hysiognomik, im eingeschränkten Sinne des Wortes, ist Kraftdeutung, oder Wissenschaft der Zeichen der Kräfte.

Pathognomik, Leidenschaftsdeutung, oder Wissenschaft der Zeichen der Leidenschaften. Jene zeigt den stehenden — diese den bewegten Charakter.

Der stehende Charakter liegt in der Form der festen, und in der Ruhe der beweglichen Theile. Der leidenschaftliche — in der Bewegung der beweglichen. Die Bewegung ist, wie die bewegende Kraft. Die Leidenschaft hat ein bestimmtes Verhältniß zu der Leidenschaftlichkeit, oder Elastizität des Menschen.

Physiognomik zeigt die Summe der Capitalkraft — Pathognomik das Interesse, das jene abwirft. Jene, was der Mensch überhaupt ist; diese, was er in dem gegenwärtigen Moment ist. Jene, was er werden und nicht werden, seyn und nicht seyn kann; diese, was er seyn will und nicht seyn will.

Die erstere ist die Wurzel und der Stamm der andern; der Boden, worauf die andere gepflanzt ist. — Wer die letztere ohne die erstere glaubt, glaubt Früchte ohne Stamm, Getraide ohne Boden ...

Physiognomik ist der Spiegel der Naturforscher und Weisen. Pathognomik der Spiegel der Hof- und Weltleute. Alle Welt lieset pathognomisch — sehr wenige lesen physiognomisch.

Pathognomik hat mit der Verstellungskunst zu kämpfen; nicht so die Physiognomik.

Physiognomik warnt uns, einen Menschen, der 50. per Cent giebt, nicht für reich, und einen, der nicht 1. per Cent geben kann, nicht für arm zu halten. Das heißt — pathognomisch kann einer reich scheinen, der arm ist; physiognomisch ist uns nur der reich, der es ist, ob er gleich gerade itzt arm scheint.

Für den Freund der Wahrheit sind beyde Wissenschaften unzertrennlich. Er studiert beyde, und gelangt dazu — die Physiognomie der festen und unbewegten Iheile in den weichen und bewegten — und die Weichheit und Beweglichkeit der weichen und beweglichen in den festen zu sehen. Er bestimmt jedem Stirnbogen seinen leidenschaftlichen Spielraum — und jeder Leidenschaft den Stirnbogen ihrer Residenz, oder die Potenz, aus der sie sich ergießt; ihre Wurzel, ihren Capitalfond. Durch alle Bände, und beynah auf allen Seiten dieses Werkes hab‘ ich mich bemühet, meinen Lesern mehr Physiognomik als Pathognomik zu geben, weil die letztere viel bearbeiteter ist, als die erstere. - (lav)

Physiognomik (2)  Der herrschende Charakter in seinem Gesicht war: lieber gebrochen als gebogen, dieses zeigte sich auf mancherlei Art, die breite Stirn, welcher man ohne sie zu berühren die Härte ansah, etwas überhängende Augenbraunen, welche die zarteren Ausdrücke in jener Gegend nicht durchließen, und überhaupt alle kleinen Veränderungen verdeckten. Dadurch erhielt das Gesicht ein Beständiges, das die Veränderungen der übrigen Teile allzeit beherrschte. Die Winkel am Munde waren etwas stark heruntergebogen, das Kinn gespalten durch einen Einschnitt der eine Fortsetzung von dem über der Nase zu sein schien. Seine Frisur (denn auch diese gehört mit zu den Gesichtszügen) in der Woche erschien allzeit in einer bewundernswürdigen Harmonie mit dem Gesicht selbst, so daß man hätte glauben sollen, daß sich die Haare nach den Begierden richteten, bald drückte eine runde Glätte die Ruhe in seiner Seele aus, dann wieder die straubigte Verwirrung der Seiten-Haare das Fluctuans sub pectore, das Pyramidenförmige mit der Basi unten und sanft vorhängende den unbiegsamen Entschluß, und endlich das Pyramidenförmige mit der Basi oben äußerste Verwirrung und nahen heftigen Ausbruch, kurz ich habe alles an ihm von selbst werden gesehen woraus etwas philosophische Perückenmacher sich leicht Crêpe, vergette, aile de pigeon, und à la rose hätten idealisieren können.  - (licht)

Physiognomik (3)

IVAN TURGENEV: Dicker russischer Großgrundbesitzer aus vornehmer Familie, traurig, phlegmatisch, zuweilen ungeduldig, sehr ehrenwert, ziemlich intelligent, hat Kultur. Liebt die Malerei, das Theater, die Gesellschaft, wo er wenig spricht und mit träger Aufmerksamkeit zuhört. Sehr konservativ.

PAULINE VIARDOT: Polizeikommissar — abscheulicher Mensch - korrumpiert bis ins Knochenmark - vereinigt in sich alle Fehler, alle Laster. Wenn er nicht so korpulent wäre, würde er gern das Handwerk des Henkers übernehmen — Napoleon III. ist sein Mann. Man muß ihn fürchten, besonders wenn er, bevor er einen Befehl erteilt, lange schweigt und eine leicht bekümmerte Miene aufsetzt — man kann sicher sein, daß er sich gerade etwas Grausames ausdenkt, irgendeine Infamie. Seine Stimme ist rauh, dumpf — er verpestet die Luft im Zimmer — er schwitzt ständig, ist malproper — er niest, hustet, spuckt aus, schneuzt sich so laut, daß die Fensterscheiben klirren — betrunken ist er traurig und schweigsam — wenn er lacht, hört man jede Art von Geräuschen, Pfeifen in seiner Brust und in seiner Kehle - er trägt farbige Flanellhemden, die er einen Monat lang anbehält. Seife und Kamm sind ihm unbekannt - er hat die Kräfte eines Stiers - defensiv, seit er so dick geworden ist. Seine Vergangenheit kennt man nicht, aber man wird den Verdacht nicht los, daß er auf Staatskosten (im Gefängnis) gelebt hat. Er trinkt Absinth.

