Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten — liest man — steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken

 

- Jakob van Hoddis

Weltende (2) Bouvard neigte dem Neptunismus zu. Pécuchet dagegen war eher Plutoniker.

Die Feuersglut des Erdinneren hatte die Kruste des Globus durchbrochen, die Erdschichten aufgefaltet und Risse und Schrunden aufplatzen lassen. Das Ganze war wie ein Binnenmeer mit seiner Ebbe und Flut und seinen Stürmen; nur ein dünnes Häutchen trennt uns davon. Man könnte gar nicht mehr ruhig schlafen, wenn man fortgesetzt an das denkt, was da unter unseren Füßen brodelt. - Dennoch nimmt die Feuersglut des Erdinneren ab, und die Sonne wird schwächer, so daß die Erde eines Tages an Auskühlung zugrunde gehen wird. Sie wird unfruchtbar; alles Holz und alle Kohle werden zu Kohlensäure - und kein Lebewesen wird mehr darauf existieren können.

»Aber so weit sind wir noch nicht!« sagte Bouvard.

»Hoffentlich nicht!« erwiderte Pécuchet. - Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Frankfurt am Main 2003 (Die Andere Bibliothek 222, zuerst 1881)

Weltende (3)

Der Himmel ist ein Leichentuch.
Der Wind steht.
Ist denn die Luft gestorben? Ist sie gestorben?
Plötzlich springt der Knabe an das Fenster
und schreit mit kläglicher Stimme:
«Seht doch, seht! Die Erde ist versunken!»
«Versunken?»
Es ist so.
Eben noch breitete sich vor dem Hause weite Fläche - jetzt steht es auf dem Gipfel eines furchtbaren Bergs!
Der Horizont ist hinabgesunken, in die Tiefe geglitten.
Dicht vor dem Hause öffnet sich der Boden fast senkrecht zu einem schwarzen, gähnenden Schlunde.

Alles drängt sich ans Fenster.
Entsetzen lässt unsere Herzen zu Eis erstarren.
«Da kommt es..., da ist es!» flüstert mein Nachbar.
Und wirklich: am weiten Rand der Erde wallt es und wogt es, kleine runde Hügel steigen und fallen.

«Das Meer

Alle denken wir es zugleich.
In Sekunden wird es uns alle verschlingen.
Aber wie kann es wachsen und steigen?
Diesen Schlund hinauf?
Und dennoch, es wächst, es wächst ins Riesenhafte.
Jetzt sind es nicht mehr einzelne Wellenhäupter, die da in der Ferne sich überrollen..., eine geballte, ungeheure Woge überwältigt das gesamte Erdenrund.

Sie fliegt auf uns zu!
Sie fliegt auf uns zu!
Wie eisiger Sturmwind fegt sie heran, wirbelt in höllischer Finsternis.
Alles ringsum erbebt.
Und in dem heranjagenden riesigen Schwall kracht es und donnert es, gellt tausendkehlig eisernes Gebell...
Welch Brüllen und Heulen!
Das ist die Erde,
die vor Furcht und Schrecken heult.
Das ist ihr Ende.

- Iwan Turgenjew, in: I.T., Meistererzählungen. Zürich 1973 (zuerst ca. 1880)

Weltende (4) Am Ende von tausend Perioden von vier Zeitaltern ist die Erde zum größten Teil erschöpft... Der ewige Vishnu... tritt ein in die sieben Strahlen der Sonne, trinkt all die Wasser der Welt und läßt alle Feuchtigkeit, ob der Lebewesen oder der Erde verdunsten ... Der Zerstörer aller Dinge, Hari, kommt in der Form von Rudra, der Flamme der Zeit... zur Erde nieder und verschlingt sie. Ein ungeheurer Strudel wirbelnder Flammen erstreckt sich dann bis in Atmosphäre und Göttersphäre und umfängt sie mit Verderben.

Schwere Wolken, großen Elefanten gleich, bedecken den Himmel. Einige sind schwarz wie der blaue Lotus, weiß wie die Wasserlilie, einige tiefblau, hellblau oder leuchtend rot... Die Welt ist in Dunkelheit gehüllt, alles verdirbt, und die Wolken vergießen ihr Wasser.

