ sich seinen Leibvogel (bloß ein Kanarienmännchen) auf die Brust setzen - dann sollte die Frau entweder ein weltliches Schlemper- oder ein geistliches Kirchenlied singen, und der Sohn zuweilen auf eine Soldatentrommel klopfen, damit alle seine Vögel auf einmal anfingen zu pfeifen. Nach der Bitte zog er selber mühsam seine Mütze über die Augen herein bis an den Mund und sagte: »Adje!«

Als der Sohn auf die Trommel schlug, und die Mutter ein Kirchenlied sang: legten die Sangvögel ihren ganzen Ton-Markt aus, die Sprach-Vögel warfen ins harmonische Wettrennen alle Schimpfworte der Menschen, und der Kanarienvogel sprang auf der untergehenden Brust umher. »Es ist halt Welt«, murmelte Siegwart unter der Mütze. Die Mutter sang fort, ergriff aber damit sich selber hart, und sie mußte noch die väterliche Hand dem Sohne ins Gesicht fest drücken, der seine Hände für die Trommel-Klöppel brauchte. »Es ist halt Welt«, sagte der Vogler, aber mit viel anderem Tone als vorher. Die Wogen rauschten ihm lauter, womit der Raubfisch ankommt, welcher den Menschen verschlingt. Aber der Traum seiner Kriegs-Jugend erleuchtete das Totenmeer mit seinem Glanz, und er rief: »Drauf und dran!« und drückte den Kanarienvogel auf der Brust entzwei. »Sie pfeift!« sagt' er endlich, und dieses war sein letztes Wort; - aber niemand weiß, ob er damit seine Nachtigall oder eine Schlachtfelds-Kugel gemeint. Kurz darauf wurd' er still und war tot.

Die Frau bemerkte es zuerst und fuhr über ihn her mit schreienden Schmerzen. Der Sohn trommelte fort, weil er ihn wegen der offenen Augen noch für lebendig ansah.  - (fibel)

Sterben (21)   Es war, als stürbe Brankovic nicht an der Wunde, die ihm mit der Lanze zugefügt worden war. Er spürte diese Wunde nicht einmal. Er spürte weit mehr als eine einzige Wunde, und die Zahl dieser Wunden vervielfachte sich mit großer Geschwindigkeit. Er spürte, daß er hoch auf einer steinernen Säule stand und zählte. Es war Frühling; es wehte ein Wind, der Zöpfe flocht aus den Weidenruten, und alle Weiden vom Moris bis zur Theiß und zur Donau trugen Zöpfe. Etwas wie Pfeile bohrte sich in seinen Körper, doch spielte sich der Vorgang umgekehrt ab: bei jedem Pfeil spürte er zuerst die Wunde, dann den Einstich, der Schmerz ließ nach, man hörte durch die Luft ein Pfeifen, und schließlich schnarrte die Sehne, von der der Pfeil abgeschnellt worden war. So zählte er sterbend die Pfeile von eins bis siebzehn, dann aber fiel er von der Säule und hörte zu zählen auf. Bei diesem Fall stieß er auf etwas Hartes, Unermeßliches und Riesiges. Aber es war nicht die Erde. Es war der Tod. Seine Wunden flogen bei diesem Aufschlag nach allen Seiten auseinander, so daß eine die andere nicht mehr zu spüren vermochte, und nun erst schlug er auf der Erde auf, schon tot.