 - (turg)

Physiognomik (4)  Ein großes, breites Gesicht nennt Porta ein Zeichen für Trägheit. Es entspreche im Charakter den Eseln und Kühen. Große Ohren, den Eselsohren vergleichbar, sollen nach Aristoteles, Polemon und Adamantius als Zeichen von Dummheit gelten. Die große Nase sei ein Zeichen von Rechtschaffenheit. Die Hakennase oder auch Adlernase genannt, zeuge für Großmut. Der freigebige Sergius Galba habe eine solche Nasenform gehabt. Die an der Wurzel eingebogene Nase, wie sie zum Beispiel Raben aufweisen, sei ein Zeichen der Unverschämtheit. Die runde, an der Wurzel eingebogene Nase, die dem Schnabel eines Hahnes ähnelt, spreche für Unzucht und Schwelgerei. Ein offener Mund spreche für Dummheit. Menschen mit spitzem Kinn seien mutig und den Hunden vergleichbar.

Ein bärtiges Weib habe einen schlechten Charakter. Lüstlinge hätten nach Aristoteles Lenden, die beim Gehen zittern. Hinkende Leute neigten zu Unzucht. Große Augen, wie sie Ochsen und Kühe haben, sollen ein Zeichen von Trägheit sein. Kleine, affenartige Augen deuten auf Kleinmut. Wer blasenförmige Auftreibungen unter den Augen habe, sei nach Aristoteles ein Trunkenbold. Dicke Oberlider seien ein Zeichen von Schläfrigkeit. Große Pupillen sprächen für Dummheit, während kleine Pupillen, wie sie Affen, Füchse und Schlangen hätten, ein Zeichen von Böswilligkeit und Verschlagenheit sein sollen. Vorstehende trockene Augen seien ein Zeichen für Mordlust.  - Otto Baur, Bestiarium Humanum. Gräfeling vor München 1974

Physiognomik (5)  Die vernünftigste Art Physiognomik zu behandeln wäre freilich die vermittelst einer Rechnung des Wahrscheinlichen, wenn man ein einziges Mal sagen könnte: Unter 6 Menschen, die so aussahen, waren 5 Bösewichter, allein bis dahin wird es schwerlich jemals kommen, denn obgleich im gemeinen Leben unter dem geschriebenen Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo der Mensch nicht aus ein paar Taten beurteilt werden, sondern auf eine ganze Anlage geschlossen werden soll, sehr schwer und fast unmöglich zu sagen, was ein Bösewicht sei, und nicht allein höchst schwer sondern Vermessenheit eines schwachen oder verwirrten Kopfs zu sagen: der der so aussieht wie einer, den die Welt für einen Bösewicht hielt, ist ein Bösewicht. Denn (welches man nicht genug beherzigen kann) es gibt wenig böse Taten, die nicht unter gewissen Umständen hätten entschuldigt werden können, und die nicht aus Leidenschaft verübt worden wären, die bei einer ändern Gelegenheit der Grund großer und belohnter Taten hätte werden können, und so abgeschmackt die Entschuldigung nach verübter Tat auch noch klingen mag, so sehr verdient sie bei Leuten in Erwägung gezogen zu werden, von denen wir ähnliche Anlage vermuten, denn da kann, was dort der Grund einer schwachen Entschuldigung war, noch wirklich eintreffen, und einer der nicht allein aussieht, wie ein Vatermörder, den ich habe rädern sehen, kann ein großer brauchbarer Mann werden, sondern der Mörder selbst später. Gesetzt auch er habe die Anlage, so trifft er unter Millionenmal gegen eins nicht auf dasselbe System von Umständen, und wenn wir Menschen meiden wollen, die unter gewissen Umständen gefährlich werden können, so müssen wir 99 im 100 meiden. Niemand kennt seine guten und bösen Fähigkeiten alle. Gelegenheit macht nicht Diebe allein, sie macht auch Menschenfreunde Helden und Weisen, aber meines Wissens keine Nasen. Ein Feld für die Romanen- und Schauspieldichter. Die gefährlichsten Menschen (der honnete criminel) sind mir immer die feigen und kriechenden Schwachen, die zu allem und zu nichts taugen, die, wie eine gewisse Art unbrauchbarer Hunde, jedermann apportieren und über jedermanns Stock springen, die unglaublich treu tun und immer weggelaufen sind wenn man sie nötig hat. Solche Menschen tun alles was der fordert der ihnen den Geldbeutel oder die Peitsche (Kette der Finsternis) über den Köpfen schüttelt, und ihre Gesichter, ich habe ihrer mehrere gekannt, und fühle es leider noch, daß ich sie gekannt habe, waren entweder in gefälliges Lächeln verzogen, oder hingen ihnen wie Gallert vor dem Vorderkopf, so daß man Ausdruck darin so vergeblich gesucht hätte, als organischen Bau in einem Glas Wasser. - Lichtenberg

Gesicht Menschenforschung

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