Schwindel (2)  Vom Schwindel. Ein Mensch, der sich ohne die Lehrunterweisung Vorgesetzter und ohne Not rein nach seinem Belieben häufig mit sehr vielen und verschiedenartigen Gedanken beschäftigt, der benimmt seinen Säften den richtigen Lauf, und so wird er zuweilen übereilt, dann wieder säumig und ohne rechte Ordnung sein. Daher wird der Kopf eines solchen Menschen zum Schwindel verdreht, so daß Wissen und richtiges Gefühl von ihm schwinden.

Vom Wahnsinn. Und kommen all diese Seuchen zusammen, so daß sie zumal im Haupte eines Menschen wüten, so führen sie einen solchen Menschen zum Wahnsinn, verdrehen ihn und machen ihn leer von richtiger Einsicht, wie ein Schiff, das vom Sturme umhergeworfen wird, zerbricht. Daher glauben viele, ein solcher Mensch wäre vom Teufel besessen, auch wenn es nicht der Fall ist. Die Dämonen eilen vielmehr zu dieser Seuche und zu diesem Schmerze hinzu ... Aber selbst können sie dort keine Worte hervorstoßen, weil dieser Mensch nicht vom Teufel besessen ist. Wenn der Teufel durch Gottes Zulassung selbst in einem Menschen Worte hervorbringen kann, so übt er an dem Orte des Heiligen Geistes so lange seinen Raub mit Worten und Rasen aus, bis er vom Himmel vertrieben wird. - (bin)

Schwindel (2) (2)   Ich habe viele Zweifel an vielen Dingen, aber ich bin sicher, daß die Schwindelanfälle, unter denen ich seit einiger Zeit leide, nicht von meinem niedrigen Blutdruck herrühren. Ich hatte immer einen niedrigen Blutdruck, von Geburt an, und habe nie unter Schwindelanfällen gelitten. Der Arzt beharrt auf dem Blutdruck, und ich habe mich damit abgefunden, dreimal täglich zehn Tropfen Sympatol einzunehmen, aber es ist reine Heuchelei, sowohl dem Arzt als auch mir selbst gegenüber. In Wirklichkeit handelt es sich gar nicht um Schwindelanfälle im üblichen Sinn des Wortes. Der Unterschied besteht darin, daß man bei einem klassischen Schwindelanfall den Eindruck hat, sich um sich selbst zu drehen, und die Erde sich in entgegengesetztem Sinn drehen sieht. Ich dagegen habe den Eindruck, daß ich mich mit der Erde zusammen drehe, daß heißt völlig synchron mit der Erdbewegung, ja sogar mit beiden Bewegungen, mit der Rotation der Erde um ihre eigene Achse und mit ihrem Kreisen um die Sonne. Zwar bewegen sich alle Menschen synchron mit dem Planeten, auf dem sie geboren sind, aber der Unterschied ist: Ich spüre, daß ich mich mit der Erde zusammen bewege, während die anderen es nicht merken. Bis vor einigen Monaten habe auch ich es nicht gemerkt. Dann begannen diese seltsamen Schwindelanfälle oder, besser gesagt, diese leichten Verwirrtheitszustände, dieses Gefühl geringfügiger Gleichgewichtsstörungen, sehr ähnlich dem, was man auf einem Schiff oder im Flugzeug spürt. Meiner Ansicht nach handelt es sich weniger um eine wirkliche Störung, als um ein Gefühl, zusammen mit der Erde durch den Weltraum zu segeln. Im Unterschied zu jemandem, der unter normalen Schwindelanfällen leidet, verstärkt sich bei mir, wenn ich mich hinlege und die Augen schließe, die Wahrnehmung der Geschwindigkeit, und ich versuche dann, mich an etwas Festes zu halten, ich suche einen Anhaltspunkt. Aber der Anhaltspunkt gehört immer zur Erde, während ich mich an etwas außerhalb der Erde klammern müßte, und das ist, wie ich sehr wohl weiß, nicht möglich. Dieses Gefühl ist nicht immer den ganzen Tag über gleich intensiv, in manchen Momenten verstärkt es sich und wird fast unerträglich, in anderen Momenten schwächt es sich ab, und dann lasse ich mich zusammen mit meinem Planeten im Raum treiben und empfinde geradezu ein gewisses Vergnügen, eine gewisse Freude.

