rücke  Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. — So lag ich und wartete; ich mußte warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein. - (kaf)

Brücke (2) Die größte Hoffnung, die, sage ich, die alle anderen in sich enthält, ist, daß dies für alle sei und daß dies daure für alle. Daß die unbedingte Hingabe eines Menschen an einen anderen, die ohne dessen ebenso unbedingte Gegengabe nicht möglich ist, in aller Augen der einzige natürliche und übernatürliche Steg sei, der über das Leben hinwegführt. - André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1985 (BS 435, zuerst 1937)

Brücke (3)  Grettir hat wohl manches Mal in seinem Leben an dieser Grenze gestanden, wo die Brücke der Entwürdigung zu überschreiten war (man hat da ein schlimmes Wort gefunden), um den Leidenden in einer Sache Recht zu geben, die garnicht als Recht zu beanspruchen ist, - und an dieser Grenze war er umgekehrt. Drängt ihn die Notwendigkeit zu diesem Schritt, so geht er auch nur bis an jene Grenze, von der aus man sich seine Situation genau vorstellen kann, und dann kehrt er um. Nichts ist so wichtig, als seine innere Unberührtheit zu bewahren, so wird in solchen Augenblicken gefühlt, aber man kann nicht zuviel von dieser Reinheit halten, denn der Mensch wird nur etwas durch seine Verbindungen mit Erlebnissen und mit Andren. Grettir aber wird diesen Weg nicht gehen und wenn er hungern müßte, so wäre das nicht so arg. In irgendwelchen unberechenbaren Augenblicken aber ist es für ihn ein Nichts, von Menschen etwas zu erbitten, - dann fühlt er sich ebenfalls ungewöhnlich groß, - das ist nicht zu bestreiten, und das Wenige an Güte, das er von seiner Kraft abnimmt, um damit irgendeine kleine Hilfe zu erbitten, reicht meistens aus, das zu erlangen, was er gewollt hat. Er ist ja auch ein großer Herr, bittet um ein Stück Brot, - Jeder findet, daß es eine große Gnade ist, so gebeten zu werden.   - Ernst Fuhrmann, Der Geächtete. Berlin 1983 (zuerst 1930)

Brücke (4)  Man gibt dem Toten ein Pferd, ebenso eine angemessene Ausrüstung. Bevor der Verstorbene an den Fluß kommt, den er zu überschreiten hat, treten ihm Wächter entgegen; er muß ihnen Hirsekuchen schenken, um weiterziehen zu dürfen. Über den Fluß selbst führt statt einer Brücke nur ein Balken, vor dem eine göttliche Gestalt steht, die ihn zu befragen beginnt. Nachdem sich herausgestellt hat, daß der Tote diesem göttlichen Wesen die Wahrheit gesagt und also die Probe bestanden hat, läßt er ihn hinüberziehen und vermittelt ihm einen Führer, um ihn so in das Land der Narten zu geleiten. Hat der Verstorbene diese Erlaubnis erhalten, tritt er sofort auf den Steg, der unter ihm zu schwanken beginnt und einzustürzen droht. War der Verstorbene ein guter Mann und reitet er kühn drauflos, so wird der Steg immer breiter und fester. Er gestaltet sich schließlich zu einer ordentlichen großen Brücke.   - Hans-Jürg Braun, Das Jenseits - Die Vorstellungen der Menschheit über das Leben nach dem Tod. Frankfurt am Main 2000 (it 2616, zuerst 1996)

