aris   In Paris sollte alles anders als zu Hause sein, obwohl Eugen die Stadt grau gedämpft vorkam, als ob sie staubig wäre. Der Pfälzer kaufte Langusten, die in eine deutsche Zeitung eingewickelt waren und das Papier fettig machten; sie stachen in die Zunge, schmeckten salzig, und man mußte ihre Schwänze herausreißen, bevor man sie aß. Hinter der Glasscheibe eines Cafés winkte eine dicke Frau, und der Pfälzer und die anderen gingen zu ihr hinein; auch Eugen folgte ihnen. Die dicke Frau sagte, sie habe ein Fick-Geschäft und mache alles fabelhaft, großartig; sie sprach ein perfektes, nur vielleicht ein bißchen hartes Deutsch. Ein Kleiner (aus Berlin) sagte, ihn interessiere es, wie sich die Frauen hier »dazu« stellten, und wollte Mädchen in engen kurzen Höschen sehen. An einer Straßenkreuzung stand ›Rue de Steinkerck‹, und über der Place de l'Étoile wurde es Abend. Am Triumphbogen fuhr eine schwarze Kalesche mit gelben Rädern vorbei; steif und im Zylinder saß der Kutscher auf dem Bock, und eine alte Dame lehnte in den Polstern. Wenige Autos fuhren. Ein Polizist mit Käppi ging vorbei und hatte auf der Schulter seine gefaltete Pelerine liegen. Die Champs-Élysées waren weit, die Alleebäume wurden vom Wind bewegt; es herrschte unentschiedenes und regnerisches Wetter. Eine junge Dame hatte grellblondes Haar und trug einen schwarzen Mantel. Der Mann neben ihr hatte ein wächsernes Gesicht.  - Hermann Lenz, Ein Fremdling. Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)

Paris (2)  „Wie steht mir Tod?" spielt im 10. Arrondissement von Paris. Ein Schlagersänger hat verdächtig viele Freundinnen. Ein Mann, der überall herumgeht, ist eigentlich tot. Privatdetektiv Nestor Burma raucht der Kopf. - Waschzettel zu: Léo Malet, Wie steht mir Tod? Reinbek bei Hamburg  1991 (zuerst 1956)

Paris (3)  Als ich an diesem Nachmittag die Pension Orfila verlassen hatte, ging ich in die Bibliothek und begann dort, nachdem ich im Ganges gebadet und über die Tierkreiszeichen nachgegrübelt hatte, über den Sinn der Hölle nachzudenken, die Strindberg so erbarmungslos geschildert hat. Und wie ich darüber nachsann, begann mir das Rätsel seiner Pilgerfahrt klar zu werden, die Flucht des Dichters über das Angesicht der Erde und dann, als sei ihm auferlegt gewesen, ein verlorenes Drama neu in Szene zu setzen, der heldenhafte Abstieg in die Eingeweide der Erde, der dunkle und schreckliche Aufenthalt im Bauch des Wals, der blutige Kampf, sich frei zu machen, von der Vergangenheit gereinigt als lichter, an eine fremde Küste geworfener blutbefleckter Sonnengott aufzutauchen. Es war mir kein Rätsel mehr, warum er und andere (Dante, Rabelais, van Gogh usw.) ihre Wallfahrt nach Paris gemacht hatten. Ich verstand nun, warum Paris die Gequälten, die Betörten, die großen Besessenen der Liebe anzieht. Ich verstand, warum man hier, an der Nabe des Rades, den phantastischsten, unmöglichsten Theorien anhängen kann, ohne sie im geringsten seltsam zu finden. Hier liest man wieder die Bücher seiner Jugend, und die Rätsel bekommen neuen Sinn, je einen für jedes weiße Haar. Man durchwandert die Straßen in der Gewißheit, daß man verrückt, daß man besessen ist, denn diese kalten, gleichgültigen Gesichter sind die Visagen der eigenen Gefängniswärter. Hier schwinden alle Grenzen, und die Welt enthüllt sich als das verrückte Schlachthaus, das sie ist. Die Tretmühle erstreckt sich ins Unendliche, die Luken sind dicht geschlossen, die Logik rast zügellos mit blutig gezücktem Hackmesser. Die Luft ist frostig und abgestanden, die Sprache apokalyptisch. Kein Ausweg außer dem Tod. Eine Sackgasse, an deren Ende ein Schafott steht.

