rinnerung ist das, was sich abgesetzt und bereits eingefressen hat, die ganzen Jahre über mitgewachsen und eingekerbt, Jahresringe. Vergangenheit allein verliert an Interesse, zumal es sich nicht vermeiden läßt, daß sie zumeist irreführend akzentuiert wird. Das zeigt sich in besonders eindringlicher Form in der Geschichte der Menschen als einer der bekannteren Lebensstufen unter tausend ähnlichen Entwicklungsphasen, Jeder weiß, wie verwirrend das sein kann, denn der Mensch steht nicht an der Spitze der Lebewesen.
Was zählt, ist das, was — wenngleich noch so entfernt — Gegenwart
geblieben ist. Was sich in eine neue Gegenwart zurückrufen läßt, bunter
und ständigem Wechsel unterworfen. Das was mißverstanden worden ist oder
überhaupt nicht verstanden. Das was so weh getan hat und jetzt plötzlich
explodiert in einer Hochspannung von Glück. Eine
neue Gegenwart, tiefer verwurzelt in der Vorstellungswelt alles Lebenden,
die in unser Dasein hinein die Zukunft spiegelt.
- Franz Jung, Der Weg nach unten. In: Franz Jung, Schriften,
Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981
Erinnerung (2) »Ich habe hundert und aber hundert Regenzeiten gesehen. Breit schon war meine Spur im Sande, ehe noch Hathi die Milchzähne abwarf. Bei dem Ur-Ei - älter bin ich als viele Bäume, gesehen habe ich alles, was in der Dschungel geschah.«
»Dies aber ist neue Jagd«, sagte Mowgli. »Nie zuvor kreuzte der Dhole unsere Fährte.«
»Was ist - war schon. Was sein wird, ist nicht mehr als ein vergessenes Jahr, das zurückkommt. Liege still, indes ich zähle diese meine Jahre.«
Wohl eine Stunde lag Mowgli zwischen den Ringen, während Kaa, den Kopf reglos am Boden, alles überdachte, was er gesehen und gekannt seit dem Tage, da er aus dem Ei gekrochen war. Das Licht in seinen Augen schien zu erlöschen, daß sie nur noch wie matte Opale schimmerten. Dann und wann machte er kurze, steife Stöße mit dem Kopf, nach rechts und links, als jage er im Traum. Mowgli war leicht eingeschlummert, denn wohl wußte er, daß nichts so wichtig war vor dem Jagen als Schlaf, und er vermochte ihn in jeder Stunde bei Tag und bei Nacht zu finden.
Dann fühlte er, wie Kaas Leib unter ihm größer und breiter wurde. Der gewaltige Python blies sich auf und zischte dabei mit einem Geräusch, als ob ein Schwert aus stählerner Scheide führe.
»Die toten Jahreszeiten habe ich alle erschaut«, hub Kaa endlich zu reden an, »die riesigen Bäume, die alten Elefanten und die Felsen, die kahl lagen und scharfkantig, ehe Moos sie bedeckte. Lebst du noch, Mannling?«
»Eben erst in der Mond untergegangen, ich verstehe nicht -«
»Sss! Kaa bin ich wieder, ich wußte - kurz nur war die Zeit. Zum Strom
nun wollen wir gehen, und ich werde dir weisen, was gegen die Dholen getan
werden muß.« - Rudyard Kipling, Das neue Dschungelbuch
Erinnerung (3) Oswi'ecim, Polen - Knapp drei Jahrzehnte nach der Schließung des Konzentrationslagers Auschwitz scheint das Entsetzen, das diesem Ort anhaftet, durch Souvenirkioske, Pepsi-Cola-Reklame und Touristenrummel abgeschwächt. Trotz des frostigen Herbstregens kommen täglich Tausende von Polen und eine kleine Anzahl Ausländer nach Auschwitz. Die meisten sind modisch gekleidet und offensichtlich zu jung, um sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern zu können.