Brücke (5)  Die früheste Erinnerung, die ich habe, ist die an die Kälte, den Schnee und das Eis im Rinnstein, den Reif an den Fensterscheiben, den frostigen Hauch der feuchten, grünen Küchenwände. Warum leben Menschen in fremdartigen Klimata, in den sogenannten gemäßigten Zonen, wie sie fälschlich bezeichnet werden? Weil die Menschen von Natur Dummköpfe, Faulpelze und Feiglinge sind. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wurde mir nie bewußt, daß es <warme> Länder gab, Orte, wo man nicht für seinen Lebensunterhalt schuften, auch nicht frieren und vorgeben mußte, das sei gesund und erhalte frisch. Überall, wo es kalt ist, gibt es Menschen, die sich schinden, und wenn sie Kinder in die Welt setzen, predigen sie den Kindern das Evangelium der Arbeit - das im Grunde nichts anderes ist als die Lehre von der Trägheit. Meine Leute waren alle nordischer Abkunft, mit anderen Worten: Idioten. Allen Blödsinn, der je verkündet wurde, machten sie sich zu eigen. Darunter die Lehre von der Sauberkeit, von der Rechtschaffenheit ganz zu schweigen. Sie waren peinlich sauber. Aber innen stanken sie. Kein einziges Mal hatten sie die Tür zur Seele aufgetan. Kein einziges Mal fiel es ihnen ein, blindlings einen Sprung ins Dunkle zu tun. Nach Tisch wurden die Teller prompt abgespült und in den Geschirrschrank gestellt; war die Zeitung gelesen, wurde sie sauber gefaltet und auf ein Regal gelegt; war die Wäsche gewaschen, wurde sie gebügelt, gefaltet und in die Schubladen verstaut. Immer dachte man an morgen, aber das Morgen kam nie. Die Gegenwart war nur eine Brücke, und auf dieser Brücke stöhnen sie noch, so wie die ganze Welt stöhnt, und keiner dieser Dummköpfe kommt darauf, die Brücke in die Luft zu sprengen.  - (wendek)

Brücke (6)  Er berichtete mir flüsternd, daß er unterwegs, ehe er völlig in den Nebel geriet, am andern Ufer des Flusses eine ganze Menge Gestalten gesehen habe. Auch Frauen wären darunter gewesen.  Voller Begierde, mit ihnen  zu sprechen, habe er eine Brücke gesucht. Es wäre auch eine dagewesen. »Weiß der Himmel, wie sie dahinkam. Früher war sie nicht da und gehörte auch gar nicht hin. Ich beschritt sie vorsichtig. Ja, sie hielt, es war wirklich eine Brücke. Doch als ich zur Hälfte hinüber war, bemerkten mich diese dummen Wesen und liefen schreiend über eine Wiese davon.«

»Warum bist du nicht hinterher gelaufen?« fragte ich.

»Das will ich dir sagen, mein Lieber. Mit der Brücke schien mir plötzlich nicht mehr alles in Ordnung zu sein. Und so war es auch. Ob du es nun glaubst oder nicht, die zweite Hälfte fehlte und ich wäre beinahe in den Fluß gefallen. Warum man sie wohl nicht fertig gebaut hatte? Und überhaupt, wie schwebte denn die eine Hälfte dieser Brücke in der Luft?«  - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)

Brücke (7)  Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann - darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Unendlichkeit des Seins erst an seiner Fähigkeit der Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten. - Georg Simmel: Brücke und Tür (1909)

Brücke (8)  «Du, hast du das vorhin ganz verstanden?»

«Was?»

«Die Geschchte mit den imaginären Zahlen?»

«Ja. Das ist doch gar nicht so sdiwer. Man muß nur festhalten, daß die Quadratwurzel aus negativ Eins die Redmungseinheit ist.»

«Das ist es aber gerade. Die gibt es doch gar nicht. Jede Zahl, ob sie nun positiv ist oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben etwas Positives. Es kann daher gar keine wirklidie Zahl geben, welche die Quadratwurzel von etwas Negativem wäre.»

«Ganz recht; aber warum sollte man nicht trotzdem versuchen, auch bei einer negativen Zahl die Operation des Quadratwurzelziehens anzuwenden? Natürlich kann dies dann keinen wirklichen Wert ergeben, und man nennt doch auch deswegen das Resultat nur ein imaginäres. Es ist so, wie wenn man sagen würde: hier saß sonst immer jemand, stellen wir ihm also auch heute einen Stuhl hin; und selbst, wenn er inzwischen gestorben wäre, so tun wir doch, als ob er käme.»

«Wie kann man aber, wenn man bestimmt, ganz mathematisch bestimmt weiß, daß es unmöglich ist?»

«So tut man eben trotzdem, als ob dem nicht so wäre. Es wird 'wohl irgendeinen Erfolg haben. Was ist es denn schließlich anderes mit den irrationalen Zahlen? Eine Division, die nie zu Ende kommt, ein Bruch, dessen Wert nie und nie und nie herauskommt, wenn du auch noch so lange rechnest? Und was kannst du dir darunter denken, daß sich parallele Linien im Unendlichen schneiden sollen? Ich glaube, wenn man allzu gewissenhaft wäre, so gäbe es keine Mathematik.»

