Pathognomik, Leidenschaftsdeutung, oder Wissenschaft der Zeichen der Leidenschaften. Jene zeigt den stehenden — diese den bewegten Charakter.
Der stehende Charakter liegt in der Form der festen, und in der Ruhe der beweglichen Theile. Der leidenschaftliche — in der Bewegung der beweglichen. Die Bewegung ist, wie die bewegende Kraft. Die Leidenschaft hat ein bestimmtes Verhältniß zu der Leidenschaftlichkeit, oder Elastizität des Menschen.
Physiognomik zeigt die Summe der Capitalkraft — Pathognomik das Interesse, das jene abwirft. Jene, was der Mensch überhaupt ist; diese, was er in dem gegenwärtigen Moment ist. Jene, was er werden und nicht werden, seyn und nicht seyn kann; diese, was er seyn will und nicht seyn will.
Die erstere ist die Wurzel und der Stamm der andern; der Boden, worauf die andere gepflanzt ist. — Wer die letztere ohne die erstere glaubt, glaubt Früchte ohne Stamm, Getraide ohne Boden ...
Physiognomik ist der Spiegel der Naturforscher und Weisen. Pathognomik der Spiegel der Hof- und Weltleute. Alle Welt lieset pathognomisch — sehr wenige lesen physiognomisch.
Pathognomik hat mit der Verstellungskunst zu kämpfen; nicht so die Physiognomik.
Physiognomik warnt uns, einen Menschen, der 50. per Cent giebt, nicht für reich, und einen, der nicht 1. per Cent geben kann, nicht für arm zu halten. Das heißt — pathognomisch kann einer reich scheinen, der arm ist; physiognomisch ist uns nur der reich, der es ist, ob er gleich gerade itzt arm scheint.
Für den Freund der Wahrheit sind beyde Wissenschaften
unzertrennlich. Er studiert beyde, und gelangt dazu — die Physiognomie
der festen und unbewegten Iheile in den weichen und bewegten — und die
Weichheit und Beweglichkeit der weichen und beweglichen in den festen zu
sehen. Er bestimmt jedem Stirnbogen seinen leidenschaftlichen Spielraum
— und jeder Leidenschaft den Stirnbogen ihrer Residenz, oder die Potenz,
aus der sie sich ergießt; ihre Wurzel, ihren Capitalfond. Durch alle Bände,
und beynah auf allen Seiten dieses Werkes hab‘ ich mich bemühet, meinen
Lesern mehr Physiognomik als Pathognomik zu geben, weil die letztere viel
bearbeiteter ist, als die erstere. - (lav
)
- (
licht
)
Physiognomik (3)
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IVAN TURGENEV: Dicker russischer Großgrundbesitzer aus vornehmer Familie, traurig, phlegmatisch, zuweilen ungeduldig, sehr ehrenwert, ziemlich intelligent, hat Kultur. Liebt die Malerei, das Theater, die Gesellschaft, wo er wenig spricht und mit träger Aufmerksamkeit zuhört. Sehr konservativ. PAULINE VIARDOT: Polizeikommissar — abscheulicher Mensch - korrumpiert bis ins Knochenmark - vereinigt in sich alle Fehler, alle Laster. Wenn er nicht so korpulent wäre, würde er gern das Handwerk des Henkers übernehmen — Napoleon III. ist sein Mann. Man muß ihn fürchten, besonders wenn er, bevor er einen Befehl erteilt, lange schweigt und eine leicht bekümmerte Miene aufsetzt — man kann sicher sein, daß er sich gerade etwas Grausames ausdenkt, irgendeine Infamie. Seine Stimme ist rauh, dumpf — er verpestet die Luft im Zimmer — er schwitzt ständig, ist malproper — er niest, hustet, spuckt aus, schneuzt sich so laut, daß die Fensterscheiben klirren — betrunken ist er traurig und schweigsam — wenn er lacht, hört man jede Art von Geräuschen, Pfeifen in seiner Brust und in seiner Kehle - er trägt farbige Flanellhemden, die er einen Monat lang anbehält. Seife und Kamm sind ihm unbekannt - er hat die Kräfte eines Stiers - defensiv, seit er so dick geworden ist. Seine Vergangenheit kennt man nicht, aber man wird den Verdacht nicht los, daß er auf Staatskosten (im Gefängnis) gelebt hat. Er trinkt Absinth. |
- (turg
)
Physiognomik (4) Ein großes, breites Gesicht nennt Porta ein Zeichen für Trägheit. Es entspreche im Charakter den Eseln und Kühen. Große Ohren, den Eselsohren vergleichbar, sollen nach Aristoteles, Polemon und Adamantius als Zeichen von Dummheit gelten. Die große Nase sei ein Zeichen von Rechtschaffenheit. Die Hakennase oder auch Adlernase genannt, zeuge für Großmut. Der freigebige Sergius Galba habe eine solche Nasenform gehabt. Die an der Wurzel eingebogene Nase, wie sie zum Beispiel Raben aufweisen, sei ein Zeichen der Unverschämtheit. Die runde, an der Wurzel eingebogene Nase, die dem Schnabel eines Hahnes ähnelt, spreche für Unzucht und Schwelgerei. Ein offener Mund spreche für Dummheit. Menschen mit spitzem Kinn seien mutig und den Hunden vergleichbar.