Jeder hat schon einmal das Gefühl von Leere im Magen gespürt beim Abwärtsfahren in der Achterbahn, ich bin auch schon die berühmte Abfahrt im Lunapark von Coney Island hinuntergefahren, und ich habe die Luftlöcher gespürt, in die manchmal Flugzeuge hineingeraten, wenn sie die Alpen oder andere Gebirgsketten überfliegen. Genau so ist es, in den schlimmsten Augenblicken habe ich das gleiche Gefühl wie in der Achterbahn oder in den Luftlöchern, aber stundenlang, ununterbrochen. Manchmal glaube ich sogar ein fernes Sausen zu hören, das Sausen unseres Planeten, der mit irrsinniger Geschwindigkeit durch die Leere zwischen den Sternen rast. Aber das ist noch nicht alles. Ich betrachte den Himmel, und mein Blick geht über die Wolken, über den blauen Himmel hinaus und schweift durch die unendlichen Räume, in denen sich in einem schrecklichen Wirbel zusammen mit der Erde die anderen Planeten, die Sterne und eine Myriade von sogenannten Himmelskörpern bewegen. Diese Körper sind durchaus nicht himmlisch, sie sind schwarz und bewegen sich im Dunkeln.

Ich weiß, es mag seltsam erscheinen und nur wenige werden mich verstehen, aber ich habe das Gefühl, daß die Erde einfach so dahintreibt, auf einer völlig zufälligen Bahn, daß also ihr Lauf von niemandem gelenkt wird und daß nur der Zufall sie bis heute davor bewahrt hat, an einem Stern oder einem anderen Planeten zu zerschellen. - (ma3)

Schwindel (2) (3) Auf einmal schwingt das Bett nach rechts weg und ich werde so schnell auf die Seite geworfen, daß es mir schier den Atem nimmt. Jeder Halt ist mir entglitten, und als ich - wacher jetzt - dagegen ankämpfe und mich auf den Rücken drehe, während ich vorher auf der rechten Seite lag, schwingt nun die Zimmerdecke nach links. Es bedarf einer gewissen Anstrengung meiner Augen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, und die Decke schwankt mehrere Male, bevor es mir gelungen ist, sie wieder ins Lot zu rücken, so etwa wie ein Fahrer, dessen Wagen ins Schleudern kommt, ihn auffängt, ohne gleich auf Anhieb die rechte Richtung wiederzufinden.

Ich bin weder trunken oder irgendeinem Rauschmittel verfallen, noch Opfer eines Erdbebens, sondern hatte gerade das, was man gewöhnlich einen Schwindelanfall nennt, ein Unwohlsein. - (leiris2)

Schwindel (2) (4)  Auf der Beerdigung wird dem Sprecher schwindlig. Jemand bringt die Frage der Maden auf. Er schauert. Das Gefühl treibt ihm die Blässe ins Gesicht. Sein leuchtender Körper schwitzt, er zittert an allen Gliedern. Er murrt, stiert töricht und wird verrückt. Schäumend vor Wut erfindet er ein Blasenpflaster und verkauft es seinen Kunden. Die Leute munkeln über seine Aussprache. Er beharrt auf seiner Würde, läuft rot an und feuert ein Gewehr ab. Man verbannt ihn an die fernen Grenzen. Dort fühlt er sich niedergeschlagen und zieht sich ein Malariafieber zu, aber dann nimmt er seine Kräfte zusammen und schürt eine Rebellion. Die falschen Eide bekommen ihm blendend und für die Aussätzigen zeigt er Erbarmen. Am Geburtsort der Revolution steht die Wiege der Zivilisation.  - (liu)

Schwindel (2) (5)  »Schwindelgefühle gibt's überall«, sagt sie und nimmt den Revolver, den Valerian wieder zusammengesetzt hat. Sie öffnet ihn, schaut in den Lauf, wie um zu prüfen, ob er auch gut gereinigt ist, läßt die Trommel rotieren, schiebt eine Patrone in eins der Löcher, spannt den Hahn, läßt die Trommel erneut rotieren und hält sich die Waffe direkt vors Auge. »Sieht aus wie ein Schacht ohne Boden. Man hört den Lockruf des Nichts. Man ist versucht, sich hineinzustürzen, hinein in das lockende Dunkel...«

»He, he, mit Waffen spielt man nicht!« fahre ich hoch und strecke die Hand nach ihr aus. Da richtet sie den Revolver auf mich.

»Wieso nicht?« sagt sie. »Die Männer dürfen's, wir Frauen nicht? Die wahre Revolution kommt erst, wenn wir Frauen die Waffen haben.«

»Und die Männer unbewaffnet bleiben? Scheint dir das richtig, Genossin? Die Frauen bewaffnet? Wozu?«

»Um euren Platz einzunehmen. Wir oben, ihr unten. Um euch mal ein bißchen spüren zu lassen, wie man sich fühlt, wenn man Frau ist. Los, rühr dich, hopp, rüber zu deinem Freund!« befiehlt sie Valerian und hält die Waffe unverändert auf mich gerichtet.

»Irina kann sehr hartnäckig sein«, warnt mich Valerian.  - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

 

Gleichgewicht Drehen

 

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