Eine ewige Stadt, dieses Paris! Ewiger als Rom, prächtiger als Ninive. Der wirkliche Nabel der Welt, zu dem man wie ein blinder und strauchelnder Idiot auf allen vieren zurückkriecht. Und wie ein Kork, der am Ende ins stille Wasser der Meeresmitte abgetrieben wurde, schwimmt man hier teilnahmslos, hoffnungslos - ohne sogar auf einen vorüberkommenden Kolumbus zu achten - auf dem Schaum und Auswurf der Wasser. Die Wiegen der Kultur sind die fauligen Abflüsse der Welt, das Beinhaus, in dem die eklen Gebärmütter ihre blutigen Fetzen aus Fleisch und Bein ablagern. - (krebs)

Paris (4)

Paris (5)  Die Ville Lumière war berühmt wegen ihrer lichter; wegen ihrer ultramodernen wc's, einem loch im boden, über dem man — balancierend oder segelnd, wie es diesem jahrhundert des sports und der flugzeuge angemessen ist — kackt; sie war berühmt für den geiz der ausländer und die freigebigkeit ihrer söhne, für die dummheit der ausländer und die intelligenz ihrer söhne und enkel, für ihre aufzüge, welche ständig in arrêt momentané verharrten, diese aufzüge, in welchen nur die dame des hauses und die hälfte ihres gemahls platz fanden, so grundverschieden von den aufzügen der hochstapler mit plätzen für zwei oder drei familien usw. - Hans Arp, Vicente Huidobro: Der gefesselte Storch. Elsässische patriotische Novelle. Nach (huarp)

Paris (6)   Denken Sie sich in der Mitte zwischen drei Hügeln, auf einein Flächenraum von ohngefähr einer Quadratmeile, einen Haufen von übereinandergeschobenen Häusern, welche schmal in die Höhe wachsen, gleichsam den Boden zu vervielfachen, denken Sie sich alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann, und unter ihnen einige schöne, edle, aber einzeln in der Stadt zerstreut, denken Sie sich enge, krumme, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Kot mit Staub und Staub mit Kot abwechseln, denken Sie sich endlich einen Strom, der, wie mancher fremde Jüngling, rein und klar in diese Stadt tritt, aber schmutzig und mit tausend Unrat geschwängert, sie verläßt, und der in fast grader Linie sie durchschneidet, als wollte er den ekelhaften Ort, in welchen er sich verirrte, schnell auf dem kürzesten Wege durcheilen - denken Sie sich alle diese Züge in einem Bilde, und Sie haben ohngefähr das Bild von einer Stadt, deren Aufenthalt Ihnen so reizend scheint.

Verrat, Mord und Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden affiziert. Ein Ehebruch des Vaters mit der Tochter, des Sohnes mit der Mutter, ein Totschlag unter Freunden und Anverwandten sind Dinge, dont on a eu d'exemple, und die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt. Kürzlich wurden einer Frau 50000 Rth, gestohlen, fast täglich fallen Mordtaten vor, ja vor einigen Tagen starb eine ganze Familie an der Vergiftung; aber das alles ist das langweiligste Ding von der Welt, bei deren Erzählung sich jedermann ennuyiert. Auch ist es etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St. Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufe übereinander liegt, damit die Anverwandten, wenn ein Mitglied aus ihrer Mitte fehlt, hinkommen und es finden mögen. Jedes Nationalfest kostet im Durchschnitt zehn Menschen das Leben. Das sieht man oft mit Gewißheit vorher, ohne darum dem Unglück vorzubeugen. Bei dem Friedensfest am 14. Juli stieg in der Nacht ein Ballon mit einem eisernen Reifen in die Höhe, an welchem ein Feuerwerk befestigt war, das in der Luft abbrennen, und dann den Ballon entzünden sollte. Das Schauspiel war schön, aber es war voraus zu sehen, daß wenn der Ballon in Feuer aufgegangen war, der Reifen auf ein Feld fallen würde, das vollgepfropft von Menschen war. Aber ein Menschenleben ist hier ein Ding, von welchem man 800000 Exemplare hat - der Ballon stieg, der Reifen fiel, ein paar schlug er tot, weiter war es nichts.  - Heinrich von Kleist an  Louise von Zenge, 16. August 1801

Paris (7)  In Paris gingen damals allerhand Geschichten um. Zum Beispiel die von dem jungen Mann, der in der Wohnung eines muskulösen Homosexuellen gefangengchalten wurde. Nächtelang hörte man ihn lauthals herumkreischen, er wolle da nicht mitmachen, aber am nächsten Morgen saß er dann wieder in dem speziellen Café, wo Leute seiner Art sich trafen; oder die von der Amerikanerin, die auf der Suche nach einer Liebschaft mit einem jungen französischen Offizier, der sie angesprochen hatte, auf ein Hotelzimmer gegangen war. Nackt auf dem Bett liegend, hatte sie dem Mann zugesehen, wie er sich vor dem Spiegel die Haare kämmte und umständlich den Schnurrbart wichste, bis sie plötzlich lachen mußte, aufstand, sich ankleidete, auf Wiedersehen sagte und nach Hause ging. - (wcwa)

Frankreich Stadt

 

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