esichter (in der Menge)

 Wie viele traurige Smileys siehst Du in der Menge?
Wie viele zwinkernde Smileys siehst Du?
Wie viele gleichgültige Smileys siehst Du?

Gesichter in der Menge

- David Sanderson, Smileys. Bonn 2000

Gesicht (2)


Dies ganz teuflische Gesicht,
(Glaubt es, oder glaubt es nicht,)
Eine Amme ist‘s gewesen,
Wohlgeübet auf dem Besen,
Manches Kind verhexte sie,
Daß es zappelte und schrie,
Bis man schob dem armen Tropf
Eine Bibel untern Kopf.
Oft zu Teufelstanz und Spiel
Fuhr sie auf dem Besenstiel,
Doch zum nahen Galgen nur.
Jetzt ganz teuflische Natur,
In der Hölle schwarzem Pfuhl
Wirbelt sie in feur‘gen Wirbeln
Um des Höllenmeisters Stuhl.

- (ker)

Gesicht (3) Was zunächst rein physiognomisch auffällt, das ist die maskenhafte Starrheit des Gesichtes, die ebensowohl erworben ist, wie sie durch äußere Mittel, etwa Bartlosigkeit, Haartracht und anliegende Kopfbedeckungen, betont und gesteigert wird, Daß in dieser Maskenhaftigkeit, die bei Männern einen metallischen, bei Frauen einen kosmetischen Eindruck erweckt, ein sehr einschneidender Vorgang zutage tritt, ist schon daraus zu schließen, daß sie selbst die Formen, durch die der Geschlechtscharakter physiognomisch sichtbar wird, abzuschleifen vermag. Nicht zufällig ist, nebenbei bemerkt, die Rolle, die seit kurzem die Maske wieder im täglichen Leben zu spielen beginnt. Sie tritt in mannigfaltiger Weise in Erscheinung, an Stellen, an denen der spezielle Arbeitscharakter zum Durchbruch kommt, sei es als Gasmaske, mit der man ganze Bevölkerungen auszurüsten sucht, sei als Gesichtsmaske für Sport und hohe Geschwindigkeiten, wie sie jeder Kraftfahrer besitzt, sei es als Schutzmaske bei der Arbeit im durch Strahlen, Explosionen oder narkotische Vorgänge gefährdeten Raum. Es ist zu vermuten, daß der Maske noch ganz andere Aufgaben zufallen werden, als man sie heute ahnen kann — etwa im Zusammenhänge mit einer Entwicklung, innerhalb deren die Photographie den Rang einer politischen Angriffswaffe gewinnt.

Diese Maskenhaftigkeit ist nicht nur an der Physiognomie des Einzelnen zu studieren, sondern an seiner ganzen Figur. So ist zu beobachten, daß der Durchbildung des Körpers, und zwar einer ganz bestimmten, planmäßigen Durchbildung, dem Training, große Aufmerksamkeit gewidmet wird. In den letzten Jahren haben sich die Anlässe vervielfacht, durch die man das Auge an den Anblick nackter, sehr gleichmäßig gezüchteter Körper gewöhnt. Aus: Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932)

Gesicht (4) Von einem Gesicht, hinter welchem ein mit Freiheit wirkendes Wesen wohnt, muß der Erdenkloß nicht reden wie von einem Kürbis, und von futuris contingentibus nicht wie von Sonnenfinsternissen. Man sagt mit eben dem Grad von Bestimmtheit der Charakter des Menschen liegt in seinem Gesicht indem man sich auf die Lesbarkeit von allem in allem beruft, als man sich auf den Satz des zureichenden Grundes stützend behaupten will, er handle maschinenmäßig. - (licht)