Ein bärtiges Weib habe einen schlechten Charakter. Lüstlinge hätten nach
Aristoteles Lenden, die beim Gehen zittern.
Hinkende Leute neigten zu Unzucht.
Große Augen, wie sie Ochsen und Kühe haben, sollen ein Zeichen von Trägheit
sein. Kleine, affenartige Augen deuten auf Kleinmut. Wer blasenförmige Auftreibungen
unter den Augen habe, sei nach Aristoteles ein Trunkenbold. Dicke Oberlider
seien ein Zeichen von Schläfrigkeit. Große Pupillen sprächen für Dummheit, während
kleine Pupillen, wie sie Affen, Füchse und Schlangen hätten, ein Zeichen von
Böswilligkeit und Verschlagenheit sein sollen. Vorstehende trockene Augen seien
ein Zeichen für Mordlust. - Otto Baur, Bestiarium Humanum.
Gräfeling vor München 1974
Physiognomik (5) Die vernünftigste Art Physiognomik zu behandeln wäre freilich die vermittelst einer Rechnung des Wahrscheinlichen,
wenn man ein einziges Mal sagen könnte: Unter 6 Menschen, die so
aussahen, waren 5 Bösewichter, allein bis dahin wird es schwerlich
jemals kommen, denn obgleich im gemeinen Leben unter dem geschriebenen
Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den
Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo der Mensch nicht aus ein
paar Taten beurteilt werden, sondern auf eine ganze Anlage geschlossen
werden soll, sehr schwer und fast unmöglich zu sagen, was ein Bösewicht
sei, und nicht allein höchst schwer sondern Vermessenheit eines
schwachen oder verwirrten Kopfs zu sagen: der der so aussieht wie einer,
den die Welt für einen Bösewicht hielt, ist ein Bösewicht. Denn
(welches man nicht genug beherzigen kann) es gibt wenig böse Taten, die
nicht unter gewissen Umständen hätten entschuldigt werden können, und
die nicht aus Leidenschaft verübt worden wären, die bei einer ändern
Gelegenheit der Grund großer und belohnter Taten hätte werden können,
und so abgeschmackt die Entschuldigung nach verübter Tat auch noch
klingen mag, so sehr verdient sie bei Leuten in Erwägung gezogen zu
werden, von denen wir ähnliche Anlage vermuten, denn da kann, was dort
der Grund einer schwachen Entschuldigung war, noch wirklich eintreffen,
und einer der nicht allein aussieht, wie ein Vatermörder, den ich habe
rädern sehen, kann ein großer brauchbarer Mann werden, sondern der
Mörder selbst später. Gesetzt auch er habe die Anlage, so trifft er
unter Millionenmal gegen eins nicht auf dasselbe System von Umständen,
und wenn wir Menschen meiden wollen, die unter gewissen Umständen
gefährlich werden können, so müssen wir 99 im 100 meiden. Niemand kennt
seine guten und bösen Fähigkeiten alle. Gelegenheit macht nicht Diebe
allein, sie macht auch Menschenfreunde Helden und Weisen, aber meines
Wissens keine Nasen. Ein Feld für die Romanen- und Schauspieldichter.
Die gefährlichsten Menschen (der honnete criminel) sind mir immer die
feigen und kriechenden Schwachen, die zu allem und zu nichts taugen,
die, wie eine gewisse Art unbrauchbarer Hunde, jedermann apportieren und
über jedermanns Stock springen, die unglaublich treu tun und immer
weggelaufen sind wenn man sie nötig hat. Solche Menschen tun alles was
der fordert der ihnen den Geldbeutel oder die Peitsche (Kette der
Finsternis) über den Köpfen schüttelt, und ihre Gesichter, ich habe
ihrer mehrere gekannt, und fühle es leider noch, daß ich sie gekannt
habe, waren entweder in gefälliges Lächeln verzogen, oder hingen ihnen
wie Gallert vor dem Vorderkopf, so daß man Ausdruck darin so vergeblich
gesucht hätte, als organischen Bau in einem Glas Wasser. - Lichtenberg
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