Paradies   Duclos sprach eines Tages vom Paradies, das jeder sich auf seine Art ausmalt. Frau von Rochefort sagte ihm: "Für Sie wär's ein Käsebrot, Wein und die erste beste." - (Chamfort)

Paradies (2) In der dortigen Sprache heißt der Alte vom Berge Aloadin. Zwischen zwei Bergen hatte er in einem Tal den größten und schönsten Garten der Welt anlegen lassen. Die besten Früchte wuchsen darin, während die Paläste mit goldenen Vogel- und Raubtiermotiven ausgemalt waren. In den Brunnen floß Wasser, Honig und Wein. Die schönsten Jungfrauen und Edelknaben sangen, musizierten und tanzten dort.

Der Alte vom Berge ließ sie glauben, dies sei das Paradies. Mohammed hatte das Paradies ja so beschrieben, daß man darin Bäche von Honig, Milch und Wein fände und sich mit den schönsten Frauen vergnügen könnte. Deshalb versuchte er, das Paradies nachzubilden. Die Bewohner dieser Gegend glaubten wahrhaftig, daß dies das Paradies sei. Nur mit Erlaubnis des Besitzers gelangte man hinein, jedoch nur diejenigen, die er zu Mördern (aschischin) machen wollte. Den Zugang zum Garten versperrte ein festes, uneinnehmbares Schloß. An seinem Hof zog der Alte alle Jünglinge von zwölf Jahren zusammen, die kräftige Männer zu werden versprachen. Wenn er die Absicht hatte, ihnen den Garten zu zeigen, ließ er sie zu viert, zehnt oder zwanzig durch Opium einschläfern, was drei Tage vorhielt. Dann ließ er sie in den Garten bringen und zu bestimmter Zeit wecken. Wenn die Jünglinge wach wurden, fanden sie sich zwischen all jenen Dingen wieder, von denen ihnen erzählt worden war, und glaubten im Paradies zu sein. Die Umgebung mit den für sie spielenden und singenden Mädchen und allem Überfluß war so angenehm für sie, daß wohl keiner freiwillig den Ort verlassen hätte. Der Alte mit seinem aufwendigen und mächtigen Hof läßt die Bewohner glauben, daß sich alles so abspielt, wie es beschrieben worden ist, und bedient sich dazu auch folgenden Mittels.

Wenn der Alte einen der Jünglinge mit einem bestimmten Auftrag versehen will, läßt er ihn unter dem Einfluß eines Schlafmittels in seinen Palast bringen. Wenn die so Behandelten dort erwachen, wundern sie sich sehr und stellen traurig fest, daß sie nicht mehr im Paradies sind. Dann wenden sie sich sogleich in dem Glauben an den Alten, daß dieser ein großer Prophet sei, und knien nieder. Er fragt dann: ›Woher kommt ihr?‹ - ›Aus dem Paradies‹ antworten sie und erzählen ihm alles, was sie erlebt haben, und wünschen, dorthin zurückzukehren. So kann er, wenn er einen Menschen ermorden lassen will, den stärksten Jüngling aus dem Garten holen lassen, der willig seinen Befehl ausführt, um wieder in den Garten zurückkehren zu dürfen. Wenn sie den Befehl erfolgreich ausgeführt haben, kehren sie zu ihrem Herrn zurück; wenn sie gefaßt werden, wollen sie sterben, weil sie so in das Paradies zu kommen glauben. Wenn der Alte ihnen ihren Mordauftrag gibt, nimmt er sie beiseite und sagt: ›Geh hin und tu es, damit du ins Paradies zurückkehren kannst.‹ Und die Mörder gehen hin und führen alles bereitwillig aus. Deshalb bleibt in der Umgebung des Alten vom Berge niemand am Leben, wenn er es nicht will.

Ja, ich sage euch, auch viele Könige sind ihm aus Angst vor seinen Meuchelmördern tributpflichtig. - Marco Polo, 1273, nach: Bernard Lewis, Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam. (Die Andere Bibliothek 59, 1989, zuerst 1967)

Paradies (3)  Ein Morgen war‘s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti 2 Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von niedrigem, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich mit Waldung bedeckt und mit verschiedenem anmutigen Grün und herbstlichen Braun schattiert waren. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brotfruchtbäumen und unzählbaren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene emporragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen, und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählich aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Kanus unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren.

Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe niedriger Klippen parallel mit dem Lande hin, und über diese brach sich die See in schäumender Brandung; hinter ihnen aber war das Wasser spiegelglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten, und die Aussicht begonn zu leben.

Kaum bemerkte man die großen Schiffe, so eilten einige ohnverzüglich nach dem Strande herab, stießen ihre Kanus ins Wasser und ruderten auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so waren sie durch die Öffnung des Riffs, und eines kam uns so nahe, daß wir es abrufen konnten.

Zwei fast ganz nackte Leute, mit einer Art von Turban auf dem Kopfe und mit einer Scherfe um die Hüften, saßen darin. Sie schwenkten ein großes grünes Blatt in der Luft und kamen mit einem oft wiederholten lauten Tayo! heran, ein Ausruf, den wir ohne Mühe und ohne Wörterbücher als einen Freundschaftsgruß auslegen konnten. Das Kanu ruderte  dicht unter das Hinterteil des Schiffs, und wir ließen ihnen sogleich ein Geschenk von Glaskorallen, Nägeln und Medaillen herab. Sie hinwiederum reichten uns einen grünen Pisangschoß zu, der bei ihnen ein Sinnbild des Friedens ist, und baten solchen dergestalt ans Schiff zu befestigen, daß er einem jeden in die Augen fiele. Demzufolge ward er an die Wand (das Tauwerk) des Hauptmasts festgemacht, worauf unsere Freunde sogleich nach dem Ufer zurückkehrten. Es währete nicht lange, so sahe man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen daß andere, voll Zutrauens auf das geschlossne Friedensbündnis, ihre Kanus ins Wasser stießen und sie mit Landesprodukten beladeten. In weniger als einer Stunde umgaben uns Hunderte von dergleichen Fahrzeugen, in deren jedem sich ein, zwei, drei, zuweilen auch vier Mann befanden. Ihr Vertrauen zu uns ging so weit, daß sie, sämtlich unbewaffnet kamen, Von allen Seiten erschallte das willkommene Tayo!, und wir erwiderten es mit wahrhaftem und herzlichem Vergnügen über eine so günstige Veränderung unsrer Umstände. Sie brachten uns Kokosnüsse und Pisangs in Überfluß, nebst Brotfrucht und andern Gewächsen, welche sie sehr eifrig gegen Glaskorallen und kleine Nägel vertauschten. Stücken Zeug, Fischangeln, steinerne Äxte und allerhand Arten von Werkzeugen wurden gleichfalls zum Verkauf geboten und leicht angebracht. Die Menge von Kanus, welche zwischen uns und der Küste ab- und zugingen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing so gleich an, durch die Kajütenfenster um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwei bis drei Arten unbekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beisammen. Die Farben der letztern waren, solange sie lebten, von ausnehmender Schönheit; daher ich gleich diesen Morgen dazu anwendete, sie zu zeichnen und die hellen Farben anzulegen, ehe sie mit dem Leben verschwanden.  - (for)

Paradies (4, germanisches)   In den Gesängen der Älteren Edda gibt es wiederholte Hinweise auf Walhalla (Walhöll) oder Odins Paradies. Snorri Sturluson beschreibt es zu Beginn des 13. Jahrhunderts als ein Haus aus Gold; Schwerter, keine Lampen, erleuchten es; es hat fünfhundert Türen, und aus jeder Tür werden am Jüngsten Tag achthundert Männer treten; dahin kommen die Krieger, die in der Schlacht gefallen sind; jeden Morgen legen sie ihre Waffen an, kämpfen, töten einander und werden wiedergeboren; danach betrinken sie sich mit Met und essen das Fleisch eines unsterblichen Wildebers. Es gibt Paradiese der Betrachtung, Paradiese der Wollust, Paradiese, die die Form eines menschlichen Körpers haben (Swedenborg), aber ein kriegerisches Paradies gibt es sonst nicht, in keinem anderen Paradies besteht die Seligkeit im Kampf. Es ist oft zitiert worden, um die Mannhaftigkeit der alten germanischen Stämme zu beweisen. - (boc)