«Darin hast du recht. Wenn man es sich so vorstellt, ist es eigenartig genug. Aber das Merkwürdige ist ja gerade, daß man trotzdem mit solchen imaginären oder sonstwie unmöglichen Werten ganz wirklich rechnen kann und zum Schlusse ein greifbares Resultat vorhanden ist!»

«Nun, die imaginären Faktoren müssen sich zu diesem Zwecke im Laufe der Rechnung gegenseitig aufheben.»

«Ja, ja; alles, was du sagst, weiß ich auch. Aber bleibt nicht trotzdem etwas ganz Sonderbares an der Sache haften? Wie soll ich das ausdrücken? Denk doch nur einmal so daran: In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung etwas Schwindliges; als ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich Unheimliche ist mir aber die Kraft, die in solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig landet.» - Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg 1965 (zuerst 1906)

Brücke (9)

Durch bloßen Zufall, wie sich oft begeben,
Ward Roland an den großen Fluß gebracht,
Wo Rodomont das Bauwerk ließ erheben,
Wie ich gesagt; allein noch nicht vollbracht
War Turm und Grabmal, nur der Steg soeben.
Der Heide war in voller Waffentracht
Um diese Zeit, den Helm nur ausgenommen,
Als er den Roland sah zur Brücke kommen.

Der Graf, gejagt von seiner Tollheit Sturme,
Springt übern Schlagbaum auf die Brücke los.
Doch Rodomont, der vor dem großen Turme
Zu Fuße stand, droht ihm mit Worten bloß
Und zorn'gem Blick; denn bei so schlechtem Wurme
Sein Schwert zu brauchen, dünkt er sich zu groß. »
Du Schlingel«, ruft er, »du vermaledeiter,
Tollkühner, frecher Tölpel, geh nicht weiter!

Die Brück' ist nur bestimmt den Herrn und Rittern,
Und nicht für dich, du ungeschlachtes Tier!«
Allein der Graf scheint nichts davon zu wittern,
Und vorwärts rennt er immer, starr und stier.
»Ich muß dem Narren doch die Lust verbittern«,
Spricht Rodomont und kommt heran, voll Gier,
Ihn gleich hinabzuwerfen in die Fluten,
Ohn' einen Widerstand nur zu vermuten.

Um übern Steg zu gehen, kommt indessen
Ein holdes Fräulein hier am Ufer an,
Schön von Gesicht, vorsichtig, abgemessen
In allem Tun, und zierlich angetan.
Die war es, Herr, wenn Ihr sie nicht vergessen,
Die lange schon auf jeder andern Bahn
Den teuern Brandimart zu suchen eilte,
Nur in Paris nicht, wo er eben weilte.

Als Fleurdelys nunmehr sich naht der Brücke
(Denn dieser holde Nam' ist ihr verliehn),
Kämpft Roland mit dem Heiden, der voll Tücke
Sich jetzt bemüht, ihn in den Fluß zu ziehn.
Das Fräulein hielt auf Roland große Stücke
Und kannt' ihn gleich, sobald er ihr erschien.
Sie blieb erstaunt ob seiner Tollheit Größe,
Die so umher ihn treibt in nackter Blöße.

Still hält sie, um zu sehn, wie sich entscheide
Der beiden so gewalt'gen Männer Wut.
Das größte Maß an Kraft gebrauchen beide,
Um ihren Feind zu stürzen in die Flut.
»Wie ist es möglich«, murrt der wilde Heide,
»Daß ein Verrückter solche Wunder tut?«
Und schiebt und dreht sich, ohn' ans Ziel zu kommen.
Von Bosheit, Stolz und heißem Zorn entglommen.

Wie's eben besser scheint, packt jetzt die eine,
Und jetzt die andre Faust ihn mit Gewalt.
Jetzt stellt sich vor, schiebt zwischen Rolands Beine
Bald sich der rechte Fuß, der linke bald.
Der Mohr, den Grafen rüttelnd, war, ich meine,
Dem Bären gleich, der einen Baum im Wald,
Von dem er fiel, anpackt mit seinen Krallen
Und so ihn haßt, als sei er schuld am Fallen.

Graf Roland nun, dem der Verstand entsprungen -
Weiß nicht, wohin -, gebraucht die Kraft allein,
Die ungeheure Kraft, noch nie bezwungen,
Der keine je sich rühmte, gleich zu sein;
Und mit dem Heiden, den er fest umschlungen,
Wirft er sich rücklings in den Fluß hinein.
Sie sinken in des Wassers tiefste Grüfte;
Auf spritzt die Flut, es dröhnen rings die Klüfte.