Sie ziehen in Scharen durch die einstigen Gefangenenbaracken, Gaskammern
und Krematorien, betrachten interessiert solch entsetzliche Ausstellungsstücke
wie die in einem riesigen Schaukasten aufbewahrten Reste von Menschenhaar,
das die SS zur Herstellung von Stoffen verwandte . . . An den Souvenirkiosken
können die Besucher Anstecknadeln mit polnischer und deutscher Aufschrift
kaufen, Ansichtskarten von den Gaskammern und Krematorien und sogar Auschwitz-Kugelschreiber,
die, wenn man sie gegen das Licht hält, ähnliche Bilder zeigen. -
Aus The New York Times, 3. November 1974 (»At Auschwitz. A Discordant Atmosphere
of Tourism«), nach: Susan Sontag, Über Fotografie. Frankfurt am Main 2003
(Fischer-Tb. 3022, zuerst 1977)
Erinnerung (4) Die Frauen
sind wie Maueranschläge in unserem Herzen. Um den
ersten zu verstecken, wird ein zweiter darübergeklebt, der ihn vollständig
bedeckt. Vielleicht siehst du, solange der Kleister noch weich und das
Papier noch feucht ist, die Farben des ersten vage durchschimmern. Aber
bald ist auch keine Spur davon mehr sichtbar. Wird alsdann der zuletzt
befestigte losgelöst, so werden alle beide gleichzeitig entfernt, und die
Erinnerung und das Herz bleiben kahl zurück wie eine Mauer. - Pitigrilli,
Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12225, zuerst 1922)
Erinnerung (5) Es war am 28. 29. 30ten
November 1790 da ich mich auf den Namen des Obristen Pritzelwitz
besann. Ich stelle dergleichen Übungen oft an, allein nie hätte ich in
meinem Leben geglaubt, daß ich ihn finden würde, denn ich riet sogar auf
du Val, wovon der Grund war, daß der gleichzeitige Major Villars hieß,
kurz ich verzweifelte gänzlich, allein nach dreitägiger oft wiederholter
Vorstellung von der Figur und Miene des Mannes fand ich den Namen endlich
am 1ten Dezember morgens, als ich im Bette
lag, und zugleich mit dem Namen fand ich auch,
daß er Obrist gewesen war, vorher dachte ich immer auf den Obrist-Leutnant.
Er war im März 1775 plötzlich gestorben, und ich hatte in den 17 Jahren
wenig an ihn gedacht. - (
licht
)
Erinnerung (6)
J'AIME le Souvenir de ces époques nues, |
ICH LIEBE die Erinnerung an jene nackten Zeiten, deren Marmorbilder Phöbus gern vergoldete. Behende beide, Mann und Weib ergaben der Lust sich ohne Lüge, ohne Angst, und während der Himmel ihnen verliebt das Rückgrat streichelte, erfreuten sie sich der Gesundheit ihrer edlen Glieder. Der Kybele, an reichen Gaben fruchtbar, waren ihre Söhne damals keine zu schwere Last; nein, eine Wölfin, deren Herz für alle von Zärtlichkeiten überfloß, tränkte sie die Welt aus ihren braunen Zitzen. Der Mann, voll Anmut, Kraft und Stärke, war mit Recht auf jene Schönen stolz, die ihn ihren König nannten; Früchte, von jedem Makel rein und ohne Schrunden, deren glattes und festes Fleisch hineinzubeißen lockte! |
|
|
Erinnerung (7)
Wie liebt ich dich so wild und so korrekt Wie wühlte ich in deinen Prachtkorsetten Nichts irdischer Kosmetik kann sich messen Ich möchte dich mit Himbeersaft begießen, An dich nur denk ich, wenn in meinem Bette |
-
Edgar Firn
,
Bibergeil
.
Pedantische
Liebeslied
er (1919)
Erinnerung (8) Wenn ich heute meine
Mutter und ihre Schwester höre, beide über siebzig, und nun wieder zusammengekommen,
nachdem eine jede ihren Mann überlebt hat - was erinnern die schon aus ihren
Mädchenjahren? Wie ein Wollstrumpf kratzte. Wo man am liebsten die Ferien verbrachte.
Aber da streiten sie sich schon, ob es bei dieser oder jener Tante war. Erzählen
tun sie nichts. Das Damals ist nicht ihr Lebensgrund. Die Erinnerungen erwischen
nur die vordersten Zipfel, nur das Band eines Wollstrumpfs - wo ein ganzer erotischer
Kontinent abgerutscht, versunken, unter Eis gepackt ist.- Botho Strauß, Paare, Passanten.
München 1984 (dtv 10250, zuerst 1981)
Erinnerung (9) Sie trug in ihrem Sinn die Umarmungen des Clodius, den sie immer nur als bartlosen, mädchenhaften Jungen vor sich sah. Sie dachte daran, wie er einstmals von Cilicischen Seeräubern gefangengenommen und sein schlanker Leib von ihnen mißbraucht worden war. Auch eine gewisse Kneipe, worin sie miteinander gewesen waren, kam ihr ins Gedächtnis. Der Giebel über dem Eingang war ganz mit Kohle beschmiert, die Männer, die da tranken, verbreiteten einen starken Geruch und hatten behaarte Brüste.