Gesicht (5) Alle gehn stillschweigend von dem Grundsatz aus, daß Jeder ist wie er aussieht: dieser ist auch richtig; aber die Schwierigkeit liegt in der Anwendung, die Fähigkeit zu welcher theils angeboren, theils aus der Erfahrung zu gewinnen ist: aber Keiner lernt aus; selbst der Geübteste ertappt sich noch auf Irrthümern. Dennoch lügt das Gesicht nicht, — was auch der Figaro sagen mag, — sondern wir sind es, die ablesen, was nicht dasteht. Allerdings ist die Entzifferung des Gesichts eine große und schwere Kunst. Ihre Principien sind nie in abstracto zu erlernen. Die erste Bedingung dazu ist, daß man seinen Mann mit rein objektivem Blick auffasse; welches so leicht nicht ist. Sobald nämlich die leiseste Spur von Abneigung, oder Zuneigung, oder Furcht, oder Hoffnung, oder auch der Gedanke, welchen Eindruck wir selbst jetzt auf ihn machen, kurz, irgend etwas Subjektives sich einmischt, verwirrt und verfälscht sich die Hieroglyphe, Wie den Klang einer Sprache nur Der hört, welcher sie nicht versteht, weil sonst das Bezeichnete das Zeichen sogleich aus dem Bewußtseyn verdrängt; so sieht die Phvsiognomie eines Menschen nur Der, welcher ihm noch fremd ist, d. h. nicht durch öfteres Sehn, oder gar durch Sprechen mit ihm, sich an sein Gesicht gewöhnt hat. Demgemäß hat man den rein objektiven Eindruck eines Gesichts, und dadurch die Möglichkeit seiner Entzifferung, streng genommen, nur beim ersten Anblick. Wie Gerüche uns nur bei ihrem Eintritt afficiren und der Geschmack eines Weins eigentlich nur beim ersten Glase; so machen auch Gesichter ihren vollen Eindruck nur das erste Mal. Auf diesen soll man daher sorgfältig achten: man soll ihn sich merken, ja, bei persönlich uns wichtigen Menschen, ihn aufschreiben; wenn man nämlich seinem eigenen physiognomischen Gefühle trauen darf. Die nachherige Bekanntschaft, der Umgang, wird jenen Eindruck verwischen: aber die Folge wird ihn einst bestätigen.

Inzwischen wollen wir hier uns nicht verhehlen, daß jener erste Anblick meistens höchst unerfreulich ist: — allein wie wenig taugen auch die Meisten! — Mit Ausnahme der schönen, der gutmüthigen und der geistreichen Gesichter, — also höchst weniger und seltener, — wird, glaube ich, fein fühlenden Personen jedes neue Gesicht meistens eine dem Schreck verwandte Empfindung erregen, indem es, in neuer und überraschender Kombination, das Unerfreuliche darbietet. Wirklich ist es, in der Regel, ein trübsäliger Anblick (a sorry sight). Einzelne giebt es sogar, auf deren Gesicht eine so naive Gemeinheit und Niedrigkeit der Sinnesart, dazu so thierische Beschränktheit des Verstandes ausgeprägt ist, daß man sich wundert, wie sie nur mit einem solchen Gesichte noch ausgehn mögen und nicht lieber eine Maske tragen. Ja, es giebt Gesichter, durch deren bloßen Anblick man sich verunreinigt fühlt. Man kann es daher Solchen, denen ihre bevorzugte Lage es gestattet, nicht verdenken, wenn sie sich so zurückziehn und umgeben, daß sie der peinlichen Empfindung, »neue Gesichter zu sehn«, gänzlich entzogen bleiben. - Schopenhauer, Zur Physiognomik

Gesicht (6) Ich ging also eines Tages den Feldweg zu meiner Hütte entlang und freute mich auf acht Stunden Schreiben in völliger Abgeschiedenheit von allen anderen Menschen, als ich in den Himmel schaute und ein Gesicht erblickte. Ich konnte es eigentlich gar nicht richtig erkennen, doch das Gesicht war da, und es war nicht das Gesicht eines Menschen; es war das riesige Antlitz des absolut Bösen. Mittlerweile ist mir klar (und ich glaube, in Ansätzen war mir das auch damals schon klar), weshalb ich es sah: die Monate der Isolation ohne Kontakt zu anderen Menschen, im Grunde ohne jeden sinnlichen Kontakt... trotzdem ließ sich nicht leugnen, daß das Gesicht da war. Es war gewaltig; es nahm ein Viertel des Himmels ein. Statt Augen hatte es leere Schlitze - es war aus Metall, es war grausam, und, was das Allerschlimmste ist, es war Gott.