Paradies (5)   Ich hatte einen ganz erstaunlichen Traum, weil ich etwas Ähnliches nie gesehen hatte. In der Dresdner Galerie hängt ein Bild von Claude Lorrain, im Katalog ist es, glaube ich, als "Acis und Galatea" bezeichnet; ich nannte es aber immer "Das goldene Zeitalter", warum weiß ich nicht. Ich hatte es schon früher gesehen, es war mir jedoch noch vor drei Tagen auf der Durchreise aufgefallen. Ich war sogar absichtlich hingegangen, um es anzusehen, vielleicht war ich nur seinetwegen nach Dresden gefahren. Eben dieses Bild erschien mir nun im Traum, aber nicht als Bild, sondern als eine von mir miterlebte Begebenheit.

Es war eine kleine Bucht im griechischen Archipel: blaue, schmeichelnde Wellen, Inseln und Felsen, blühende Ufer, zauberische Fernsicht, liebliche, untergehende Sonne — mit Worten läßt sich das nicht beschreiben. Hier dachte sich der Europäer seine Wiege, hier spielten die ersten Szenen der Mythologie, hier war sein irdisches Paradies ... Hier lebten wunderschöne Menschen. Sie erwachten und schliefen glücklich, unschuldig wieder ein; ihre fröhlichen Lieder erklangen in den Hainen, der gewaltige Überschuß gesunder Kräfte ging auf in Liebe und herzlicher Freude. Die Sonne übergoß mit ihren Strahlen die Inseln und das Meer und hatte Freude an ihren herrlichen Kindern. Ein wunderlicher Traum, ein schöner Irrtum! Ein Traum, ein Wahn, unglaubwürdiger als alle anderen, dem aber seit jeher die ganze Menschheit alle ihre Kräfte hingegeben, für den sie alles geopfert, für den ihre Propheten sich töten, sich kreuzigen ließen, ohne den die Völker nicht leben, ja, nicht einmal sterben wollten. Diese Empfindung erlebte ich gleichsam im Traum. Was mir eigentlich träumte, weiß ich nicht, aber die Felsen, das Meer, die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne, all das lebte in mir, als ich erwachte, die Augen aufschlug, welche zum erstenmal in meinem Leben naß waren von strömenden Tränen. Die Empfindung eines ungeahnten Glücks erfüllte mein Herz bis zum Schmerzgefühl. Es war Abend geworden. Die untergehende Sonne warf durch das Grün der auf dem Fensterbrett stehenden Blumen ein ganzes Bündel schräger Strahlen, ich lag umflutet von Sonnenlicht. Ich schloß schnell die Augen, wie um mir den Traum zurückzurufen, aber plötzlich, mitten im hellen, hellen Licht, sah ich einen winzigen Punkt. Dieser Punkt nahm Gestalt an, und plötzlich sah ich ganz deutlich eine winzige rote Spinne. - Dostojewski, Die Dämonen.

Paradies (6) Vier Tage lang waren wir den Fluß hinaufgefahren; es hatte so viele Stromschnellen gegeben, daß wir die Boote bis zu fünfmal am Tag entladen, tragen und wieder beladen mußten. Das Wasser floß durch Felsformationen, die es in mehrere Arme teilten; in der Mitte hatten die Klippen abtreibende Bäume samt ihren Zweigen, Wurzeln und Vegetationsklumpen festgehalten. Auf diesen improvisierten Inseln begann diese Vegetation wieder so schnell zu wachsen, daß nichts mehr auf den chaotischen Zustand hindeutete, in dem das letzte Hochwasser sie zurückgelassen hatte.