Wenn der Weltgeist erwacht, belebt sich die Welt... Am Ende der Nacht erwacht der ungeborene Vishnu in Gestalt des Brahma und erschafft von neuem die Welt. - Wischnu Purana, nach (zeit)

 Weltende (5)   

Soweit ist es nun tatsächlich mit dieser Welt gekommen

Auf den Telegraphenstangen sitzen die Kühe und spielen Schach

So melancholisch singt der Kakadu unter den Röcken der spanischen Tänzerin wie ein Stabstrompeter und die Kanonen jammern den ganzen Tag

Das ist die Landschaft in Lila von der Herr Mayer sprach als er das Auge verlor

Nur mit der Feuerwehr ist die Nachtmahr aus dem Salon zu vertreiben aber alle Schläuche sind entzwei

Ja ja Sonja da sehen Sie die Zelluloidpuppe als Wechselbalg an und schreien: God save the king

Der ganze Monistenbund ist auf dem Dampfer «Meyerbeer» versammelt

doch nur der Steuermann hat eine Ahnung vom hohen C

Ich ziehe den anatomischen Atlas aus meiner Zehe ein ernsthaftes Studium beginnt

Habt Ihr die Fische gesehen die im Cutaway vor der Opera stehen schon zween Nächte und zween Tage?

Ach Ach Ihr großen Teufel - ach ach Ihr Imker und Platzkommandanten

Wille wau wau wau Wille wo wo wo wer weiß heute nicht was unser Vater Homer gedichtet hat

Ich halte den Krieg und den Frieden in meiner Toga aber ich entscheide mich für den Cherry-Brandy flip

Heute weiß keiner ob er morgen gewesen ist

Mit dem Sargdeckel schlägt man den Takt dazu

Wenn doch nur einer den Mut hätte der Trambahn die Schwanzfedern auszureißen es ist eine große Zeit

Die Zoologieprofessoren sammeln sich im Wiesengrund

Sie wehren den Regenbogen mit den Handtellern ab

Der große Magier legt die Tomaten auf seine Stirn

Füllest wieder Busch und Schloß

Pfeift der Rehbock hüpft das Roß

[Wer sollte da nicht blödsinnig werden] - Richard Huelsenbeck, Phantastische Gebete. Zürich 1960 (zuerst 1916)

Weltende (6, früheres)  Vor langer, langer Zeit trat das Ende der Welt auf folgende Weise ein: Eines Tages hörte man über und unter der Erde ein Geräusch. Mond und Sonne wurden rot, blau und dann gelb. Die wilden Tiere mischten sich unter die Menschen, ohne Angst zu haben. Einen Monat später vernahm man noch viel größeren Lärm, und zwischen Himmel und Erde breitete sich Finsternis aus. Der Donner grollte, und Regen fiel Tag und Nacht. Viele Menschen verirrten sich, und andere kamen auf unbekannte Weise um.

Das Wasser bedeckte die ganze Erde, so daß nur noch die obersten Zweige der höchsten Bäume herausragten. Die Leute, die auf diese Äste flüchteten, starben an Hunger und Kälte, außer Uassu und seiner Frau Sofara. Als das Wasser sank, stiegen sie vom Baum herunter, auf dem sie Zuflucht gesucht hatten, und fanden von den anderen weder Leichnam noch Gebeine. Die beiden bevölkerten wieder die Erde. Ihre Nachkommen aber beschlossen, ihre Häuser am Flußufer auf Pfählen zu bauen, denn so könnten die Häuser auf dem Wasser treiben, falls es wieder steigen sollte.  - Südamerikanische Indianermärchen. Hg. Felix Karlinger und Elisabeth Zacherl. München 1992 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Weltende (7)  

An einem solchen

Abend tritt vermutlich das Ende
der Welt ein, jetzt, wenn
du schon einmal
daran glauben willst
daß das etwas zu bedeuten habe, weil sonst

nichts mehr dazusein scheint, was sich ändern
könnte, von hier nach dort
wo du festsitzt
auf einem Stuhl
am Fenster
im Dunkeln
wie ein Bild, das sich unermüdlich entleert
hat, ohne viel Sinn, aber das

ist eine optische Täuschung
sie brauchte bloß
die Lampe anzuschalten
um sich zu überzeugen

und dann ohne viel Interesse
kriegt sie eins in die Fresse.

