Verlustanzeige Die Haare verlieren, die Nerven, |
- Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic.
Eine Komödie. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1978)
Verlieren (2) Ich will endlich
Colsman besuchen, steige aus versehn in falschen bus, lande in Weende, nahms
als zeichen, schönwarm, in den bergwald, sehr langsam, durch brusthohes dickicht,
in den bergwald, steilab ins tal an bäumen mich halten, gefährlich und anstrengend,
wieder wüst bergauf und bis Nikolausberg, an sich winzige strecke, da merke
ich, dass ich meine brieftasche verloren habe, aus über arm gelegtem rock heraus,
darin nur die 10 mark und Personalausweis und ein Segensspruch meiner mutter,
kurz vor ihrem tode mir geschrieben und der brief den ich als kleines kind an
meinen schutzengel aufgesetzt - weg und nie wieder
flndbar. Will trotzdem morgen den weg wieder abgehn, wenns nicht regnet, aber
es war kein weg! Aber was hat so etwas zu bedeuten? Es bekam mir vielleicht
nicht schlecht, obwohl ich eben wieder fürchterlich speien musste, aber ich
kann nichts mehr leisten, irgendetwas in mir ist gebrochen - und nun mein »segen«
verloren, mein elixier und talisman. - Hans Jürgen von
der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005
Verlieren (3) Ich
verlor L. in einem Kino, in dem eine Panik
ausbrach. Man wird es mir kaum glauben, aber in einem kleinen Raum - damals
waren die Kinos noch nichts Großartiges - gab ein Mann in der hintersten Reihe
einen so grotesken Stöhnlaut von sich, daß mehrere Zuschauer aufschrien. Dann
erhoben sich andere, und schließlich geriet die ganze Zuhörerschaft in Aufruhr.
Man drängte den Türen zu, stampfte, schrie um Hilfe, jedoch konnte niemand erfahren,
was sich ereignet hatte. Feuer? Mord? Revolution? Niemand wußte es, und niemand
wollte es wissen. Es handelte sich einfach darum, fortzukommen, sich wegzubewegen,
zu rennen. Es war, was man im Sprachgebrauch der australischen Farmer und Rinderzüchter
eine »stampede« nennt. Dies ist ein eindrucksvolles englisches Wort, weil es
das Stampfen der Rinder klanglich zum Ausdruck bringt. Das Vieh setzt sich plötzlich
ohne Grund in Bewegung. Es flieht, es stampft, ein unheimlicher Anblick, und
wehe dem, der unter die Hufe gerät. - Richard Huelsenbeck,
Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente. Heidelberg 1984
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