Nun aber starb er in diesem selben Tod noch ein zweites Mal, obwohl es schien, als sei in ihm auch für den geringsten Schmerz kein Platz mehr. Zwischen den Einstichen der Pfeile starb er zur selben Zeit noch einmal, aber ganz anders, er starb einen noch nicht gereiften, knabenhaften Tod und fürchtete einzig, nicht schnell genug anzukommen, um die ungeheure Arbeit zu erledigen (denn der Tod ist eine anstrengende Arbeit) und um zur selben Zeit, wenn es zum Sturz von der Säule käme, auch mit diesem anderen Tod fertig zu sein. Deshalb spannte er alle Kräfte an und eilte. Er lag bei dieser reglosen Eile hinter einem bunten Stubenofen, der in Form einer wie Kinderspielzeug kleinen Kirche mit roten und goldenen Kuppeln gemauert war. Die glühenden und eiskalten Schmerzstöße quollen aus ihm ins Zimmer, als entrissen sie sich aus seinem Körper in die Freiheit, und wechselten schnell die Jahre. Die Dämmerung breitete sich wie Feuchtigkeit aus, jeder Raum im Haus dunkelte auf andere Art, und nur die Fenster trugen noch die Bürde des Tageslichts, kaum bleicher als das Dunkel des Zimmers. Jemand aus dem unsichtbaren Vorhof machte sich da auf den Weg, eine Kerze tragend, und so als gäbe es am Türpfosten schwarze Türflügel wie Blätter in einem Buch, blätterte er sie, das Licht ständig verrückend, kurzerhand um und trat ein. Indem ergoß es sich aus ihm, und er pißte all seine Vergangenheit aus sich heraus und war leer. Dann aber schien es, als schwölle Wasser an, und draußen stieg die Nacht von der Erde zum Himmel auf; nun fiel ihm mit einemmal alles Haar aus, als streife man ihm, der schon tot war, die Mütze vom Kopf. - (pav)

Sterben (22)  Frau Margarete Häberle befand sich in ihrer Stube allein, da sie auf dem Bett sich quälte, den Tod zu erwarten. Beide, die Stube und sie, schauten diesem Vorgang zu mit einer puritanischen Ärmlichkeit, die nichts zu verlieren hat. Zu dem abgeschrubberten Boden war schon oft die gequälte Hand einer Sterbenden gesunken. Der arme, dünnsträhnige Kopf der Witwe mühte sich zu unterscheiden, ob der dunkle, breite Lehnstuhl eine Haube sei, oder noch der alte Stuhl. In ihrer Angst begann sie ein Kirchenlied zu singen, während die letzten Sterne wegschwanden. Die Alte richtete sich auf, jedoch irgend etwas hinderte sie an einer rechten Andacht, deren sie bedurft hätte. Sie beschaute entrüstet ein niederträchtig brünstiges Bild, das irgendein schönheitstrunkenes Gemüt hingehängt hatte, und rief in ihrer schweren Angst, als ihr etwas den ausgetrockneten Magen herauffuhr: Jakob, Jakob! Inzwischen war es hell geworden und wie verärgert über den unpassenden Beginn des Tages, da sie weg mußte, schrie sie: Du dreckiger Haderlump. Doch in diesen Worten fuhr es ihr vom Magen in die Herzgrube und dies Gefühl und solche Schimpferei breiteten in ihr eine Wohligkeit aus, die dem abgebrauchten Leib nicht mehr anstand und ihn zum Tode brachte. Nach einer kurzen Stille einer bescheidenen Ehre für die dürre Frau, die zusammengekrumpelt in dem billigen Weißzeug lag, das an manchen Stellen durchgewaschen war, hatte sich die schon recht verrunzelte Haut der Alten noch mehr zusammengeschoben, das Hemd war ihr im letzten Kampf von der Schulter gerutscht und einiges verriet, daß dies Hinterstubengeschöpf, das sparsam seine Haut abgenutzt, wohl früher einige Feinheit des Leibes besaß, die herauskam, da die geizende Armut weggewichen war, worüber die roten Karos des Federbettes stürmten, da die Hände der Alten mit ihren Schmutzrinnen sie nicht mehr griffen. Ein langgeschossener junger Mensch klinkte auf, rief herein:

»Mutter, mach Kaffee« und schlug dann wieder die Tür zu.  - Carl Einstein, Der Tod. In: Die Berliner Moderne 1885 - 1914. Hg. Jürgen Schutte und Peter Sprengel. Stuttgart 1987 (Reclams UB 8359)

Sterben (23)  In Secondigliano wissen kleine Jungs, ja schon Kinder ganz genau, wie man stirbt oder wie man lieber sterben sollte. Als ich den Ort des Attentats auf Carmela Attrice verließ, hörte ich das Gespräch eines kleinen Jungen mit seinem Freund. Der Ton war sehr ernst:

»Ich will sterben wie die Signora. In den Kopf, bum, bum ... und alles ist vorbei.«

»Aber ins Gesicht, sie haben sie ins Gesicht geschossen, ins Gesicht ist schlimm!«

»Nein, gar nicht schlimm, ist eh nur eine Sekunde. Vorne oder hinten, es ist immer der Kopf!«

Ich mischte mich ein, um meine Meinung zu äußern und Fragen zu stellen. Deshalb fragte ich die beiden Jungen: »Ist es nicht besser in die Brust? Ein Schuß ins Herz und dann ist's aus.«

Doch der Junge kannte die Dynamik des Schmerzes besser als ich und begann detailliert über die Folgen einer Schußverletzung zu referieren, wie ein echter Fachmann.

»Nein, ein Schuß in die Brust tut weh, sehr weh, und du stirbst erst nach zehn Minuten. Die Lungen müssen sich mit Blut füllen, und es trifft dich wie eine feurige Nadel, mit der sie hineinstechen und in der Wunde herumbohren. Auch an Armen und Beinen tut es weh. Da ist es wie ein heftiger Schlangenbiß. Ein Biß, der sich ins Fleisch frißt. Am Kopf dagegen ist es besser, so machst du dir nicht in die Hose, die Scheiße kommt dir nicht raus, und du krümmst dich nicht eine halbe Stunde auf dem Boden ...«

Der Junge hatte mehr als eine Leiche gesehen. Am Kopf getroffen zu werden verhindert, daß man vor Angst zittert, sich in die Hose macht und daß der Gestank, der Gestank der Eingeweide, aus den Löchern im Bauch dringt.  - Roberto Saviano, Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. München 2006

Sterben (24)  Ich wage nichts über den weiteren Verlauf der Krankheit meiner Frau vorauszusagen; gute, schlechte und abscheuliche Tage wechseln einander ab, so wie auch Appetitlosigkeit und Appetit, schmerzhafte, blutige Entleerungen und andere, die nichts Alarmierendes an sich haben. Man kann überhaupt nichts mehr herausfinden, außer daß Betrübnis und Magerkeit zunehmen und alle Kräfte schwinden. Eine Erscheinung aber erschreckt mich mehr als jede andere, es sind ihre sanfte Art, ihre Geduld, ihr Stillschweigen und — was noch schlimmer ist — ihre zurückkehrenden Gefühle der Freundschaft und des Vertrauens zu mir. Weder sie noch sonst jemand aus ihrer Umgebung kann schlafen. Nur der Arzt ist immer zufrieden. Ich glaube, er weiß nicht, was er tun soll, die Krankheit scheint eine andere Ursache zu haben als die, welche er ihr zuschreibt, doch ich wage nicht, dazu den Mund aufzumachen. Dächte ich zufällig falsch, er aber übernähme meinen Fehler, und hätte dann die veränderte Behandlung verhängnisvolle Folgen, so käme ich nie darüber hinweg. Also muß ich vom Morgen bis zum Abend einer Kranken Dinge vorsetzen, von denen ich annehme, daß sie wenn nicht für den Krankheitszustand gefährlich, zumindest aber falsch verordnet und wenig heilsam sind, ich muß die schlechte Wirkung ansehen und schweigen.  - (sop)

Sterben (25)