Die Bäume wuchsen in alle Richtungen, und über den Wasserfällen leuchteten Blumen; man wußte nicht mehr, ob der Fluß dazu diente, diesen Wundergarten zu bewässern, oder ob er bald von der Masse der Pflanzen und Lianen erstickt werden würde, denen alle Dimensionen des Raums, nicht nur die Vertikale, zugänglich zu sein schienen, so sehr hatten sich die üblichen Unterschiede zwischen Land und Wasser verwischt. Es gab keinen Fluß, auch kein Ufer mehr, sondern nur noch ein Labyrinth aus Büschen, welche die Strömung erfrischte, während unmittelbar unter der Gischt der Boden wuchs. Diese Freundschaft zwischen den Elementen erstreckte sich auch auf die Lebewesen. Die Eingeborenen benötigen riesige Bodenflächen, um überleben zu können; doch hier bezeugte der Überfluß animalischen Lebens, daß der Mensch seit Jahrhunderten die Ordnung der Natur nicht zu stören vermocht hatte. Die Bäume zitterten unter der Last der Affen, die zahlreicher waren als die Blätter und die man für lebende Früchte hätte halten können, die auf den Zweigen tanzten. In der Nähe der Felsen brauchte man nur die Hand auszustrecken, um das pechschwarze Federkleid der großen mutum mit ihren bernstein- oder korallenfar-benen Schnäbeln oder die wie der Labradordachs blaumoirierten jacamin zu streicheln. Diese Vögel flohen nicht vor uns; wie lebende Edelsteine schwammen sie zwischen den triefenden Lianen und den dicht belaubten Stromschnellen umher und trugen dazu bei, vor meinen erstaunten Augen jene Bilder aus der Werkstatt der Breughels erstehen zu lassen, auf denen das Paradies, veranschaulicht durch eine zärtliche Vertrautheit zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, ein Zeitalter beschwört, in dem die Welt der Lebewesen noch nicht gespalten war. - (str2)

Paradies (7)  Wir sind über den Heimatsgarten der Menschheit genügend unterrichtet, um eine Vorstellung von seiner technischen Struktur zu haben. Er war,wie alles urälteste Menschliche, eine ganz symmetrische Anlage, genauer gesagt eine geometrische. Alles Menschliche beginnt darum weil der menschliche Geist eingeatmeter göttlicher Geist ist, als eine Ordnung, und muß auf dem Wege der von Gott verhängten Unordnung wieder eine Ordnung werden. Der Garten Eden war eine quadratische Anlage, durch ein Kreuz von vier aus seiner Mitte entspringenden Flüssen symmetrisch aufgeteilt und bewässert. Auch über die in ihm kultivierten Arten sind wir hinlänglich unterrichtet um zu wissen, daß zwei von ihnen, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen inzwischen aus den Kulturen verschwunden sind, dagegen ein noch heut allgemein gebautes Gewächs dort bereits dem Menschen in zwei seiner ältesten Bitterkeiten aushalf, dem Hunger und der Scham.  - (garten)

Paradies (8)  Wir wissen, daß die Tiere es sich im Paradies gutgehen ließen bis zu dem Tag, an dem eines seinen Zustand nicht mehr hinnahm, auf sein Glück verzichtete und Mensch wurde. Auf diesem ersten Ungehorsam ist die Geschichte schlechthin gegründet.  - E. M. Cioran, nach (blum3)

Paradies (9) Ich war körperlich vollkommen gesund, und meine Seele genoß der größten Heiterkeit. Ich härmte mich nicht über die Verräterei oder Unbeständigkeit eines Freundes, noch über die Beleidigungen eines offenen oder geheimen Feindes. Ich hatte keine Gelegenheit zum Bestechen, Heucheln oder Kuppeln, um mir die Gunst eines mächtigen Mannes oder seines Lieblings zu verschaffen. Ich brauchte keinen Schutz gegen Betrug oder Unterdrückung. Es gab dort weder Ärzte, meinen Leib, noch Juristen, mein Vermögen zu ruinieren; keine Spione, meine Worte und Handlungen zu belauschen oder für Geld Anklagen gegen mich zu schmieden; hier gab es keine Spötter, Klatscher, Verleumder, Taschendiebe, Räuber, Advokaten, Kuppler, Narren, Spieler, Politiker, Witzlinge, launenhafte Menschen, langweilige Schwätzer, Zänker, Notzüchter, Mörder und Kunstvirtuosen; keine Parteihäupter und Parteigänger; kein Anreiz zum Laster durch Verführung oder Beispiel; keine Gefängnisse, Beile, Galgen, Prügelpfosten oder Schandpfähle; keine betrügerischen Wirte oder Handwerker; keinen Stolz, keine Eitelkeit oder Affektation; keine Stutzer, Raufbolde, Trunkenbolde und streunenden Huren und Lustseuchen; keine zänkischen, ungetreuen oder kostspieligen Frauen; keine dummen und stolzen Pedanten; keine zudringlichen, herrschsüchtigen, zänkischen, unruhigen, schreienden, dummen, launenhaften, fluchenden Gesellschafter; keine Schufte, die sich durch das Verdienst des Lasters aus dem Staube erheben; keinen Adel, der infolge seiner Tugend heruntergezogen wird; keine Lords, Fiedler, Richter und Tanzmeister. - (gul)