- Rolf Dieter Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962 - 1970. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1968)

Weltende (8)  In der Hauptstadt der Gamuna sieht man oft blinde alte Leute, die sich im Gänsemarsch vorwärtstastend einen Ausgang aus der Stadt suchen; dann nehmen sie einen Weg in den Busch, um nicht von einem Tor zum anderen verjagt zu werden und sich an ruhige Orte zum Sterben zurückzuziehen. Diese alten Leute singen uralte Litaneien über das Sternbild des Vitule, das einstmals wohl als kosmische Uhr betrachtet wurde, um die Bahn der Gestirne zu berechnen. Und die uralten Litaneien sagen in geheimnisvollen Formeln, wenn der Stern Panka (weder von Bonetti noch von anderen Forschern der gamunischen Angelegenheiten identifiziert) wieder über dem Sternbild des Vitule stehen wird, dann wird sich Boro Trai, der große Herrscher des Schlafs, das Leben nehmen. Das heißt, er wird vor lauter Essen und Trinken platzen, zusammen mit 1000 Untertanen, die eigens dazu auf die Welt gekommen sind, um ihm in den Tod zu folgen. Wenn Boro platzt, werden seine Fettfetzen auf die höchste Stelle des Sternbilds Vitule, unter den Stern Panka, geschleudert werden. Und dann wird es keinen Schlaf mehr geben, aber es wird auch keine Welt mehr geben, denn die Halluzination der Welt nistet im Körper des schlafenden Menschen.   - (fata)

Weltende (9)

Der 65jährige Pariser Gelehrte Robert Pelterie erklärte, daß 90 Minuten nach der Explosion der Versuchs-Atombombe Nr. 3, die heute im Pazifik zur Zündung gebracht werden soll, eine Welle der Zerstörung über die Welt rasen kann. „Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, daß die im Ozean freigewordene Atomenergie sich in Form einer Kettenreaktion fortsetzt. Falls das geschieht, werden alle Ozeane der Welt in eine ungeheure Atombombe verwandelt werden. Eine Explosion würde in ungefähr 40 Minuten durch alle Ozeane rasen. Der zweite Schock würde innerhalb 90 Minuten eintreffen, begleitet von einer riesigen Feuerwelle, die eine Hitze von einer Million Graden ausstrahlen würde. Die Luft würde aufgezehrt werden. Nachher wäre die Erde ein toter Planet."

Mit dieser Sensation bewaffnet, beeilte ich mich, ins Bad zu kommen. Die Nachricht erregte unter den sonst so lustigen Kameraden eine aufreizende Wirkung. Es ist interessant, wie jeder sich zum Spaß das Weltende ausmalte, und die Wünsche zur Gestaltung des letzten Tages sind charakteristisch: W, den ich erst später näher kennenlernen sollte, legte zum erstenmal seine Brutalität an den Tag. Er wünschte zu randalieren, Faustpolitik zu fuhren, an verschiedenen Leuten Rache zu nehmen und ähnliches. M wünschte sich Belustigungen mit vielen schönen Weibern. Etwas anders T: Sein Wunsch ging nach tollen Streichen, gutem Vollessen und leichtem Rausch, nach gemäßigtem Tanz und ruhigem letztem Einschlafen. Zuletzt Rainer: Er wünschte, ein schönes Buch zu lesen, dann ins Theater zu gehen mit seiner Erika, nach Hause zu kommen, ein wenig mit ihr allein zu tanzen, dann eine schöne Diskussion zu führen, sich ans Klavier zu setzen und so das Ende abzuwarten. Dann malten wir uns die Hölle aus und erwogen, wer dort wohl anzutreffen sein würde. Mich versetzten sie ins leichte Fegefeuer, B und T in die Hölle. - (met)

Weltende (10)

- N. N.

