chüler
Da er nichts mehr besitzt, was wert wäre aufgehoben zu werden, da er, nicht
wahr, eigentlich überhaupt nichts besitzt, kann der Dichter
aufs neue unmittelbar, wie Leonardo sagt, Schüler der Erfahrung
sein. Alles was mit den Sinnen gedacht wurde, sein ganzes Tagebuch von Farben,
Gerüchen, Lauten, Ereignissen, seine ganze tägliche Zoologie, einschließlich
des Intelligiblen selbst, kann nunmehr Gegenstand zerreißbarer Gedichte
sein.
- (
gr
)
Schüler (2) Fuhrmann
hat wieder einmal eine neue Gesamtausgabe gestartet, die ersten 5 Bände sind
erschienen, von einem Hamburger Drucker Arnholdt, Wilhelm ausgeliefert. Er verlangt
einen Subskriptionspreis von 100 Dollar und hat etwa 40 zahlende Bezieher beisammen.
Das andere müssen dann seine Freunde aufbringen, von denen es ja erstaunlicherweise
immer noch welche gibt. Das ist nun jetzt die dritte Gesamtausgabe in den letzten
25 Jahren - der Stil und die Struktur, herausfordernd, nicht mehr durchgearbeitet
und manchmal geradezu albern, sind dieselben geblieben. Anstatt wirklich zu
sagen, was er auf biologischem oder sozialem historischem Gebiet gefunden hat,
schimpft er nur, oft ohne Sinn gegen alles und jeden, der irgendetwas bisher
dazu geschrieben hat, schließlich "erarbeitet" hat, und sagt dann
selbst von sich aus gar nichts als nur ein paar vage Andeutungen. Seltsamerweise
hat er mir die 5 Bände zuschicken lassen - obwohl ich bei der Fuhrmann Clique
(mit Ausnahme von Pegu) verhaßt bin. Ich habe 1) Zweifel geäußert, daß er "verhungert".
Er ißt nicht sehr viel, das stimmt - aber da ist seine Freundin Katz, die ihn
betreut und der er sicher das Leben schwer macht. 2) habe ich Leuten, die er
um Geld angegangen hat, d. h. seine Freunde tun das - erzählt, daß er eine Briefmarkensammlung
hat, die er selbst auf 10 000 Dollar schätzt und die wahrscheinlich noch mehr
wert ist. Wenn er stirbt, weil er nichts mehr veröffentlichen und weiterschreiben
kann, so soll er ruhig seine Sammlung vorher verkaufen. (Für wen hebt er sie
denn auf?) 3) habe ich das "Verbrechen" begangen, vorzuschlagen, als
mir das ständige Jammern um die Nicht-Anerkennung zu viel wurde, einen Artikel
in dem Hamburger Spiegel zu schreiben oder schreiben zu lassen, mit den dort
üblichen Übertreibungen und Schiefheiten, aber mit all den Sensationen, wahr
oder falsch, die Fuhrmann, gewollt oder ungewollt, schließlich zu bieten
hat. Damit wäre er bestimmt wieder in den Mittelpunkt gerückt. Einer seiner
Söhne, ein ganz passabler Dichter, der in der Schweiz
im Tessin als verspäteter Boheme lebt, hat mir geschrieben (Pegu hatte die ganze
Sache weitergetratscht), daß ich das Andenken seines Vaters vernichten würde
und daß die Familie mit Klage vorgehen würde - irgendwo lebt auch noch eine
Frau mit zwei andern Kindern - daß ich selbstverständlich nichts weiter mehr
unternommen habe. Pegu, dem es in Israel ja auch nicht zum besten geht, er verdient
sehr wenig Geld als Anbau-Berater für eine Dorfsiedlung, arbeitet noch immer
als eine Art Sekretär, er schreibt an alle Welt für Fuhrmann und wird
dafür in monatlichen Abständen von dem Meister reichlich beschimpft. Ursprünglich
hatte mir die Form der Herausforderung an die Autoritäten auf jedem Gebiet gefallen,
aber es ist nichts darauf in allen den Jahren gefolgt und heute erscheint es
mir in höchstem Maße langweilig. -
Franz
Jung
an Claire Jung, 28. September 1955. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 2,
Salzhausen / Frankfurt am Main 1981
Schüler (3) Protagoras vereinbarte, wie man sagt, mit seinem Schüler Euathlos ein unglaublich hohes Honorar, und zwar unter der riskanten Bedingung, daß dieser Geldbetrag erst zu zahlen sei, wenn Euathlos seine Meisterprüfung als Anwalt vor Gericht erfolgreich bestanden habe. Als nun Euathlos all die Tricks, mit denen man Richter erweicht und die Gegenpartei aufs Kreuz legt, sowie sämtliche Rhetorenkniffe sich mühelos angeeignet hatte - er war ohnehin ein cleverer Bursche und schlau bis zur Verschlagenheit — da war er es zufrieden, zu wissen, was er hatte wissen wollen, und bekam Lust, sich aus dem Vertrag davonzustehlen. Schlau fügte er einen Hinderungsgrund an den andern und frustrierte seinen Lehrer, denn über lange Zeit hin wollte er weder als Anwalt auftreten noch bezahlen.