Paradies (10)  Um halb sieben abends läutet in Béziers im Polizeikommissariat, dessen Fenster weit offen steht, das Telefon. In dem Büro ist niemand. Arsène Vadibert, der Sekretär des Kommissars, der in Hemdsärmeln im Schatten der Platanen mit mehreren anderen Boule spielt, wendet sich dem vergitterten Fenster zu und ruft: »Ich komme schon! Ich komme schon!«

Gleich darauf hört man ihn am Apparat sagen: »Hallo! Paris? Was? Hier Béziers. Ja, Béziers. Die Kriminalpolizei? Wir haben Ihre Mitteilung erhalten. Ihre Mitteilung über eine gewisse Adèle. Nun, vielleicht haben wir die richtige entdeckt.«

Er beugt sich ein wenig vor, um seine Kameraden beim Spiel zu beobachten.

»Es ist in der letzten Woche am Donnerstag in dem Hause passiert. Was sagen Sie? In welchem Hause? Nun, in dem Hause ... Hier heißt es Paradies. Eine gewisse Adèle, eine kleine Brünette. Wie? Birnenförmige Brüste? Ich weiß nichts davon. Ich habe ihre Brüste nicht gesehen. Und übrigens, sie ist nicht mehr dort. Wenn Sie mir zuhörten, würden Sie es schon wissen. Ich habe anderes zu tun. Ich sage Ihnen, eine Frau namens Adèle wollte gehen und hat ihr Geld gefordert. Man hat den Chef gerufen. Sie hatte wohl nicht das Recht, einfach zu gehen, mußte bis zum Ende des Monats bleiben, kurz, er hat sich geweigert, ihr das Geld zu geben, das sie forderte. Sie hat Flaschen zerschmissen, Kissen zerrissen. Es war eine tolle Szene, und schließlich hat sie sich, da sie nicht einen Sou hatte, von einer Kollegin Geld geborgt und ist doch gegangen. Sie ist nach Paris gefahren. Wie? Davon weiß ich nichts. Sie wollen eine Adèle haben, und ich gebe sie Ihnen. Guten Abend, Kollege.« - Georges Simenon, Maigret und das Dienstmädchen. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 100, zuerst 1941)

Paradies (mohammedanisches)  Zweiundsiebzig Huris oder schwarzäugige Mädchen von strahlender Schönheit, blühender Jugend jungfräulicher Reinheit und erlesener Empfindsamkeit werden geschaffen zur Benutzung für den armseligsten der Gläubigen; ein Augenblick der Wonne wird auf tausend Jahre ausgedehnt, und die Kräfte eines Mannes werden verzweihundertfacht, damit er sich seines Glückes wert erweise. Entgegen einem allgemeinen Vorurteil werden sich die Himmelstore für beide Geschlechter auftun; aber Mohammed hat nicht genau bestimmt, wer die männlichen Gesellen der erwählten Frauen sein werden, um nicht die Eifersucht ihrer ehemaligen Gatten zu wecken oder ihr Glück mit einem Argwohn von endloser Ehe zu trüben. Dieses Bild von einem fleischlichen Paradies hat die Entrüstung, vielleicht den Neid der Mönche erregt: Sie wettern gegen die unreine Religion Mohammeds; und seine gemäßigteren Ehrenretter verfallen nur auf die armselige Entschuldigung von Sinnbildern und Allegorien.