Das Wasser trennt alsbald die beiden Streiter.
Der Graf, ganz nackt, schwimmt wie ein Fisch so gut,
Regt Arm' und Füße, wohlgemut und heiter,
Und kommt ans Land. Kaum ist er aus der Flut,
So läuft er fort und kümmert sich nicht weiter,
Ob einer lobt, ob tadelt, was er tut.

 -  (rol)

Brücke (10) Schon im Zoroastrismus ist von einem Endgericht und von einem Feuerbad die Rede, das von den guten Menschen wie Milch und Honig empfunden wird, aber von den schlechten Menschen wie heißes Metall. Die Seele hielt sich für drei Tage in der Nähe der Toten auf und wurde dann über eine Brücke von drei Göttern zur Chinvat-Brücke am Gipfel des Berges Alburz gebracht. An der Brücke lauerten verschiedene Dämonen, unter ihnen Indra und Mithras. Gemeinsam mit Sraosha begutachteten sie die Waage, die die Taten der Toten wog. Die Guten konnten über einen breiten Lichtpfad in den Himmel gelangen, während die Bösen in eine Übergangszone kamen. Sie wurden in einen Abgrund geworfen und dort von Dämonen in die Hölle gehetzt, ein dunkles, überfülltes zeitloses Reich mit fauligem Gestank. - wikipedia

Brücke (11)  Es träumte einer, er sei zu einer Brücke geworden. Der Betreffende wurde Fährmann; denn als solcher erfüllte er denselben Zweck wie eine Brücke. So lautet der Fall, den Phoibos berichtet; andererseits wurde ein Reicher, dem es träumte, er sei zu einer Brücke geworden, von der großen Menge verachtet und gewissermaßen mit Füßen getreten. Angenommen, eine Frau oder ein hübscher junger Mann sähen dieses Traumgesicht, so werden beide sich der lockeren Zunft verschreiben und viele über sich gehen lassen. Und ein Prozessierender wird nach diesem Traumerlebnis seine Feinde und selbst den Richter übertrumpfen; denn ein Fluß gleicht dem Richter, weil er, ohne Rechenschaft schuldig zu sein, seinen Willen durchsetzt, die Brücke aber schwebt hoch über dem Fluß.  - (art)

Brücke (12)

- Piranesi

Brücke (13)  Die Höhle, die wir durchschritten hatten, endete  in einem höchst merkwürdigen riesigen Felsvorsprung, der etwa fünfzig Fuß weit in die Schlucht hineinragte und dessen Form dem Sporn am Fuße eines Hahnes ähnelte. Dieser ungeheure Sporn war nur an seiner Basis mit dem Felsgestein verbunden, ansonsten jedoch ohne jede Stütze.

»Hier müssen wir hinüber«, sagte Ayescha. »Seht euch vor, daß ihr nicht schwindlig werdet oder der Sturm euch in die Schlucht hinabreißt, denn sie ist wahrlich bodenlos«, und ohne uns länger Zeit zu furchtsamen Überlegungen zu lassen, stieg sie den Sporn hinan, und wir folgten ihr, so gut wir konnten. Ich ging hinter ihr, dann folgte Job, mühsam seine Planke schleppend, und Leo bildete die Nachhut. Es war wunderbar anzusehen, wie diese unerschrockene Frau ohne Zagen den gefährlichen Weg erklomm. Ich selbst sah mich nach wenigen Schritten infolge des starken Luftzuges und aus Furcht vor einem Fehltritt veranlaßt, mich auf Hände und Knie niederzulassen und weiterzukriechen, und die beiden anderen taten es mir nach.

Ayescha hingegen schritt, ihren Körper den Windstößen entgegenstemmend, aufrecht weiter und schien nicht einen Augenblick die Ruhe oder das Gleichgewicht zu verlieren.

