nschuld
»Du kleines Monstrum! Du hast es geschafft,
daß ich scheußlich aussehe!« schimpfte Yvette Guilbert
angesichts des Portraits, das Henri Toulouse-Lautrec von ihr
gemalt hatte. Die Guilbert war Gegenstand zahlreicher Zeichnungen
und Karikaturen Toulouse-Lautrecs, auf denen er die große, magere
französische Sängerin in ihrem üblichen Aufzug, einem gelben
Kleid und langen schwarzen Handschuhen, abbildete. Die Handschuhe
hatte sie ursprünglich aus Armut getragen, sie wurden dann jedoch
zu ihrem unverwechselbaren Markenzeichen.
Toulouse-Lautrec: Yvette Guilbert verneigt sich vor dem Publikum
Die Guilbert trat als komische Sängerin in Paris in den Bouffes
du Nord auf, in den bestrenommierten Nachtlokalen Deutschlands
und Englands und in amerikanischen Varietés und wurde berühmt
für ihre gewagten, mit Zweideutigkeiten
gespickten Lieder über das Quartier
Latin, die sie mit einer geradezu vergeistigten Unschuld
sang. - Yvette Guilbert, nach (
barn
)
Unschuld (2) Ein alter Bekannter von mir, ein ehrenhafter, einfacher Mensch, saß einmal ein paar Wochen schuldlos im Gefängnis, solange man eben braucht, um Schuld oder Unschuld eines Bürgers festzustellen. Da er von der Gewißheit seiner eigenen Schuldlosigkeit ausging, verbrachte er diese drei oder vier Wochen in dem Glauben, daß auch alle anderen Insassen des Gefängnisses schuldlos seien und es für die wirklich Schuldigen ein anderes Gefängnis gebe. In seiner Naivität zweifelte er keinen Augenblick daran, daß die »Hüter der Gerechtigkeit« fähig seien, einen Schuldigen von einem Unschuldigen zu unterscheiden, auch wenn durch unglückselige und unvorhersehbare Zufälle manchmal ein Unschuldiger sozusagen probehalber eingesperrt wird, wie für eine Impfung oder eine Quarantäne.
Aus diesem Grund fiel er bei einem seiner täglichen Spaziergänge im Gefängnishof
einem Mißverständnis zum Opfer, über das er sich
sehr grämte und das er sich, wenn er davon erzählt, immer wieder vorwirft, ja,
in dem er sogar die mögliche Ursache seines Gefängnisaufenthaltes sieht. »Ein
Neuer war angekommen. Ich blieb stehen, um mit ihm zu reden. Er fragte mich,
wessen ich beschuldigt würde. Ich sagte es ihm und stellte ihm die gleiche Frage.
Er antwortete mir, daß man ihn des aufsehenerregenden Mordes beschuldige, der
drei Monate vorher in G. verübt worden war. Nun hatte ich alle Zeitungsberichte
über diesen besonders grausamen Mord verfolgt, die Nachforschungen, die Verhaftung
des Schuldigen und sein Geständnis. Ich sagte: ›Aber der Mörder ist doch bekannt!‹
Der Mann verfärbte sich und fragte mit eisigem Mißtrauen: ›Wer ist es denn?‹
Ich antwortete: ›An den Namen erinnere ich mich nicht, aber er ist ein Bruder
des Friedhofswächters.‹ Sein Gesicht wurde noch finsterer, und nach einem langen,
bedrohlichen Schweigen sagte er: ›Was glaubst du,
vielleicht, wir sind hier im Klub? Der Bruder vom Friedhofswächter bin ich.‹«
- Leonardo Sciascia,
Schwarz auf schwarz. München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)
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