Schließlich forderte ihn Protagoras vor Gericht, erläuterte die Bedingungen, unter denen er seine Ausbildung übernommen hatte, beleuchtete das Problem von zwei Seiten und zog daraus den folgenden Doppelschluß: »Wenn ich gewinne«, sagte er, »mußt zu zahlen, denn du bist ja dazu verurteilt. Gewinnst aber du, muß du nichtsdestoweniger zahlen, und zwar aufgrund unseres Vertrags. Du hast dann nämlich deinen ersten Prozeß gewonnen. Also unterliegst du, wenn du siegst, der Vereinbarung, und wenn du verlierst, dem Urteil. Was rechnest du dir also noch für Chancen aus?«
Die Argumentation des Protagoras schien den Richtern logisch und unwiderleglich.
Euathlos aber, als der durchtriebenste Schüler dieses alten Fuchses, stellte
jene zweifache Beweisführung glatt auf den Kopf. »Wenn dem so ist«, sagte er,
»schulde ich dir unter keinen Umständen das Geld, das du verlangst. Denn entweder
siege ich und werde durch das Urteil aus dem Vertrag entlassen, oder ich unterliege
und bin gleichfalls frei von jeder Verpflichtung, denn vereinbarungsgemäß brauche
ich kein Honorar zu zahlen, wenn ich in diesem meinem ersten Prozeß nicht erfolgreich
bin. Also komme ich auf jeden Fall ungeschoren davon: wenn ich verliere, aufgrund
der Abmachung, wenn ich aber gewinne, aufgrund des Urteilsspruchs.« -
Apuleius, Florida, nach (
gsv
)
Schüler (4) Metrokles bewunderte den
Krates und eiferte ihm. nach. Doch
fehlte ihm die Ruhe. Seine Gesundheit war gestört durch beständige Blähungen,
die er nicht an sich zu halten vermochte. Er war ganz verzweifelt und beschloß,
sich zu töten. Krates erfuhr von seiner unglücklichen Lage und wollte ihn trösten.
Er aß eine Unmenge von Wolfsbohnen und ging zu ihm. Er stellte ihm die Frage,
ob es bloß die Scham über sein Leiden sei, die ihn derart betrübe. Metrokles
gab zu, daß er dieses unanständige Geschick nicht ertragen könne. Da ließ Krates,
aufgebläht von den Bohnen, vor seinem Schüler einen Wind nach dem andern streichen
und versicherte ihm, das Menschengeschlecht sei diesem Übel von Natur aus unterworfen.