Als wir nach einigen Minuten etwa zwanzig Schritte auf dieser schrecklichen Brücke, die immer schmaler wurde, hinter uns gebracht hatten, fegte plötzlich ein starker Windstoß durch die Schlucht. Ich sah, wie Ayescha sich dagegen warf, doch die Bö fuhr unter ihren schwarzen Mantel und riß ihn ihr herunter, so daß er wie ein verwundeter Vogel in die Schlucht hinunterflatterte und im Dunkel verschwand. Ich klammerte mich fest an den Felsen, und um mich blickend spürte ich, wie der große Sporn gleich einem lebendigen Wesen mit einem dröhnenden Geräusch erzitterte. Es war ein schauriger Anblick, der sich uns bot, so im Dunkel zwischen Himmel und Erde schwebend: unter uns Hunderte und aber Hunderte Fuß gähnender Leere, allmählich immer dunkler werdend und schließlich in absoluter Schwärze endend, so daß die Tiefe sich nicht abschätzen ließ — über uns, ansteigend zu schwindelnder Höhe, der Fels, und weit, weit in der Ferne ein Streifen blauen Himmels. Und in die ungeheure Schlucht hinab fuhr brausend und brüllend der Sturm und trieb Wolken und Nebelfetzen vor sich her, bis wir fast blind und zutiefst verwirrt waren.

Unsere Lage war so entsetzlich und so unwirklich, daß sie uns anscheinend unsere Angst nahezu vergessen ließ, doch bis zum heutigen Tage tritt sie mir im Traum oft vor die Augen, und dann erwache ich in kalten Schweiß gebadet.

»Voran! Voran!« rief die weißgekleidete Gestalt vor uns, denn nun, da der Mantel ihr entrissen worden war, trug ›Sie‹ nur noch ihr weißes Gewand, in dem sie mehr einer Windsbraut als einem Weibe glich. »Voran, oder ihr stürzt ab und zerschellt in Stücke. Blickt fest auf den Boden und klammert euch mit aller Kraft an den Felsen.«

Wir gehorchten und krochen mühsam den zitternden, sturmumtosten Pfad entlang. Wie lange es so weiterging, vermag ich nicht zu sagen; nur hin und wieder, wenn es unbedingt nötig war, wagten wir um uns zu blicken, doch endlich sahen wir, daß wir uns auf der äußersten Spitze des Sporns befanden, einer Felsplatte, wenig größer als ein Tisch, die wie ein Schiff auf und nieder schwankte.  - Henry Rider Haggard, Sie. Zürich 1970 (zuerst ca. 1886)

Brücke (14)  Sie kamen  an einen kleinen Bach, und da keine Brücke oder Steg da war, so wußten sie nicht, wie sie hinüberkommen sollten. Der Strohhalm fand guten Rat und sprach: ›Ich will mich querüber legen, so könnt ihr auf mir wie auf einer Brücke hinübergehen.‹ Der Strohhalm streckte sich also von einem Ufer zum andern, und die Kohle, die von hitziger Natur war, trippelte ganz keck über die neugebaute Brücke. Als sie aber in die Mitte gekommen war und unter ihr das Wasser rauschen hörte, ward ihr doch angst: sie blieb stehen und getraute sich nicht weiter. Der Strohhalm aber fing an zu brennen, zerbrach in zwei Stücke und fiel in den Bach: die Kohle rutschte nach, zischte, wie sie ins Wasser kam, und gab den Geist auf. Die Bohne, die vorsichtigerweise noch auf dem Ufer zurückgeblieben war, mußte über die Geschichte lachen, konnte nicht aufhören und lachte so gewaltig, daß sie zerplatzte. Nun war es ebenfalls um sie geschehen, wenn nicht zu gutem Glück ein Schneider, der auf der Wanderschaft war, sich an dem Bach ausgeruht hätte. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so holte er Nadel und Zwirn heraus und nähte sie zusammen. Die Bohne bedankte sich bei ihm aufs schönste, aber da er schwarzen Zwirn gebraucht hatte, so haben seit der Zeit alle Bohnen eine schwarze Naht. - (grim)

Brücke (15)  

- Josef Hoflehner

Brücke (16)

