ürger     Es ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes, das menschliche Herz. Eine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nichts weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet. Stünde einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht ein Linnäus auf, welcher nach Trieben und Neigungen klassifizierte, wie sehr würde man erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre und in der schmalen Umzäunung der Gesetze jetzt ersticken muß, mit dem Ungeheuer Borgia in einer Ordnung beisammen fände. - Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlohrener Ehre. Eine wahre Geschichte. 1786

Bürger (2)

Bürger

Schreckliche Burgen. Burgen auf Bergen
beherbergen schrecklich schreckliche Bürger.
An Wänden wächst der Pilz wie an Särgen.
Finsterer Winter, frostiger Würger.

Seit frühem Morgen schelten sie, schnaufen,
weil Schnee, weil teuer, weil dies, weil das da.
Ein bißchen sitzen, ein bißchen laufen,
und alles Wahnsinn. Phantome. Basta.

Prüfen die Uhren, prüfen die Taschen,
zupfen an Schlipsen, glätten die Bärte.
Gehen herab in stolzen Gamaschen
von ihren Burgen - auf unsere Erde.

Und wie sie gehen, peinlich verschlossen,
sehen zur Rechten, sehen zur Linken.
Und sehend - sehen sie unverdrossen
alles in einem: den Baum,... und den Schinken ...

Die Zeitung nehmen sie in die Finger wie Brei
und kaun und kaun diese Massen,
bis ihre Schädel, vom Zeitungsdünger
gebläht, ganz dick sind und nichts mehr fassen.

Und schwatzen wieder, sehr ernst und ernster,
daß Gott... daß Rußland... daß Festlichkeiten...
In Schichten wachsen Geschwätzgespenster
und schwimmen scheußlich im Meer der Zeiten.

Am Abend sinken die übertrieben
geschwellten,  immer schwereren Birnen.
Spähn unter Betten, suchen nach Dieben,
stoßen ans Nachtgeschirr mit den Stirnen.

Und wieder prüfen sie Taschen, Zettel,
geflickte Hinterteile, Geschwüre,
heilige Habe, den Bürgerbettel,
das eigentümlich, ausschließlich Ihre.

Dann beten sie noch: »Laß Gnade walten...
schütz uns vor Hunger... vor Krieg ... vor Schurken«
und schlafen ein, die Fressen in Falten,
schreckliche Bürger in schrecklichen Burgen.

- Julian Tuwim, nach (mus)

Bürger (3)   Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen das Ehepaar Chien Interesse am Tod seines Kindes hatte. Vielleicht habe ich es auch nie gewußt. Es ist ja so lange her! Ich war höchstens zwanzig Jahre alt und habe niemals etwas begriffen von den Kombinationen und Umtrieben der Notare. Ich weiß lediglich, daß nach der Beisetzung des kleinen Chien seine Eltern »in den Genuß« einer hübschen kleinen Summe kamen. Man muß ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie seit dem Zeitpunkt, da dieses Interesse in ihrem Leben Raum gewann, nur noch auf Mittel und Wege sannen, das arme Kind davon auszuschließen. Es wäre gleichwohl vermessen, daraus zu folgern, daß die Chiens Kanaillen gewesen seien. Sie waren BÜRGER, nichts weiter als BÜRGER, und galten mit gutem Recht als sehr ehrbare Leute. Da sie sich durchaus wohl befanden, hatten sie einen wahren Abscheu vor den »Wolken«, das ist alles.

Der Gatte hatte einen guten Posten im Hôtel de Ville, und die Frau führte ein Lektürekabinett oder eine Bedürfnisanstalt, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Beide gehörten der Kategorie der Wohlmeinenden an. Sie hätten Bedenken gehabt, die Sonntagsmesse auszulassen, und förderten einen Wohltätigkeitszirkel. Man sagte respektvoll von ihnen: »Sie besitzen dieses und jenes, ganz zu schweigen von den Aussichten.« - (bloy)

Bürger (4)  Ich mag keine unverhofften Anrufe. Meine Telefonnummer macht in der ganzen Stadt die Runde. Das Telefon ist unter Jüan Rodriguez eingetragen, und die Adresse fuhrt zum hintersten Ende eines Schrottplatzes. Der alte Mann, der ihn betreibt, schiebt mir alle zwei Wochen einen Lohnscheck rüber. Ich lös ihn ein und geh ihm das Geld zurück. Es macht mich zu einem Bürger - ich zahle meine Steuern, drücke die Sozialversicherung ab, all das. Ein bürgerlicher Name ist wichtig. Er öffnet das Tor zu all den feinen Sachen: ordentliche Adresse, Führerschein, Sozialversicherungskarte. Wegen dem FBI hab ich noch keine schlaflose Nacht verbracht, aber das Finanzamt kämpft mit härteren Bandagen. Ich besitze auch eine Geburtsurkunde. Sie ist so falsch, daß sogar ein Name des Vaters draufsteht.   - Andrew Vachss, Bluebelle. Berlin und Frankfurt am Main 1991
 

Klasse Staat

 

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