Ich fuhr zu meiner Kirche, der Saint Columbia's Episcopal Church, und sprach mit meinem Priester darüber. Er kam zu dem Schluß, ich hatte Satan geschaut, und erteilte mir eine Salbung - nicht die Letzte Ölung, nur eine Krankensalbung. Es nutzte nichts; das Metallgesicht am Himmel blieb. Ich mußte jeden Tag den Weg entlang, während es auf mich herabblickte.

Jahre später - lange nachdem ich THE THREE STIGMATA OF PALMER ELDRITCH geschrieben und an Doubleday verkauft hatte - mein erster Vertrag mit Doubleday -, stieß ich in Life auf ein Foto von dem Gesicht. Es zeigte nichts weiter als eine Beobachtungskuppel aus dem Ersten Weltkrieg, die die Franzosen an der Marne errichtet hatten. Mein Vater hatte in der Zweiten Marneschlacht gekämpft; er war bei den Fifth Marines gewesen und gehörte somit zu den ersten amerikanischen Soldaten, die nach Europa gegangen waren, um in diesem gräßlichen Krieg zu kämpfen. Als ich noch ganz klein war, hatte er mir seine Uniform und seine Gasmaske gezeigt, die ganze Gasfilter-Ausrüstung, und mir erzählt, wie die Soldaten bei Gasangriffen in Panik gerieten, wenn die Kohle in ihren Filter Systemen gesättigt war, so daß von Zeit zu Zeit ein Soldat ausflippte, sich die Maske herunterriß und davonrannte. Als Kind hatte ich fürchterliche Angst, wenn ich den Kriegserzählungen meines Vaters lauschte, seine Gasmaske und seinen Helm betrachtete und damit spielte; doch nichts konnte mir einen größeren Schrecken einjagen, als wenn mein Vater die Gasmaske aufsetzte. Sein Gesicht verschwand. Das war nicht mehr mein Vater. Das war einfach kein Mensch mehr. Ich war damals erst vier. Kurz darauf ließen meine Eltern sich scheiden, und ich sah meinen Vater jahrelang nicht wieder. Doch das Bild von ihm mit seiner Gasmaske, verbunden mit seinen Geschichten von Männern, denen die Gedärme heraushingen, von Schrapnellen zerfetzt - Jahrzehnte später, 1963, als ich Tag für Tag den Feldweg entlanglief ohne einen Menschen, mit dem ich hätte reden können, erschien mir dieses metallene, blinde, unmenschliche Antlitz erneut, diesmal jedoch transzendent und riesengroß und durch und durch böse.

Ich beschloß, mich davon zu befreien, indem ich darüber schrieb, also schrieb ich darüber, und es verschwand. Aber ich hatte den Teufel höchstpersönlich gesehen und behauptete damals, und tue es noch heute: »Der Teufel hat ein Gesicht aus Metall.« Wenn Sie sich selbst davon überzeugen möchten, schauen Sie sich doch einmal Bilder von den Kriegsmasken der attischen Griechen an. Wenn Menschen Schrecken verbreiten und töten wollen, setzen sie solche Metallgesichter auf. Die deutschen Ordensritter, gegen die Alexander Newsky ins Feld zog, trugen solche Masken; falls Sie den Film von Eisenstein gesehen haben, wissen Sie, was ich meine. Sie sahen alle gleich aus. Als ich THE THREE STIGMATA schrieb, hatte ich Newsky noch nicht gesehen, aber als ich ihn dann später sah, bekam ich wiederum das Ding zu sehen, das 1963 am Himmel erschienen war, das Ding, in das mein Vater sich verwandelt hatte, als ich noch ein Kind war. - Philip K. Dick, in: Zur Zeit der Perky Pat. Zürich 1994 (zuerst 1963 / 1979)

Gesicht (7) Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun tragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. - Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht. - Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)

Gesicht (8) Funk geht durch das Kirchenschiff. Der Boden ist in unzählige schmale niedere Boxen, in Rabatten, eingeteilt, darin verwest das Leben, darin blüht der Tod.

Funk sieht gelbe Gesichter, blaugraue, grünliche, blutüberkrustete, hochrot geschwollene. Manche, die unruhig sind, die Hirnverletzten, als wollten sie das Stroh, auf dem sie sich wälzen, schlagen und es dreschen, manche, die still daliegen und keuchen. Manche, die einen tiefen schnarchenden Ton des Schmerzes, ein qualentpreßtes Gebrumm im Tempo des Atmens von sich geben.