Brücke (17) Eine Brücke in North Carolina, in der Nähe der Grenze von Tennessee. Man kommt aus den üppigen Tabakfeldern heraus: überall niedrige Hütten und der Rauch brennenden frischen Holzes. Der Tag verstreicht in einem dichten Meer wogenden Grüns. Kaum ein Mensch in Sicht. Dann plötzlich eine Lichtung, und ich stehe vor einer tiefen Schlucht, üben die sich eine gebrechliche Holzbrücke spannt. Hier ist das Enda der Welt! Wie in Gottes Namen ich herkam und warum ich hien bin, weiß ich nicht. Wie komme ich an etwas zu essen? Selbsfl wenn ich die denkbar üppigste Mahlzeit verzehren würde, bliebe ich doch traurig, schrecklich traurig. Ich weiß nicht, wo ich von hier aus hingehen soll. Diese Brücke ist das Ende, mein eigenes und das der mir bekannten Welt. Diese Brücke ist Wahnsinn: es gibt keinen Grund, warum sie da stehen, und keinen, warum die Menschen sie überqueren sollten. Ich weigere mich, noch einen Schritt zu gehen, scheue davor zurück, diese verrückte Brücke zu überqueren. Unweit von ihr ist eine niedrige Mauer, an die ich mich lehne, um angestrengt darüber nachzudenken, was ich tun und wohin ich gehen soll. Ich werde mir in aller Ruhe bewußt, was für ein schrecklich zivilisierter Mensch ich bin, wie ich Leute brauche, mit denen ich sprechen kann, wie ich von Unterhaltung, Büchern, Theater, Musik, Kaffeehäusern, Alkohol und so weiter abhängig bin. Es ist schrecklich, zivilisiert zu sein: wenn man ans Ende der Welt kommt, hat man nichts, was einem den Schrecken der Einsamkeit ertragen hilft. Zivilisiert sein, heißt komplizierte Bedürfnisse haben. Und ein ausgewachsener Mensch sollte nichts brauchen. Den ganzen Tag war ich durch Tabakfelder gewandert und immer unsicherer geworden. Was habe ich mit all diesem Tabak zu schaffen? Wohin steuere ich? Überall bestellen Menschen die Felder, produzieren Güter für andere Menschen - ich dagegen geistere wie ein Gespenst durch all diese unverständliche Geschäftigkeit. Ich möchte irgendeine Arbeit finden, aber ich möchte an dem infernalischen automatischen Prozeß nicht teilnehmen. Ich komme durch eine Stadt und sehe mir die Zeitung an, die von den Geschehnissen in dieser Stadt und ihrer Umgebung berichtet. Mir will scheinen, daß sich nichts zuträgt, daß die Uhr stillsteht, aber diese armen Teufel es nicht merken. Außerdem habe Ich das deutliche Gefühl, daß Mord in der Luft liegt. Ich kann ihn förmlich wittern. Vor ein paar Tagen habe ich die imaginäre Grenze überschritten, die den Norden vom Süden trennt.  - (wendek)

Brücke (18) Sie trug einen Mantel mit Pelzbesatz an den Handgelenken und am unteren Rand sowie einen Glockenhut mit einem Schleier und einer Rose; sie war nicht nur elegant gekleidet, sondern, wie ich sogleich erkannte, auch jung und wohlgefällig. Während ich sie von der Seite betrachtete, riß sie plötzlich die Augen auf, fuhr sich mit der behandschuhten Hand zum Munde, der sich zu einem Schrei des Entsetzens verzerrte, und sank hintenüber. Sie wäre gewiß zu Boden gefallen und von der gleich einer Elefantenherde vorwärtsdrängenden Menge zertrampelt worden, hätte ich sie nicht rechtzeitig aufgefangen.

»Ist Ihnen nicht gut?« frage ich. »Lehnen Sie sich doch einfach an mich. Es wird schon vorübergehen.«

Sie war erstarrt, zu keiner Bewegung mehr fähig.

»Die Leere, die Leere, da unten ...«, stammelt sie. »Hilfe, mir wird schwindlig ...«

Nichts, was man sah, schien ein Schwindelgefühl zu rechtfertigen, doch die Frau war offenbar wirklich in Panik.

»Schauen Sie nicht hinunter und halten Sie sich an meinem Arm. Gehen Sie langsam hinter den anderen her, wir sind gleich am Ende der Brücke«, sage ich in der Hoffnung, daß dies die richtigen Argumente sind, um sie zu beruhigen.

Darauf sie: »Ich spüre, wie all diese Schritte sich ablösen von den Stufen und weiterschreiten ins Leere, um in den Abgrund zu stürzen ... eine stürzende Menge ...«, und sträubt sich weiter.

