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Hermann Lenz, Ein Fremdling. Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)
Paris (2) „Wie steht mir Tod?" spielt im 10.
Arrondissement von Paris. Ein Schlagersänger hat verdächtig viele Freundinnen.
Ein Mann, der überall herumgeht, ist eigentlich tot. Privatdetektiv Nestor Burma
raucht der Kopf. - Waschzettel zu: Léo Malet, Wie steht mir Tod? Reinbek
bei Hamburg 1991 (zuerst 1956)
Paris (3) Als ich an diesem Nachmittag die Pension Orfila verlassen hatte, ging ich in die Bibliothek und begann dort, nachdem ich im Ganges gebadet und über die Tierkreiszeichen nachgegrübelt hatte, über den Sinn der Hölle nachzudenken, die Strindberg so erbarmungslos geschildert hat. Und wie ich darüber nachsann, begann mir das Rätsel seiner Pilgerfahrt klar zu werden, die Flucht des Dichters über das Angesicht der Erde und dann, als sei ihm auferlegt gewesen, ein verlorenes Drama neu in Szene zu setzen, der heldenhafte Abstieg in die Eingeweide der Erde, der dunkle und schreckliche Aufenthalt im Bauch des Wals, der blutige Kampf, sich frei zu machen, von der Vergangenheit gereinigt als lichter, an eine fremde Küste geworfener blutbefleckter Sonnengott aufzutauchen. Es war mir kein Rätsel mehr, warum er und andere (Dante, Rabelais, van Gogh usw.) ihre Wallfahrt nach Paris gemacht hatten. Ich verstand nun, warum Paris die Gequälten, die Betörten, die großen Besessenen der Liebe anzieht. Ich verstand, warum man hier, an der Nabe des Rades, den phantastischsten, unmöglichsten Theorien anhängen kann, ohne sie im geringsten seltsam zu finden. Hier liest man wieder die Bücher seiner Jugend, und die Rätsel bekommen neuen Sinn, je einen für jedes weiße Haar. Man durchwandert die Straßen in der Gewißheit, daß man verrückt, daß man besessen ist, denn diese kalten, gleichgültigen Gesichter sind die Visagen der eigenen Gefängniswärter. Hier schwinden alle Grenzen, und die Welt enthüllt sich als das verrückte Schlachthaus, das sie ist. Die Tretmühle erstreckt sich ins Unendliche, die Luken sind dicht geschlossen, die Logik rast zügellos mit blutig gezücktem Hackmesser. Die Luft ist frostig und abgestanden, die Sprache apokalyptisch. Kein Ausweg außer dem Tod. Eine Sackgasse, an deren Ende ein Schafott steht.
Eine ewige Stadt, dieses Paris! Ewiger als Rom, prächtiger als Ninive. Der
wirkliche Nabel der Welt, zu dem man wie ein blinder und strauchelnder Idiot
auf allen vieren zurückkriecht. Und wie ein Kork, der am Ende ins stille Wasser
der Meeresmitte abgetrieben wurde, schwimmt man hier teilnahmslos, hoffnungslos
- ohne sogar auf einen vorüberkommenden Kolumbus zu achten - auf dem Schaum
und Auswurf der Wasser. Die Wiegen der Kultur sind die fauligen Abflüsse der
Welt, das Beinhaus, in dem die eklen Gebärmütter ihre blutigen Fetzen aus Fleisch
und Bein ablagern. - (krebs)
Paris (4)
Paris (5) Die Ville Lumière war berühmt wegen ihrer
lichter; wegen ihrer ultramodernen wc's, einem loch im boden, über dem man —
balancierend oder segelnd, wie es diesem jahrhundert des sports und der flugzeuge
angemessen ist — kackt; sie war berühmt für den geiz der ausländer und die freigebigkeit
ihrer söhne, für die dummheit der ausländer und die intelligenz ihrer söhne
und enkel, für ihre aufzüge, welche ständig in arrêt
momentané verharrten, diese aufzüge, in welchen nur die dame des hauses
und die hälfte ihres gemahls platz fanden, so grundverschieden von den aufzügen
der hochstapler mit plätzen für zwei oder drei familien usw. - Hans Arp, Vicente Huidobro: Der gefesselte Storch. Elsässische