Sterben (26) Aus der Nase eines alten Väterchens sprang eine kleine Kugel und fiel zu Boden. Das alte Väterchen bückte sich, um die Kugel aufzuheben, da sprang ein kleines Stäbchen aus seinen Augen und fiel auch zu Boden. Das alte Väterchen erschrak, wußte nicht, was es tun sollte, und bewegte die Lippen. In diesem Moment sprang aus dem Mund des alten Väterchens ein kleines Quadrat. Das alte Väterchen faßte sich an den Mund, aber da sprang aus seinem Ärmel eine kleine Maus. Dem alten Väterchen wurde vor Schreck schlecht, und um nicht umzufallen, kauerte es sich hin. Doch da knackte etwas im Innern des alten Väterchens, und das alte Väterchen sackte wie eine weiche Plüschjacke um. Da schnellte aus dem Hosenschlitz des alten Väterchens eine lange, lange Rute, und auf der äußersten Spitze dieser Rute saß ein zierliches Vöglein. Das alte Väterchen wollte schreien, aber seine Kiefer hatten sich verkrampft, und statt des Schreis entrang sich ihm nur ein schwacher Schluckauf, und da schloß es ein Auge. Das andere Auge des alten Väterchens blieb offen, hörte aber auf, sich zu bewegen und zu blitzen, stand schließlich reglos und trüb wie bei einem Toten. So hatte der heimtückische Tod ein altes Väterchen ereilt, das seine Stunde nicht kannte.  - (charms)

Sterben (27)  «Hast du geschlafen?»

Ich glaube kaum, daß ihn meine Antwort erreichen konnte. Das war nicht das Bewußtsein, dessen Wiederkunft ich so sehr befürchtet hatte. Wenn man stirbt, muß man sich wohl mit ganz anderen Dingen abmühen, als daß man an den Tod denken könnte. Die ganze Sorge meines Vaters galt nur seiner Atmung. - (cos)

Sterben (28)  Ich wußte schon von ihrer Krankheit, Lieber, - aber ich wußte nicht, daß sie so gefährlich sey. Nur keine lange Krankheit - es ist etwas entsetzliches und so etwas unnützes, da nur Ideen, aber körperliche Leiden nicht bilden - besonders wenn sie so schwer sind, daß der Geist sich nicht mehr ermannen kann. Meine Sofie hat einen schönen Tod gehabt - Vorher sind einige schreckliche Tage gewesen, die sie still und lächelnd und tröstend durchlebt hat. Sie ist mit jeder Minute liebenswürdiger geworden - Heiter und gefaßt hat sie zuletzt um ihren Tod gewußt - Ein sanfter Schmerz hat sie auf einmal allen Lasten enthoben. Ihr unbemerkt ist ihr Körper schon die letzten Tage fast in völlige Auflösung übergegangen, die letzte Nacht phantasirt sie - auf einmal schüttelt sie mit dem Kopf - lächelt und sagt: Ich fühl's, ich bin närrisch - ich bin nicht mehr nütze in der Welt - ich muß fort.   - Novalis an Karl Ludwig Woltmann (14. April 1797)

Sterben (29)  Wenige Menschen kennen den Tod. Gewöhnlich erleidet man ihn nicht entschlossen, sondern stumpfsinnig brauchgemäß, und die meisten Menschen sterben, weil man zu sterben nicht umhin kann.  - La Rochefoucauld nach (lar)

Sterben (30)  »Jakow!« Marfa rief unverhofft nach ihm. »Ich sterbe!«

Er sah sich nach seiner Frau um. Vor Fieber war ihr Antlitz rosig anzuschauen, es war ungewöhnlich klar und freundlich. Jakow, daran gewöhnt, daß ihr Gesicht stets blaß, verzagt und unglücklich aussah, war darüber ganz verwirrt. Es sah wahrhaftig danach aus, als würde sie in der Tat sterben und als wäre sie froh, daß sie endlich auf immer diese Hütte verlassen könnte, diese Särge und den Jakow ... Und da starrte sie zur Decke empor und bewegte die Lippen, und ihre Miene war ganz glücklich, wie wenn sie den Tod, ihren Erlöser, sähe und sich mit ihm flüsternd unterhielte.   - Anton Tschechow, Rothschilds Geige, nach (tsch)