Ich blicke hinunter, schaue durch die Lücken zwischen den eisernen Stufen auf die farblose Strömung des Flusses, sehe die Eisschollen auf ihm treiben wie kleine Wolken am Himmel, und in einem plötzlichen Schwindelanfall meine ich gleichfalls zu spüren, was sie verspürt: daß jede Leere ins Leere führt, daß unter jedem Abhang, und sei er auch noch so gering, ein neuer Abhang sich auftut, daß jede Schlucht in den endlosen Abgrund mündet, ins Nichts ... Ich lege den Arm um ihre Schultern, ich stemme mich gegen die Nachdrängenden, die zu schimpfen beginnen: »He, ihr da! Geht weiter! Umarmt euch woanders! So eine Schamlosigkeit!« - doch die einzige Art und Weise, der uns erfassenden Menschenlawine zu entgehen, wäre abzuheben, hinauszuschreiten ins Leere, zu fliegen ... Wahrhaftig, nun ist auch mir auf einmal, als schwebte ich über dem Rand eines Abgrunds ...  - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

Brücke (19) Der Obstgarten, den Vato und Blood suchten, lag auf der anderen Seite von Shade Creek, was bedeutete, daß sie die übliche schwierige Route über die Ruine der alten Brücke aus den dreißiger Jahren nehmen mußten, bei der mysteriöserweise immer mindestens eine Spur befahrbar war. Gelegentlich verschwanden über Nacht ganze Segmente, als wären sie auf Pontons den Fluß hinunter davongeschwommen, und schon vorher mußte man Umwege machen und sich dabei oft an Hinweisen orientieren, die ungelenk auf Mauern und alte Sperrholzschalungen gesprüht waren, in denselben kantigen Buchstaben wie die Graffiti von Straßenbanden. An der Brücke arbeiteten rund um die Uhr Reparaturtrupps. Heute mußten Vato und Blood warten, bis sich ein hoch mit Betontrümmern und verrosteten Stahlarmierungen beladener Lastwagen im Vorwärts- und Rückwärtsgang einen Weg abseits der Straße gebahnt hatte. Gestalten in Arbeitskleidung und manchmal mit Helmen waren zu sehen, immer in kleinen Gruppen, möglicherweise Pioniere, aber das wußte niemand so genau. Sie kümmerten sich nicht um den Verkehr, gaben nicht einmal Flaggensignale. Wer die Brücke überqueren wollte, mußte selbst entscheiden, wie sicher das war. Blood ließ den Wagen Zentimeter um Zentimeter vorwärts kriechen, vorbei an großen, dreieckigen Löchern im Asphalt, durch die man das grobmaschige Muster der Armierungen und darunter den nachtblauen Fluß sehen konnte. Seit dem Sturm von 1964, als die Flutwelle des Seventh einen Teil der Brücke weggerissen hatte, wurde hier gearbeitet. In all den Jahren hatte sich ihre schartige Silhouette gegen den Himmel abgezeichnet.   - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Brücke (20)  Kennzeichen quantenmechanischer Phänomene sind „Quantenzahlen", die immer ganze Zahlen sind. Wenn solche ganzen Zahlen klein sind - kleiner als 5 etwa -, dann handelt es sich in der Quintessenz um Quantenphänomene. Aber wenn recht große Werte wie etwa 20 in die Gleichungen gestopft werden, kommt ein Verhalten heraus, das mitten zwischen Quantenstil und klassischem Stil schwimmt. Und wenn gar unendlich große Werte ins Spiel kommen, sollten eigentlich die vertrauten alten Gleichungen aus der präquantenmechanischen Ära wiederkehren: beispielsweise Newtons Bewegungsgesetz.

Ein bemerkenswertes Beispiel für diese Idee liefern die sogenannten „Rydberg-Atome", Atome in hohem Erregungszustand, deren äußerste Elektronen sehr große Quantenzahlen haben, und die folglich an ihren zentralen Atomkern so locker angebunden sind, daß ihre Umlaufbahnen langsam etwas weniger „wolkig" sind (d.h. weniger quantenmechanisch) und eher den vertrauten Planetenbahnen gleichen, denen Elektronen gewöhnlich in der kurzzeitigen „semiklassischen" Epoche der Physik folgten, also in der Zeit nach der Entdeckung der Atomkerne durch Ernest Rutherford, aber noch vor Schrödinger und Heisenberg. Diese Brücken, die die außerordentlich fremdartige Welt mit der, die uns so vertraut ist, verbinden, verhelfen zu den Intuitionen, die makroskopische Leute brauchen, um sich vorstellen zu können, wie etwa ein gewaltiger Grüner Riese aus dunklen, unauslotbaren Mikrotiefen auftauchen könnte.  - Douglas R. Hofstadter, Metamagicum. Stuttgart 1991

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