Manche, die alles aufgesteckt haben. Sie wirken irreführend. Die Toten scheinen hier heimlich die Zahl der Verwundeten größer hinstellen zu wollen, als sie in Wirklichkeit ist. Diese Vollendeten haben sich eingeschlichen unter die Mangelhaften. Hinaus mit ihnen, sie nehmen unnötig Platz weg. Aber man muß sie liegenlassen, man ist der Arbeit und dem Andrang nicht gewachsen. - Alexander Moritz Frey, Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman. Leipzig und Weimar 1984 (zuerst 1929)

Gesicht (9) Von der Schärfe der Augen findet man Beispiele, die allen Glauben überschreiten. Cicero erzählt, daß Homers Iliade, auf Pergament geschrieben, in einer Nuß eingeschlossen gewesen sei; ferner, daß ein Mensch 155 000 Schritte weit gesehen habe. Von diesem hat uns M. Varro auch seinen Namen aufbewahrt, er hieß nämlich Strabo. Im punischen Kriege soll er sogar gewöhnlich vom Vorgebirge Lilybäum in Sizilien aus beim Auslaufen der Flotte aus dem Hafen von Karthago die Anzahl der Schiffe angegeben haben. Callicrates schnitt aus Elfenbein Ameisen und andere so kleine Tiere, daß deren einzelne Teile von andern nicht bemerkt wurden. Ein gewisser Myrmecides machte sich gleichfalls in dieser Hinsicht berühmt; er soll aus demselben Material einen 4spännigen Wagen, den eine Fliege mit ihren Flügeln bedecken, und ein Schiff, das eine kleine Biene unter ihren Flügeln verbergen konnte, verfertigt haben. - (pli)

Gesicht (10)  Erhöhte Befehlsgewalt schuf die Gesichter um; Gründe: 1. »Die Leute vorn halten«, 2. Repräsentanz, 3. Nachahmung. So sind besonders hohe Generäle an der geschärften Haut, am spitzen, drahtig zurückstehenden Ohr, sog. Reiterohren, zu erkennen; im Mittelalter wären Frauen mit solchen Ohren verbrannt worden. Lippen glatt, scharfe Zubeißaugen, kalkige Scharfstimme. - (klu)

Gesicht (11)  Ich habe Doktor Kafka von der Unfall-Versicherungs-Anstalt nach Hause begleitet. Wir gingen diesmals jedoch nicht durch die Zeltnergasse, sondern über den Graben. Danach sprachen wir über einen neuen Novellenband eines erfolgreichen österreichischen Autors phantastischer Romane und Geschichten.

»Er verfügt über eine unerhörte Erfindungsgabe«, sagte ich anerkennend.

Doch Doktor Kafka kräuselte nur etwas die Lippen und meinte: »Erfinden ist leichter als Finden. Die Wirklichkeit in der ihr eigenen, womöglich breitesten Mannigfaltigkeit darzustellen, ist wohl das Schwerste, das es gibt. Die Alltagsgesichter laufen an einem wie eine geheimnisvolle Insektenarmee vorbei.«

Er betrachtete eine Weile versonnen den Betrieb auf dem Kommunikationsknotenpunkt unterhalb des Wenzelsplatzes, wo wir an der Ecke des Brückeis und der Obstgasse stehengeblieben waren.

»Was begegnet einander da alles? Jedes Gesicht ist ein Festungsturm. Dabei verschwindet nichts so rasch wie ein Menschengesicht.« Ich lächelte: »Flöhe und Fliegen sind schwer zu kriegen.«

»Ja, kommen Sie«, nickte Kafka, drehte sich um und eilte mit langen Schritten die Gasse Am Brückel hinunter. - Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981 (Fischer Tb. 5093, zuerst 1954)