Sterben (31)  Sie erzählte, wie's gewesen war, und daß die Augen der Mutter, die röchelnd im Bett lag, sich unerwartet geweitet und staunend nach oben geblickt hatten. Dann war ihr Unterkiefer herabgefallen. Eugens Schwester hatte die Ärztin herbeigeholt, die ihre Hand auf die Augen der Mutter gelegt und gesagt hatte: »Es kommt noch einmal zurück.« Mit dem Wörtchen »es« meinte sie wahrscheinlich das Leben, und Eugen hörte seine Schwester sagen: »Es ist dann auch zurückgekommen, und ihr Gesicht ist gelb geworden, zitronengelb ...« Margret machte eine Faust, um die scharfe und gelbe Farbe zu betonen. »Dann ist gleich die Koreanerin mit der Kinnstütze gelaufen gekommen.«    - Hermann Lenz, Seltsamer Abschied. Frankfurt am Main 1990

Sterben (32)  Der Biltong lag im Sterben. Riesig und alt hockte er in der Mitte des Siedlungsparks, ein Klumpen aus uraltem gelbem Protoplasma, dick, gummiartig, opak. Seine Pseu-dopodien vertrocknet, zu schwärzlichen Schlangen zusammengeschrumpft, die unbeweglich auf dem braunen Gras lagen. Die Masse sah in der Mitte seltsam eingesunken aus. Der Biltong sackte allmählich ein, während die Feuchtigkeit von der schwachen Sonne über ihm aus seinen Venen gebrannt wurde.

»O mein Gott!« flüsterte Charlotte. »Wie furchtbar er aussieht!«

Der massige Rumpf des Biltongs hob und senkte sich schwach. Widerliches unablässiges Würgen war zu sehen, während er darum kämpfte, sein schwindendes Leben festzuhalten. Fliegen sammelten sich um ihn herum zu dichten schwarzen, blau schillernden Schwärmen. Ein schwerer Geruch hing über dem Biltong, ein übler Gestank nach sich zersetzender organischer Materie. Eine Lache aus brackigen Sekreten war aus ihm herausgesickert.

Innerhalb des gelben Protoplasmas der Kreatur pulsierte qualvoll ein fester Kern aus Nervengewebe mit raschen abgehackten Bewegungen, die sich in Wellen über das träge Fleisch ausbreiteten. Die Fasern degenerierten fast merklich zu verkalkten Körnchen. Alter und Zerfall - und Leiden.

Auf der Betonplattforrn, vor dem sterbenden Biltong, lag ein Haufen von Originalen, die kopiert werden sollten. Daneben ein paar Kopien, die angefangen worden waren, unförmige Kugeln aus schwarzer Asche, vermischt mit der Flüssigkeit aus dem Körper des Biltongs, dem Saft, aus dem er mühsam seine Kopien schuf. Er hatte mit der Arbeit aufgehört, seine noch funktionsfähigen Pseudopodien unter Schmerzen wieder eingezogen. Er ruhte - und versuchte, nicht zu sterben. - Philip K. Dick, Alles hat seinen Preis. In: P. K. D., Foster, du bist tot. Zürich 2001 (zuerst 1954)

Sterben (33)   

Mourir, ce n'est jamais que contraindre sa conscience, au moment meme où elle s'abolit, à prendre congé de quelques quartiers physiques actifs ou somnolents d'un corps qui nous fut passablement étranger puisque sa connaissance ne nous vint qu'au travers d'expédients mesquins et sporadiques. Gros bourg sans grâce au brouhaha duquel s'employaient des habitants modérés... Et au-dessus de cet atroce hermétisme s'elançait une colonne d'ombre à face voûtée, endolorie et à demi aveugle, de loin en loin - o bonheur ~ scalpée par la foudre.

Sterben heißt immer nur sein Bewußtsein zwingen, gerade dann, wenn es getilgt wird, Abschied zu nehmen von ein paar physisch aktiven oder verschlafenen Teilen eines Körpers, der uns ziemlich fremd war, denn seine Erfahrungen kamen uns nur über erbärmliche und vereinzelte Notbehelfe. Grober Marktflecken, reizlos im lauten Gelärm, Beschäftigung zahmer Einwohner... Und über diesem furchtbaren Hermetismus wuchs eine Schattensäule empor mit gewölbtem Gesicht, schmerzvoll, halb blind, dann und wann - o Glück - vom Blitzstrahl skalpiert.