Die stärkste und beständigste Gruppe dagegen bevorzugt ohne Scham die wörtliche Auslegung des Korans: Die Auferstehung des Leibes wäre unnütz, wenn man ihm nicht den Besitz und die Ausübung seiner wertvollsten Fähigkeiten wiedergäbe; und die Einheit von sinnlichen und geistigen Wonnen ist unentbehrlich, damit das Glück dieses doppelten Tieres, das der Mensch darstellt, vervollständigt wird. Immerhin sollen die Freuden des Paradieses nicht auf die Befriedigung von Gelüsten und Verschwendungssucht beschränkt bleiben, und der Prophet hat ausdrücklich erklärt, daß die bescheideneren Freuden von den Heiligen und Märtyrern vergessen und verachtet werden, welche die Seligkeit der Gottesvision erwartet. - Edward Gibbon,  nach (boc)

Paradies (11)  Das Wort »Urwald« schloß für mich ein Leben ein, dessen Aussicht man mit sechzehn Jahren nicht widersteht - ein Leben, das der Jagd, dem Raube und seltsamen Entdeckungen zu widmen war.

Eines Tages stand es für mich fest, daß der verlorene Garten im oberen Stromgeflecht des Niles oder des Kongo verborgen lag. Und da das Heimweh nach solchen Orten zu den unwiderstehlichsten gehört, begann ich eine Reihe von tollen Plänen auszubrüten, wie man sich am besten dem Gebiete der großen Sümpfe, der Schlafkrankheit und der Menschenfresserei nähern könne. Ich heckte Gedanken aus, wie sie wohl jeder aus seinen frühen Erinnerungen kennt: ich wollte mich als blinder Passagier, als Schiffsjunge oder als wandernder Handwerksbursche durchschlagen. Endlich aber verfiel ich darauf, mich als Fremdenlegionär anwerben zu lassen, um auf diese Weise wenigstens den Rand des Gelobten Landes zu erreichen und um dann auf eigene Faust in sein Inneres vorzudringen - natürlich nicht, ohne mich zuvor an einigen Gefechten beteiligt zu haben, denn das Pfeifen der Kugeln kam mir wie eine Musik aus höheren Sphären vor, von der nur in den Büchern zu lesen war. - Ernst Jünger, Afrikanische Spiele. München 1987 (dtv 10688, zuerst 1936)

Paradies (12)  Die Kunst, sie ist ja nichts weiter als ein Versuch, vor allem den einzelnen Augenblick einzufangen und zu bannen, seine Stimmung und seine Bedeutung, die augenblickliche Verzauberung durch eine einzelne Frau oder eine einzelne Blüte, und diese unvergänglich zu machen. Es ist ganz irrig, dachte er, wenn wir uns das Paradies als einen unwandelbaren Zustand der Seligkeit vorstellen. Es wird sich ohne Zweifel als genau das Gegenteil erweisen, ein unaufhörliches Auf und Nieder, einen Malstrom der Wechselhaftigkeit in Gottes eigenem Geiste. Aber zu jener Zeit sollte man ja mit Gott eins geworden sein und vermutlich den gleichen Geschmack bekommen haben. - (blix)

Paradies (13)  

Das Paradies

- Nach Wikipedia

Paradies (14)  Das Paradies muss im Kaukasus gelegen haben, der vor der Verschiebung der Erdachse noch heißer war als heute. Die Ideen der Druiden über das Ende der Welt bestätigen diese Auffassung.  -  F. Klee, Die Sintflut [1842],  nach (sot)

Paradies (15)  Welches Schauspiel böte uns das Menschengeschlecht, wenn es einzig und allein aus Arbeitern, Soldaten, Jägern und Schäfern zusammengesetzt wäre. - Rousseau, Polemik im Zusammenhang mit der Abhandlung über die Wissenschaften und Künste [1750], nach (sot)