Gesicht (12)  Er war ein zäher Bursche, fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt, mit rötlichgelbem Haar und kräftigen Schultern. Seine lederne Schirmmütze hatte er grimmig über ein Auge gezogen. Ich sah von der Seite, wie er, mit dem Kinn auf der Brust und einem verwirrten Stirnrunzeln, auf eine Karte starrte, die einer der Offiziere offen auf dem Tisch liegen hatte. Etwas in diesem Gesicht rührte mich tief. Es war das Gesicht eines Mannes, der einen Mord begehen oder sein Leben für einen Freund wegwerfen würde. Es war ein Gesicht, das man bei einem Anarchisten erwartete, obwohl er sehr wahrscheinlich ein Kommunist war. Offenherzigkeit und Wildheit lagen darin und gleichzeitig auch die rührende Ehrfurcht, die des Schreibens und Lesens unkundige Menschen ihren vermeintlichen Vorgesetzten entgegenbringen. Es war klar, daß er aus der Karte nicht klug werden konnte, sicherlich hielt er Kartenlesen für ein erstaunliches intellektuelles Kunststück. Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemand gesehen - ich meine einen Mann -, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand. - George Orwell, Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg. Zürich 1975 (zuerst 1938)

Gesicht (13) Oft wiederholte, die Gemütsbewegung auch unwillkürlich begleitende, Mienen werden nach und nach stehende Gesichtszüge, welche aber im Sterben verschwinden; daher, wie Lavater anmerkt, das im Leben den Bösewicht verratende abschreckende Gesicht sich im Tode (negativ) gleichsam veredelt: weil nun, da alle Muskeln nachlassen, gleichsam der Ausdruck der Ruhe, welche unschuldig ist, übrig bleibt. - So kann es auch kommen, daß ein Mann, der seine Jugend unverführt zurückgelegt hatte, in spätem Jahren, bei aller Gesundheit, doch durch Lüderlichkeit ein ander Gesicht bekommt; aus welchem aber auf seine Naturanlage nicht zu schließen ist. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)

Gesicht (14)  Wir betreten eine Art Bauernhäuschen oder Hühnerhof, wo wir fünf oder sechs männliche und drei oder vier weibliche Leprakranke sehen. Sie wollen hier Luft schöpfen; eine hat die Nase wie von der Sypilis ganz zerfressen und auf dem Gesicht ein paar Krusten; das Gesicht einer anderen ist ganz rot, von einem Feuerrot. Wir haben schon beim Basar der Parfümhändler einen Mann mit ähnlichem Gesicht vorbeigehen sehen. Ein junger Mann mit blassem Gesicht, grün wie Gras, mit Flecken und ein paar Pusteln. Das alles wimmert, schreit und jammert; Männer und Frauen sind zusammen, keine Geschlechtertrennung mehr, auch keine andere Unterscheidung außer der des Leidens. Als sie von uns ein Almosen bekamen, hoben sie die Arme zum Himmel, wiederholten immer wieder: Allah! und riefen den himmlischen Segen auf uns herab. Ich erinnere mich vor allem an die Frau ohne Nase mit einem eigentümlichen, pfeifenden Kauderwelsch, das aus ihrem Kehlkopf drang. Sie leben da ganz allein und pflegen sich gegenseitig, ohne daß irgend jemand ihnen beistünde. Im ersten Stadium der Krankheit leidet man sehr, danach treten allmählich Lähmungen ein. Das Schlimmste für sie muß sein, sich so zu sehen. Was gäbe das, wenn an den Wänden ihrer elenden Hütten Spiegel hingen! - (orient)

Gesicht (15)  

 - (dali)

Gesicht (16)  Als ich so schaute, wurde ich plötzlich gewahr, daß mich aus einem der oberen Fenster jemand beobachtete.

Ich weiß nicht, Mr. Holmes, was es mit dem Gesicht auf sich hatte, aber sein Anblick jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich war etwas weit weg und konnte die Züge nicht genau ausmachen, aber ich spürte, daß von dem Gesicht etwas Unnatürliches und Unmenschliches ausging. Das jedenfalls war mein Eindruck, und ich trat näher zum Haus, um die mich beobachtende Person betrachten zu können. Doch da verschwand das Gesicht, so plötzlich, als hatte die Dunkelheit des Zimmers es verschlungen. Fünf Minuten verharrte ich, überdachte das Erlebnis und versuchte meinen Eindrücken auf den Grund zu kommen. Ich hätte nicht sagen können, ob es das Gesicht eines Mannes war oder das einer Frau. Vor allem hat mich die Farbe beeindruckt. Das Gesicht war von einem fahlen, stumpfen Gelb und von einer Starre, die ihm ein erschreckend unnatürliches Aussehen gab. Ich war so beunruhigt, daß ich mich entschloß, die neuen Bewohner etwas näher zu betrachten. Ich ging zur Tür, klopfte, und sofort erschien eine große, hagere Frau mit einem herben, abstoßenden Gesicht.