patriotische Novelle. Nach (
huarp
)
Paris (6) Denken Sie sich in der Mitte zwischen drei Hügeln, auf einein Flächenraum von ohngefähr einer Quadratmeile, einen Haufen von übereinandergeschobenen Häusern, welche schmal in die Höhe wachsen, gleichsam den Boden zu vervielfachen, denken Sie sich alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann, und unter ihnen einige schöne, edle, aber einzeln in der Stadt zerstreut, denken Sie sich enge, krumme, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Kot mit Staub und Staub mit Kot abwechseln, denken Sie sich endlich einen Strom, der, wie mancher fremde Jüngling, rein und klar in diese Stadt tritt, aber schmutzig und mit tausend Unrat geschwängert, sie verläßt, und der in fast grader Linie sie durchschneidet, als wollte er den ekelhaften Ort, in welchen er sich verirrte, schnell auf dem kürzesten Wege durcheilen - denken Sie sich alle diese Züge in einem Bilde, und Sie haben ohngefähr das Bild von einer Stadt, deren Aufenthalt Ihnen so reizend scheint.
Verrat, Mord und Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht
niemanden affiziert. Ein Ehebruch des Vaters mit der Tochter, des Sohnes mit
der Mutter, ein Totschlag unter Freunden und Anverwandten sind Dinge, dont
on a eu d'exemple, und die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt. Kürzlich
wurden einer Frau 50000 Rth, gestohlen, fast täglich fallen Mordtaten vor, ja
vor einigen Tagen starb eine ganze Familie an der Vergiftung; aber das alles
ist das langweiligste Ding von der Welt, bei deren Erzählung sich jedermann
ennuyiert. Auch ist es etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine
oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St.
Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufe übereinander
liegt, damit die Anverwandten, wenn ein Mitglied aus ihrer Mitte fehlt, hinkommen
und es finden mögen. Jedes Nationalfest kostet im Durchschnitt zehn Menschen
das Leben. Das sieht man oft mit Gewißheit vorher, ohne darum dem Unglück vorzubeugen.
Bei dem Friedensfest am 14. Juli stieg in der Nacht ein Ballon mit einem eisernen
Reifen in die Höhe, an welchem ein Feuerwerk befestigt war, das in der Luft
abbrennen, und dann den Ballon entzünden sollte. Das Schauspiel war schön, aber
es war voraus zu sehen, daß wenn der Ballon in Feuer aufgegangen war, der Reifen
auf ein Feld fallen würde, das vollgepfropft von Menschen war. Aber ein Menschenleben
ist hier ein Ding, von welchem man 800000 Exemplare hat - der Ballon stieg,
der Reifen fiel, ein paar schlug er tot, weiter war es nichts. -
Heinrich von Kleist an Louise von Zenge, 16. August 1801
Paris (7) In Paris gingen damals allerhand Geschichten
um. Zum Beispiel die von dem jungen Mann, der in der Wohnung eines muskulösen
Homosexuellen gefangengchalten wurde. Nächtelang hörte man ihn lauthals herumkreischen,
er wolle da nicht mitmachen, aber am nächsten Morgen saß er dann wieder in dem
speziellen Café, wo Leute seiner Art sich trafen; oder die von der Amerikanerin,
die auf der Suche nach einer Liebschaft mit einem jungen französischen Offizier,
der sie angesprochen hatte, auf ein Hotelzimmer gegangen war. Nackt auf dem
Bett liegend, hatte sie dem Mann zugesehen, wie er sich vor dem Spiegel die
Haare kämmte und umständlich den Schnurrbart
wichste, bis sie plötzlich lachen mußte, aufstand, sich ankleidete, auf Wiedersehen
sagte und nach Hause ging. - (wcwa)
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