Paradies (orientalisches)  Als es Morgen ward, salbte er seine Füße mit dem Safte, den sie von jenem Kraute gewonnen hatten, stieg auf das Wasser hinab und wanderte dahin, Tag und Nacht, staunend ob der Schrecken und der seltsamen Wunder der Tiefe. Immer weiter schritt er auf der Oberfläche des Meeres dahin, bis er zu einer Insel gelangte, die dem Paradiese glich. Auf jener Insel ging Bulûkija an Land, verwundert über ihre Schönheit. Dann schritt er landeinwärts und sah, daß es ein großes Eiland war: die Erde dort war Safran, die Kiesel waren Rubine und kostbare Edelsteine, die Hecken waren Jasminsträucher, und was dort wuchs, waren die schönsten Bäume und die lieblichsten und duftigsten Pflanzen. Dort rieselten Quellen, das Brennholz war Aloe aus Komorin und Sumatra, und das Schilf war Zuckerrohr. Ringsum blühten Rosen, Narzissen, Amaranten, Nelken, Kamillen, Lilien und Veilchen von allen Arten und Farben; und die Vögelein sangen auf den Bäumen. Ja, die Insel war ein herrliches Land, ihre Grenzen waren weit gespannt, und viel war des Schönen, das auf ihr sich befand. Es war, als ob der Inbegriff aller Schönheit sie umschlang; und das Singen ihrer Vögel war heblicher als der Laute zarter Klang. Die Bäume ragten empor, die Vögelein zwitscherten im Chor, die Bäche sprudelten hervor; und es rannen aus jedem Quell die Wasser, süß und silberhell. Die Gazellen sprangen auf den Auen, und zierliche Wildkälber waren dort zu schauen. Der Schau der Vogelstimmen auf den Zweigen war so süß, daß er den Liebeskranken all sein Leid vergessen ließ.  - (1001)

Paradies (17)  Diesmal schreibt Vater Ubu nicht im Fieber. (Es fängt an wie ein Testament, das übrigens schon gemacht ist.) Ich denke, Sie haben verstanden, daß er nicht an Flaschen oder anderen Orgien stirbt (Verzeihung, das Wort ist heraus). Diese Leidenschaft war ihm fremd, und er hat die Koketterie besessen, sich von den »Ärschen« und anderen Doktoren untersuchen zu lassen. Er hat es weder an der Leber noch am Herzen noch an den Nieren, nicht einmal im Urin. Er ist ganz einfach erschöpft (ein merkwürdiges Ende, wenn man Le Surmâle geschrieben hat), sein Ofen wird nicht explodieren, sondern erlöschen. Es wird sich mit ihm verhalten wie mit einem Motor, der einfach stehenbleibt. Und jetzt wird Vater Ubu, der seine Ruhe verdient hat, zu schlafen versuchen. Er glaubt, daß das Gehirn bei der Verwesung über den Tod hinaus funktioniert und daß es seine Träume sind, die das Paradies ausmachen.   - Alfred Jarry, nach dem Nachwort zu A. J., Tage und Nächte. Roman eines Deserteurs. München 1985 (zuerst 1897)

Paradies (18)

Paradies (19)

- Robert Crumb (Genesis-Illustrationen)

Paradies (20) Noch ein Wort über Las Batuecas, eins der wenigen Paradiese auf Erden, die ich kennengelernt habe. Um die in Ruinen liegende, heute wieder restaurierte Kirche herum erhoben sich inmitten der Felsen achtzehn, Einsiedeleien. Früher, vor der Ausweisung durch Mendizäbal, mußte jeder Einsiedler um Mitternacht, zum Zeichen, daß er auch wache, ein Glöckchen läuten.

In den Gärten wuchsen die besten Gemüse der Welt - ich sage das ohne nationale Überheblichkeit. Es gab eine Ölmühle, eine Kornmühle und sogar eine Mineralquelle. Während unserer Dreharbeiten lebte dort nur noch ein alter Mönch mit seiner Haushälterin. Es gab auch Höhlenzeichnungen: eine Ziege und einen Bienenstock.

