Abtauchen Wir kennen den Fall einer deutschen Kompanie, die ein Dorf in der Champagne erobert hatte, aber dann nicht weiter vorging, sondern verschwunden war. Sie hatte sich über die Keller hergemacht und war betrunken, die ganze Kompanie. - (cel)

Abtauchen (2) Ich kannte viele Kapitäne, die, unmittelbar nachdem ihr Schiff das enge Fahrwasser des Kanals passiert hatte, drei Tage lang oder noch länger für die ganze Besatzung unsichtbar blieben. Sie tauchten gewissermaßen in ihrer Kajüte unter und kamen erst nach einigen Tagen mit mehr oder weniger heiterer Miene wieder zum Vorschein. Mit diesen Männern hatte man es leicht.

Überdies mochte eine so vollständige Zurückgezogenheit restloses Vertrauen zu den Steuerleuten bedeuten; und daß man ihm vertraut, mißfällt keinem Seemann, der diesen Namen verdient. - (con)

Abtauchen (3) Fast jeden Tag verschwanden Frauen. Meistens geschah es in aller Stille, und man fand sie oder fand sie nicht. Die Zeitungen brachten nicht mehr als drei Zeilen.

Muriel Britt war sozusagen mit einem Knall verschwunden. Sie war mit einer Reisegesellschaft von zweiundfünfzig Personen aus England, den Vereinigten Staaten und Kanada gekommen.

Es war an dem Abend passiert, an dem die Gesellschaft die übliche Nachtrundfahrt mit einem Omnibus machte. Fast alle Teilnehmer waren ältere Leute. Sie besuchten die Hallen und ein paar Nachtlokale an der Place Pigalle, in der Rue de Lappe und auf dem Champs-Elysees. In jedem Lokal konnten sie etwas verzehren.

Im Verlauf der Tour kamen sie mehr und mehr in Stimmung. Ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen strahlten. Ein kleiner Herr mit gewichstem Schnurrbart ging vor dem letzten Lokal verloren. Aber man machte sich nicht viel daraus. Man wußte, daß er versuchen würde, sein Hotelzimmer möglichst unbemerkt zu erreichen. Dort würde man ihn am nächsten Tage schon finden. Bei Mrs. Britt war der Fall ganz anders.

Die englischen Zeitungen betonten, daß sie keinen Grund hatte, zu verschwinden. Sie war achtundfünfzig Jahre alt, mager, schon ein wenig vertrocknet. Sie hatte den Körper und das müde Gesicht einer Frau, die ihr ganzes Leben lang schwer gearbeitet hat. Sie leitete eine Familienpension in der Kilburn Lane, einer Straße im Westen Londons.

Was war das eigentlich für eine Straße, die Kilburn Lane? Maigret kannte sie nicht. Nach den Fotos in den Zeitungen stellte er sich ein unscheinbares Haus vor, in dem Stenotypistinnen und kleine Angestellte wohnten, die sich zu den Mahlzeiten um den runden Tisch der Pension einfanden.

Mrs. Britt war Witwe.

Sie hatte einen Sohn in Südafrika und eine verheiratete Tochter, die irgendwo am Suezkanal lebte. Die Zeitungen berichteten, daß dies die ersten richtigen Ferien waren, die sich die arme Frau gönnte.

Wie die meisten Engländer wollte sie einmal im Leben Paris sehen. Alles war durch die Reisegesellschaft zu einem festen Preis arrangiert. Sie waren in einem der Hotels in der Nähe der Gare Saint-Lazare abgestiegen, das ganz dem Geschmack der Touristen entsprach.

Mrs. Britt hatte den Omnibus zur gleichen Zeit wie ihre Mitreisenden verlassen und war auf ihr Zimmer gegangen. Drei Zeugen hatten gehört, wie sie die Tür hinter sich schloß.

Am nächsten Tag war sie nicht mehr da, und seitdem hatte man nicht die geringste Spur von ihr gefunden.

Ein Inspektor von Scotland Yard war gekommen und hatte mit verlegener Miene Maigret aufgesucht. Er war mit der diskreten Untersuchung des Falles beauftragt worden. Weniger diskret berichteten die englischen Zeitungen von der Unfähigkeit der französischen Polizei.

Es gab ein paar Einzelheiten, die Maigret nur ungern der Presse bekanntgab. Zum Beispiel hatte man im Hotelzimmer der Verschwundenen einen Haufen leerer Flaschen gefunden. Sie waren ungeschickt versteckt, unter der Matratze, unter der Wasche in einer Schublade, ja sogar auf dem Kleiderschrank.   - Georges Simenon, Maigret erlebt eine Niederlage. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 20, zuerst 1956)