Darauf hielt er ihm vor, daß er sich vor andern geschämt habe, und verwies ihn
auf sein eigenes Beispiel. Dann ließ er noch einige
Winde streichen, nahm seinen Schüler bei der Hand und
führte ihn mit sich fort. - Marcel Schwob, Der Roman der
zweiundzwanzig Lebensläufe. Nördlingen 1986 (Krater Bibliothek, zuerst 1896)
Schüler (5, philosophischer)
Schüler (6) Der bekannte Philosoph und Soziologe Heinrich Regius, der 1932 auf Grund der richtigen Analyse des von NSDAP und KPD gemeinsam getragenen Berliner Verkehrsstreiks die Gefahr erkannte und das Institutsvermögen seiner Forschungsstelle in die Schweiz und später in die USA transferierte, ließ nach 1950 - obwohl er selbst nach Deutschland zurückkehrte - seine wichtigsten Schätze: die Manuskripte, seine Bibliothek, unter Umgehung seines so riskanten Heimatlandes, in die Schweiz bringen. Er, der Städter, siedelte sich im Tes-sin an, wo der Blick den ganzen Tag über einen eintönigen blauen See betrachtete. Die Bücher füllten Regale in zwei Stockwerken. Hier war er sicher, konnte aber hier nicht leben, wenn leben denken ist. Er war nicht in Not, damit also nichts.
Er war sehr viel kleiner geworden. Da er sich jetzt, nach seiner Emeritierung, in diesem Sommerhäuschen verbarg, mußte er nicht mehr Sorge tragen, Häuser zu meiden, in denen jemand Erkältungen oder Grippe hat. Ein ehemaliger Schüler besorgte den Verkehr mit der Außenwelt, veröffentlichte einzelne, aus der Unzahl der Manuskripte ausgewählte Aufsätze des Meisters. Nach einiger Zeit bemerkte dieser Schüler, daß sein Herr, Regius, offenbar »ausgebrannt« war. Der Schüler ging dazu über, an des Meisters Stelle Aufsätze zu schreiben, wie sie Regius geschrieben hätte, wäre er noch der alte Regius. In dieser fremden Rolle vermochte der Schüler flott zu schreiben, ohne Hemmung, da er Regius' äußere Hülle, den Mann, der hier in seiner Villa umherschritt, sich langweilte, aufs äußerste verehrte. Die so unter dem Namen von Regius entstandenen Aufsätze des Schülers enthielten u.a. folgende Grundgedanken: »Ich denke, wenn ich nicht bin.« »Wenn ich bin, habe ich Ausdrucksprobleme.« »Die irdische Natur als Stellvertreterin der außerirdischen, Kritik des geozentrischen Weltbilds.« »Die Natur als Sternenstoff ist entweder zu heiß oder zu kalt für die Menschen, Natur nicht menschenähnlich.« »Die Illusion des linearen Fortschritts, Kritik des Satzes: Von selbst ändert sich nichts.« »Die tote Arbeit lenkt schneller als die lebendige, aber nur, wenn es um Abstraktionen geht.«
»Du hast doch auch selber Substanz«, sagte die Freundin des Schülers, die
zu Besuch kam, tröstend. Der Schüler: »Was meinst du mit Substanz?« Die Freundin:
»Weiß ich nicht.« Der Schüler: »Es existieren Erkenntnisschwierigkeiten.« Freundin:
»Die du aber überwindest, wenn du in Regius' Position schreibst.« Der Schüler:
»Entsubstantialisiert habe ich Substanz.« Die Freundin, lernwillig, die ihn
umarmt hielt: »Siehst du, das fühle ich.« Der Schüler: »Schlafe eine Stunde
für mich mit.« Die Freundin schläft. Der Schüler schreibt an einem neuen Aufsatz.
Er fühlte etwas Bestimmtes, wenn er von ihr so gänzlich bepumpelt wurde, ließ
sich auch gern von ihr in das Bett einwickeln, das konnte aber auch in der Idee
geschehen, so daß er, real an seinem Schreibtisch sitzend, in Regius' Worten
vier DIN-A4-Seiten mit Buchstaben bedeckte. Die Aussicht auf den blauen See
störte ihn nicht nennenswert. »Es ist nicht wahr, daß der Körper in seiner physischen
Anwesenheit schon der Beweis für Leben ist. Selbst dann nicht, wenn sich alle
Sinne bewegen. Daß ich lebe, erfahre ich dadurch, daß ich denken kann: ich möchte,
wo ich jetzt bin, nicht sein.« - (klu)
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