oktor Kafka   »Das war zwischen 1891 und 1894. Da war ich noch ein kleiner Junge, den das tschechische Kinderfräulein Tag für Tag über den Altstädter Ring und durch die Teingasse auf den Fleischmarkt zur Schule führte. Nach dem Unterricht wartete das Fräulein gewöhnlich schon wieder vor dem Schultor auf mich. Doch manchmal kam sie zu spät, oder es wurde in der Schule etwas früher Schluß gemacht. Da war ich immer sehr froh. Ich schloß mich dann immer einem Rudel der größten Lausbuben unserer Klasse an, mit denen ich in entgegengesetzter Richtung, aus der ich das Fräulein nicht zu erwarten hatte, in die Ziegengasse marschierte, wo es dann gewöhnlich zu irgendeiner Keilerei kam.«

»An denen haben Sie sich doch nicht beteiligt?« stieß ich unwillkürlich im Ton tiefster Überzeugung hervor, denn ich konnte mir Doktor Kafka wirklich nicht als Schuljungen inmitten einer Rauferei vorstellen.

Doch Doktor Kafka lachte, warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Und ob ich mich an diesen Keilereien beteiligte! Obwohl ich keine Kampferfahrung besaß und mich im Grunde fürchtete, drängte ich mich immer in das dichteste Handgemenge, um meine Mitschüler zu überzeugen, daß ich kein verzärteltes Muttersöhnchen sei, wie sie mich nannten. Und dann: ich wollte nicht als schwächlicher Judenjunge dastehen. Doch ich überzeugte sie nicht, denn ich bekam gewöhnlich Haue. Ich kam nach solchen Extratouren sehr oft verweint, schmutzig, mit knopfloser Jacke und einem zerrissenen Hemdkragen nach Hause. Das war hier.«

Doktor Kafka blieb auf dem Kleinen Ring neben dem barocken Eingang des Schuberthauses stehen und zeigte mit einer kurzen Kopfbewegung auf das aus der gegenüberliegenden Häuserfront hervorbrechende mittelalterliche Haus Minuta, welches, dicht neben dem Rathaus, den Altstädter Ring vom Kleinen Ring trennt. »Die Eltern wohnten hier oben. Doch sie waren nur am Abend daheim. Tagsüber arbeiteten sie in ihrem Geschäft. Sie überließen den Haushalt der Köchin und unserem Kinderfräulein. Die waren immer sehr aufgeregt, wenn ich aus einer dieser Straßenschlachten weinend, zerrissen und schmutzig heimkehrte. Das Fräulein rang die Hände, weinte und drohte mir damit, daß sie mein Vergehen den Eltern melden werde. Sie hat es aber nie getan. Im Gegenteil! Das Fräulein und die Köchin beseitigten gemeinsam - so rasch wie möglich - die Spuren meiner Kämpfe. Dabei brummte die Köchin einigemal: ›Du bist ein Ravachol!‹ Ich wußte nicht was das ist. Ich fragte sie, doch sie sagte nur: ›Das bist du. Du bist ein richtiger Ravachol.‹ Damit reihte sie mich in eine mir ganz unbekannte Menschengruppe ein. Sie machte mich zum Bestandteil eines dunklen Geheimnisses, das mich erschauern ließ. Ich war ein Ravachol! Das Wort wirkte auf mich wie eine schreckliche Zauberformel, die mich in eine unerträgliche Spannung versetzte. Um ihr zu entgehen, fragte ich einmal abends, als meine Eltern im Wohnzimmer Karten spielten, was ein Ravachol sei. Darauf sagte mein Vater, ohne von den Karten aufzusehen: ›Das ist ein Verbrecher, ein Mörder.‹  - Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981 (Fischer Tb. 5093, zuerst 1954)

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