Weltende (11)  Der Wachtmeister stolperte. Immer wieder hob sich die Sandfläche vor seinen Augen und sank, schauderhaft schlingernd, unter seinen Füßen weg. Aber jetzt war er ruhiger, er hatte sich klargemacht, daß er diese Sache durchstehen mußte und daß er sich regelmäßig ins Badezimmer schleppen mußte, um sich zu übergeben und dann seine heiße und strapaziöse Reise fortzusetzen. Der kleine Treppenputzer war noch immer bei ihm, was ihn noch zusätzlich ermüdete. Die Anstrengung, vorwärts zu kommen, reichte ihm, er wollte sich nicht noch um den Schmerz seines Gefährten kümmern müssen, dessen geduldige, dunkel umflorte Augen ihn fortwährend anflehten, obwohl er sich nie umblickte. Manchmal waren sie allein, manchmal kamen Teufel mit Gabeln und piesackten sie, nicht um sie anzutreiben, sondern um sie zu quälen. Sie piekten den Wachtmeister meist in den Rücken, und das bereitete ihm große Schmerzen. Allmählich wurde es immer heißer. Wenn es noch sehr viel heißer würde, müßten sie sterben. Gottlob stand unter dem Bett der Kasten Mineralwasser... und jetzt heulten die Polizeisirenen, was hatte das zu bedeuten? Er hatte sich zwar schon einmal klargemacht, was mit ihm passierte, es inzwischen aber wieder vergessen. Es hatte mit einer Beerdigung zu tun ... oder mit der Heimfahrt. .. aber welche Rolle spielten dabei die Sirenen? Er hatte den Faden verloren ... wenn er bloß kurz einmal stehenbleiben und nachdenken könnte. Ihm wurde aber klar, daß er nicht stehenbleiben konnte, denn es war der Boden, der sich bewegte, und nicht er.

»Alle mal stillhalten«, rief er laut in das Dunkel hinein, doch nichts blieb stehen, und die Teufel piekten ihn munter weiter, während die Landschaft vor seinen Augen hin und her wogte. »Was ist los?« fragte der Wachtmeister, der aufhören wollte, die Lösung selbst zu finden. »Was ist hier los? Warum können wir nicht anhalten?«

»Haben Sie nicht gewußt?« sagte die Stimme des kleinen Treppenputzers, auch wenn er gar nicht mehr neben ihm war. »Es ist das Ende der Welt...«

Plötzlich hielt es der Wachtmeister nicht mehr aus.

»Nein!« brüllte er. »Nein! Das ist nicht das Ende der Welt! Das glaube ich nicht. Ich habe wirklich mal gewußt, was mit mir nicht stimmt, jetzt habe ich es vergessen, aber das Ende der Welt ist es nicht, und überhaupt, diese ganze Geschichte bin ich leid, ich hab's satt, Nacht für Nacht, und ihr« - wütend zeigte er auf die grinsenden Wesen um ihn herum -, »ihr könnt verschwinden! Haut ab aus meinem Schlafzimmer! Alle miteinander, und laßt euch nicht wieder blicken. Ich ertrage euch nicht länger, warum sollte ich auch, also raus jetzt mit euch!« Er schrie sich heiser, aber sie gingen. »Gut. Na, dann werden wir mal sehen, ob dies das Ende der Welt ist oder nicht. Nur einen Moment noch, dann werde ich richtig aufwachen und ein Glas Wasser trinken. Das Ende der Welt! So ein Quatsch!«   - Magdalen Nabb, Tod eines Engländers. Zürich 1991

Weltende (12)  

Das Ende der Welt

Es kam ganz unerwartet, gerade als
Vasserot, das armlose Wunder, anriß
ein Zündholz mit seinem linken Zeh, in den Hals
von Madame Soßmann Cäsar der Löwe biß

(Trommelwirbel), als Teeny mit großem Hurra
seinen Partner am Daumen herumgeschnellt
im Walzertakt, und wollt eben husten, da
flog plötzlich davon das Zirkuszelt

und droben hing, es hing droben, es hing
über geblendeten Augen und Menschengewimmel,
hing im sternlosen Dunkel und schwebte und ging
mit Riesenflügeln nieder überm erloschnen Himmel,
bis in der Finsternis nichts als das schwarze Bahr-
tuch aus nichts und wieder nichts war.

- Archibald MacLeish, nach (mus)

 

Verschwinden Zukunft Zukunft Welt

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Synonyme
Weltuntergang