›Was wollen Sie?‹ fragte sie mit nördlichem Akzent. ›Ich bin Ihr Nachbar von dort drüben‹, sagte ich und wies in die Richtung meines Hauses. ›Ich habe gesehen, daß Sie gerade einziehen, und so dachte ich, wenn ich Ihnen irgendwie helfen. ..‹

›Wir werden Sie bitten, wenn wir Sie brauchen‹, sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. - Arthur Conan Doyle, Das gelbe Gesicht. In: Ders., Die Memoiren von Sherlock Holmes. Leipzig und Weimar 1984  (zuerst ca. 1900)

Gesicht (17)  Ich bleibe vor dem Medaillon Banvilles stehen. Findet sich eine Spur von Rose und Jasmin in diesem Rentiersgesicht, mit dicken Backen, mit geschwollenen Lippen wie nach einer leckeren Mahlzeit, mit Augen eines Geizhalses? Nein, das ist nicht der Dichter des Gringoire! Es ist ein anderer? Wer? Mir fällt die Büste von Boulay ein. Das ist nicht der tapfere und ehrenwerte Mann, mit der Nase eines Gnoms, mit dem bösen Mund einer Hexe, mit den Zügen eines gerissenen Bauern.

Und Dumont d'Urville, der gelehrte Naturforscher, Linguist, kühne und umsichtige Entdecker! Der Künstler gibt mir einen gewöhnlichen Wechselagenten! Was? Ist es ein Kennzeichen, das der Mensch trägt, dieser Schirm aus Fleisch und Haut, durchstochen von fünf Löchern, fünf Verbindungswegen mit der großen Kloake

- - - Ich beschwöre die Bilder von großen Zeitgenossen herauf: Darwin, ein Orang-Utan; Dostojewski, ein ausgeprägter Verbrechertyp; Tolstoi, Straßenräuber; Taine, Börsenspekulant! - — genug! Jedoch, es gibt zwei Gesichter, zumindest zwei, unter der mehr oder weniger haarigen Haut. Eine römische Legende unterrichtet uns, daß die äußere Schönheit von Jesus Christus ohnegleichen war, aber in Augenblicken des Zorns seine Häßlichkeit abscheulich, bestialisch. Sokrates, mit der Gestalt eines Fauns, mit einem Gesicht, in welchem sich alle Laster und Verbrechen spiegelten, lebte wie ein Heiliger und starb wie ein Held. Saint Vincent de Paul, der gab, sein ganzes Leben lang, wies den Typ eines listigen und sogar bösen Diebes auf.

Woher diese Masken? Erbe einer Präexistenz, irdischen oder außerirdischen?

Sokrates hat vielleicht die Lösung gegeben, durch seine berühmte Antwort an die Verleumder, die ihm seine Verbrechermaske anlasteten:

- Ermeßt also meine hohe Tugend, da sie gegen so viele schlechte Anlagen zu kämpfen hatte. - (blau)

Gesichter (18)

- Richard Oelze

Gesicht (19)

Gesicht (20)

 

 - Robert Bishop

Gesicht (21)

Gesicht (22)  Und wirklich, was für Gesichter gibt es nicht auf der Welt! Dabei ist eine Fratze der anderen nicht ähnlich. Bei einem spielt die Rolle des Befehlshabers die Nase, bei einem anderen sind es die Lippen, bei einem dritten die Wangen, die sich auf Kosten der Lippen und selbst der Nase so sehr in den Vordergrund gerückt haben, daß die letztere nicht größer erscheint als ein Westenknopf; bei diesem ist das Kinn so lang, daß er es mit dem Schnupftuch zudecken muß, um es nicht zu bespucken . .. Jener zum Beispiel gleicht einem Hunde im Frack.  - Nikolaj Gogol, Nachwort zu: N. G., Die toten Seelen. München 1965 (zuerst 1842)
 

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