Abtauchen (4)  Ein kleiner Kieselstein am abschüssigen Ufer ließ ihn straucheln. Vielleicht hätte er sich vor dem seiner Erkältung gefährlichen Bad noch retten können, aber ein Rest vom Genuß des Opiums hinterbliebener Trägheit und noch etwas in ihm, das gern wissen wollte, welchen Verlauf die Dinge nehmen würden, wenn er in den Teich fiele — dies hinderte ihn, sich vor dem Sturz zu bewahren. Und als er auf einmal im kalten Wasser auf dem Grund lag, schien ihm in der Erstarrung seiner Seele ein solches Ende recht zu sein. Nur unwillkürlich regte er die Hände und tauchte empor. An das hochliegende Ufer konnte er nicht, Falke und Reiher, größer werdend, ließen ihn staunen über die Sinnlosigkeit der noch unabsehbaren Umwälzungen, die in einem so gewaltigen Reich ein kleines Tier hervorzurufen imstand war. Ein Tier, das ihn und Humaiun vom Leben zu trennen vermöchte und von Hindostan, dem unter tausend Gefahren errungenen. In nicht mehr Zeit, als Milch zum Sieden brauchte. Vorige Woche noch hatte er selbstbewußt niedergeschrieben: »Wir Dichterfürsten sind die Führer jener andern, die mit uns im Schlafe wandern«, und heut warf ihn ein alberner Falke ins Grab . . . Dem Syed hatte er mit Enthauptung gedroht — nun lag er im Teich des Syed! . . . Dann aber kehrte ihm das Lächeln wieder, als er der Dorflehrer gedachte, die unter Palmen, der Derwische, die in Moscheen von dem unscheinbaren Werkzeug reden würden, dessen sich Allah bedient, um den Ärgernis, Nachahmung erregenden Weintrinker und Vater eines Weintrinkers zu verderben . . . Die Schwertlilien am gegenüberliegenden Ufer verbeugten sich vor dem Wind, und ein weit weg im Leben mit einem Schreckens-Schrei auffahrender Pfau erinnerte sein dämonisches Gedächtnis nur an eine alte Aufzeichnung, in der er geschrieben, daß nach der Lehre des Imams Abu Hanifeh das Pfauenfleisch eine erlaubte Speise sei, aber gleich dem Fleisch der Dromedare mit Widerwillen genossen werde. - Albert Ehrenstein, Baber, nach  A.E.: Gedichte und Prosa. Neuwied u.a. 1961

Abtauchen (5)  Eines Nachmittags betritt ein alter Schulkamerad die Wohnung durch die offene Tür, er hat erfahren, daß Baratto seit kurzem verstummt ist. Der Mann ist Rechtsanwalt, seit einiger Zeit Prediger bei der Sekte der Zeugen Jehovas und geht nun von Haus zu Haus, um den Leuten einzureden, das Reich Gottes stehe vor der Tür. Er ist gekommen, um es auch Baratto einzureden, und betritt das Wohnzimmer, ausgerüstet mit einer Aktentasche, die vollgestopft ist mit Broschüren über seine Erlösungstätigkeit.

Baratto ist eben vom Training am Ufer der Trebbia heimgekommen. Splitternackt und noch verschwitzt mustert er mit starren Augen den Besucher. Der alte Schulkamerad redet von ihrer früheren Freundschaft und seiner jetzigen Tätigkeit als Prediger, aber der nackte Mann fährt fort ihn anzustarren, als verstünde er seine Worte nicht. Da kramt der Anwalt seine Broschüren hervor und breitet sie mit folgender Erklärung auf dem Tisch aus: »Ich habe erfahren, daß du dich in dich selbst zurückgezogen hast und mit niemandem mehr reden willst, vielleicht wegen einer Enttäuschung. So ist das Leben eben, es gibt Enttäuschungen. Aber wir können dir versichern, das Reich Gottes steht vor der Tür, die Bibelworte verkünden es klar und eindeutig. Das ist der Weg, der dich zu dir selbst zurückführt, wenn du dir helfen lassen willst. Bist du bereit, Baratto, dir helfen zu lassen und selbst ein Zeuge Gottes zu werden?«

Der Rechtsanwalt wartet geraume Zeit auf eine Antwort. Er zieht seinen Chronometer zu Rate und stellt die Frage noch zweimal, da scheint er endlich eine Reaktion auf seine Worte zu sehen. Als würde er einschlafen, ist der nackte Mann auf seinem Stuhl zusammengesunken, mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem. Und so bleibt er dann sitzen mit geschlossenen Augen und wie unter Wasser.    - Gianni Celati, Der wahre Schein. Berlin o. J. (zuerst 1987)

Abtauchen (6)

Abtauchen (7)

Abtauchen (8)  Nicht daß mir die Mädchen vom Hafen damals besonders gefielen, ich bewegte mich in der bequemen kleinen Welt einer festen Beziehung zu einer Frau, die ich Susana nennen will und als »Kinesiologin« bezeichnen möchte, nur war mir diese Welt manchmal denn doch zu klein und zu komfortabel, und ich hatte dann das dringende Bedürfnis, abzutauchen, zurückzukehren zu den Zeiten als Halbwüchsiger mit einsamen Streifzügen durch die südlichen Viertel, Barbesuchen und kapriziösen Neigungen, - kurze Intermezzi, wahrscheinlich mehr ästhetisch als erotisch; ein wenig wie das Schreiben dieses Abschnittes, den ich, nun ich ihn wiederlese, streichen sollte, doch den ich beibehalten will, weil es nun einmal so war, das, was ich Abtauchen genannt habe, diese wirklich unnütze Verlotterung, wo doch Susana, wo doch T. S. Eliot, wo doch Wilhelm Backhaus, und trotzdem, trotzdem.   - Julio Cortázar, Tagebuch für eine Erzählung. In: J. C., Ende der Etappe. Frankfurt am Main  1998

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Rausch