- René Char, Partage formel - Unanfechtbarer Anteil, aus: R. C., Zorn und Geheimnis. Frankfurt am Main 1991 (zuerst 1948)

Sterben (34)   Mein fortschreitendes Sterben habe idi fast nicht gespürt: es fing an im Zellgewebe der linken Hand; inzwischen ist es schon weit gediehen. Das Brennen nimmt so allmählich, so stetig zu, daß ich es nicht bemerke. Ich kann immer weniger sehen; das Tastgefühl versagt mir den Dienst; die Haut löst sich ab; die Empfindungen sind undeutlich, schmerzhaft; ich bemühe mich, sie zu vermeiden. Im Angesicht des Spiegelschirms erkannte ich, daß ich bartlos, kahlköpfig, ohne Fingernägel, leicht gerötet bin. Die Kräfte lassen nach. Was den Schmerz angeht, habe ich einen widerstreitenden Eindruck: mir scheint, daß er zunimmt, daß ich ihn jedoch weniger fühle.  - Adolfo Bioy Casares, Morels Erfindung. München 1965 (zuerst 1940)

Sterben (35)   Mancher fürchtet weit weniger den Tod, als die Operation des Sterbens. Da macht man sich die allersonderbarsten Begriffe von der letzten Todesnot, der gewaltsamen Trennung der Seele von ihrem Körper u. dgl. mehr. Aber dies alles ist völlig unbegründet. Gewiß hat noch kein Mensch das Sterben selbst empfunden, und ebenso bewußtlos als wir ins Leben treten, treten wir wieder heraus. Anfang und Ende fließen hier wieder zusammen. Meine Beweise sind folgende: Zuerst kann der Mensch keine Empfindung vom Sterben haben, denn Sterben heißt nichts andres, als die Lebenskraft verlieren, und diese ist's eben, wodurch die Seele ihren Körper empfindet; in demselben Verhältnis also, als sich die Lebenskraft verliert, verliert sich auch die Empfindungskraft und das Bewußtsein, und wir können das Leben nicht verlieren, ohne zugleich oder noch eher (denn es gehören dazu zartere Organe) auch das Gefühl des Lebens zu verlieren. Und dann lehrt es auch die Erfahrung. Alle die, welche den ersten Grad des Todes erlitten und wieder zum Leben zurückgerufen wurden, versichern einstimmig, daß sie nichts vom Sterben gefühlt haben, sondern in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit versunken sind.* - Man lasse sich nicht durch die Zuckungen, das Röcheln, die schein-bare Todesangst irremachen, die man bei manchen Sterbenden sieht. Diese Zufälle sind nur ängstlich für den Zuschauer, nicht für den Sterbenden, der davon nichts empfindet. Es wäre ebenso, als wenn man aus den fürchterlichen Zuckungen eines Epileptischen auf seine inneren Gefühle schließen wollte. Er weiß nichts von alledem, was uns so viel Angst machte.

* Einer, der sich erhängt hatte und wieder zum Leben gebracht wurde, erzählte, daß er, sowie der Strick sich zusammengezogen habe, sogleich in einen Zustand von Bewußtlosigkeit geraten sei, wo er nichts gefühlt habe; nur das erinnere er sich dunkel, daß er Blitze gesehen und dumpfes Glockengeläute gehört habe.

- (huf)

Sterben (36)  An mein eigenes Sterben dachte ich wie an die größten, himmlischen Freuden, die ewige Hochzeitsnacht wäre dann angebrochen.

Wie sträubt sich doch alles gegen ihn, und wie gut meint es der Tod! In jedem Gesicht forschte ich neugierig nach seinen Zeichen, in den Runzeln und Falten des Alters entdeckte ich seine Küsse. Immer wieder neu erschien er mir; wie köstlich waren seine Farben! Seine Blicke gleißten so verführerisch, daß sich der Stärkste ihm ergeben mußte, dann warf er seine Vermummung ab, und mantellos schaute ihn der Sterbende, umglänzt von Diamanten, in tausend spiegelnden Facetten.  - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

 

Tod Verwandlung

 

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