1936 hätte ich das Ganze fast für hundertfünfzigtausend Peseten, was sehr wenig ist, erstanden. Ich hatte mit dem Besitzer, einem gewissen Don José in Salamanca, schon alles geregelt. Er hatte vorher mit einer Gruppe von Sacre-Cœur-Schwestern verhandelt, da sie aber nur Ratenzahlung anbieten konnten und ich bar bezahlen wollte, gab er mir den Vorzug.

Die Unterzeichnung sollte in drei oder vier Tagen stattfinden, alles war dazu bereit, da brach der Bürgerkrieg aus, und die Sache wurde hinfällig.

Wenn ich Las Batuecas gekauft hätte und bei Kriegsbeginn in Satamanca gewesen wäre, einer der ersten Städte, die in die Hände der Faschisten fielen, hätte man mich höchstwahrscheinlich an die Wand gestellt.

Ich bin in den sechziger Jahren noch einmal mit Fernando Rey ins Kloster von Las Batuecas zurückgekehrt. Franco hatte sich um das vergessene Land gekümmert, Straßen anlegen lassen und Schulen gebaut. Über der Pforte des Klosters, in dem jetzt Karmeliter lebten, konnte man lesen: „Wanderer, wenn Du in Gewissensnöten bist, klopfe an, es wird Dir aufgetan. Frauen sind nicht zugelassen."

Fernando klopfte an — oder vielmehr: er läutete. Die Antwort kam über eine Sprechanlage. Die Pforte ging auf. Ein Spezialist erschien, um sich unserer Probleme anzunehmen. Der Rat, den er uns erteilte, kam mir so gescheit vor, daß ich ihn einem der Mönche in Das Gespenst der Freiheit in den Mund gelegt habe: „Wenn alle täglich zum heiligen Joseph beteten, ginge alles überhaupt viel besser."   -   Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

Paradies (21)

- Thomas Körner

Paradies (22)   Eines Tages dann wird es einen noch perfekteren Apparat geben. All das, was in der Spanne unseres Lebens oder während der Aufnahmezeit an Gedanken oder Empfindungen vorgekommen ist, stellt gewissermaßen ein Alphabet dar, das dem Bild die Möglichkeit verschafft, für alle Zeit alles zu verstehen (wie ja auch wir mit Hilfe der Buchstaben eines Alphabets alle Worte zu verstehen und zu bilden imstande sind). Das Leben wird dann ein Niederschlag des Todes sein. Aber auch dann wird das Bild noch nicht lebendig sein. Grundsätzlich neue Ge-- genstände werden für das Bild nicht existieren. Es wird alles erkennen, was es je empfunden oder gedacht hat, oder auch voraufgehende Kombinationen dessen, was es empfunden und gedacht hat. Die Tatsache, daß wir außerhalb von Raum und Zeit nichts zu erkennen vermögen, nötigt gewissermaßen zu dem Schluß, daß unser Leben von dem Überleben, das wir mittels dieses Apparates gewännen, nicht maßgeblich unterschieden ist.

Sollten Leute von weniger plumpem Verstand als Morel sich der Erfindung annehmen, so wird der Mensch sich einen abgelegenen holden Ort erwählen, sich mit denen, die er am meisten liebt, zusammentun und in einem trauten Paradies ewige Dauer genießen. Ein einziger Garten wird, sofern die zur Dauer bestimmten Szenen in unterschiedlichen Augenblicken aufgenommen werden, unzählige Paradiese in sich fassen, deren Gemeinschaften, ohne voneinander zu wissen, zur gleichen Zeit, ohne aufeinander zu stoßen und fast an denselben Stellen in Aktion treten werden. Doch werden es leider verletzliche Paradiese sein, weil die Bilder nicht die Gabe besitzen, die Menschen zu sehen, und weil die Menschen, sofern sie nicht auf Malthus hören, den Boden auch des winzigsten Paradieses brauchen und dessen wehrlose Insassen entweder vernichten werden oder sie vor die völlig undurchführbare Alternative stellen, ihre Maschinen stillzulegen.  - Adolfo Bioy Casares, Morels Erfindung. München 1965 (zuerst 1940)

Ort, hypothetischer Zeitalter, Goldenes Wünsche
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