Es zog sie also wieder nach Rom. Sowie der Abend anbrach, trieb sie sich
an den Straßenecken herum und in den engsten Durchgängen. Die strahlende Unverschämtheit
ihrer Augen war sich gleich geblieben. Nichts konnte sie trüben, und Clodia
versuchte alles, sogar die Liebe im Regen und das Liegen im Kot. Von den Bädern
wandte sie sich zu den Schilderhäusern; die unterirdischen Räume, wo die Sklaven
würfelten, die gemeinen Hallen, wo sich die Kellner und die Kutscher betranken,
waren ihr vertraut. Zuletzt wartete sie auf den ersten besten, der auf dem römischen
Pflaster daherkam. Sie fand das Ende eines Morgens nach einer schwülen Nacht
durch die seltsame Umkehr einer Handlung, wie sie sie einst selbst ausgeübt
hatte. Ein Walkergesell hatte sie um einen Viertelgroschen gekauft; er
erspähte sie im Morgengrauen zwischen den Bäumen der Straße und erwürgte sie,
um ihr ihren Kupfer wieder abzunehmen. Dann warf er ihren Leichnam, mit den
immer noch weit offenen Augen, in den schmutziggelben Tiber. - Marcel Schwob, Der Roman der
zweiundzwanzig Lebensläufe. Nördlingen 1986 (Krater Bibliothek, zuerst 1896)
Erinnerung (10) im abgedunkelten
raum liegt dobyhal mit geschlossenen augen, sein steuerknüppelglied in der faust,
lenkt er die gedanken in das gestein der erinnerung, mit seinem brecheisenglied
den granit der verschütteten gänge wieder aufreissend, den peniskompass fest
in der faust, diesem untrüglichen magnetweiser in die richtung folgend, bildergeröll
beiseiteschiebend, stösst der zuckende presslufthammer durch das schleierhymen
einer widerstrebenden erinnerung und dobyhal kracht in die höhle eines dämmernden
raumes in dem zwei undeutliche mädchen über ihre näharbeiten gebeugt nun erstaunt
aufschauen, und er steht in diesem zimmer von gaby und adelaide 8 jähre früher
und er lässt den strahl seines stabtaschenlampengliedes über die konturen dieser
gefrorenen erinnerungskulisse huschen und da weiss er wieder, dass er mit gaby
das zimmer verlassen hatte und mit ihr ausgegangen war, sehr zum ärger von adelaide,
und dann kämpft er sich weiter durch fels und gestein immer auf der spur und
von einem zimmer ins andere bröckelnd, langsam einen gang aufbrechend, ein detektiv,
der sich an seinem einzigen anhaltspunkt, dem glied, langsam in das dunkel vorwärtstastet,
die nuggets des gesuchten aus dem tauben gestein der vergangenheit reissend,
die wie eine wand vor ihm starrt.
- Konrad Bayer, der sechste sinn. Roman. Reinbek bei Hamburg 1969
Erinnerung (11) »Wenn ich mich aufs Bett legte und versuchte, an sie zu denken, dann war mein Kopf plötzlich vollkommen leer. Ich konnte sie nicht sehen. Ich holte ihre Bilder hervor und betrachtete sie. Es nützte nichts. Völlige Leere. Kannst du dir so was vorstellen?«
»Heda, Mac!« rief Leo einem Mann weiter unten an der Bar zu. »Kannst du dir so was vorstellen? Der Dummbart hat nichts im Kopf!«
Langsam, als verscheuche er eine Fliege, fuhr die Hand des Mannes durch die Luft. Seine grünen Augen hefteten sich gespannt auf das flache kleine Gesicht des Zeitungsjungen.
»Doch plötzlich bei einer Glasscherbe auf dem Bürgersteig - oder bei einem Schlager aus einem Musikautomaten - oder bei einem Schatten des Nachts auf der Mauer: Da konnte ich mich an sie erinnern. Vielleicht geschah's auf der Straße; dann weinte ich oder schlug mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl. Verstehst du das?«
»Bei einem Stück Glas... ?« fragte der Junge.
»Bei allem möglichen. Ich schlenderte umher, und es stand nicht in meiner
Macht, wann und wie ich mich an sie erinnerte. Du meinst sicher, man könnte
sich mit einer Art Schild dagegen schützen. Aber die Erinnerung kommt nie von
vorne auf einen zu - sie kommt seitlich um die Ecke. Allem, was ich sah und
hörte, war ich gewissermaßen ausgeliefert. Anstatt daß ich die Gegend nach ihr
abjagte, begann sie mich plötzlich in meiner Seele herumzujagen. Sie jagte
mich, denk bloß an! Und in meiner Seele.« - Carson McCullers, Ein
Baum, ein Felsen, eine Wolke. Nach (
cmc
)
Erinnerung (12) »Ich erinnere einen
Menschen.« Das soll so verstanden sein wie die Worte lauten. Das heißt, in seinem
Leben hat eine kleine Verwachsung zwischen ihm und mir stattgefunden. Wenn es
so war: eine große Verwachsung. Und zu seinen Zeiten wird »ihm« ein Leben in
mir eingeräumt sein. Er wird er-innert. Vielleicht klingt ein Name, vielleicht
begegnet uns ein »Ähnlicher«, der den Keim des in uns Wohnenden wieder erweckt.
Vielleicht ist es ohnehin unsere Art gewesen, hin und wieder Dinge zu sehen
mit den Augen dessen, der mit in uns wohnte. Menschen können mit in uns wohnen.
Sie können zu jeder Zeit in uns wieder erwachen. So wird es für immer unmöglich,
zu wissen oder zu fragen, ob »der andere« als Anteil unseres physiologischen
Körpers erscheint oder ob er von einem Jenseits zu uns kommt. Es gäbe keinerlei
Mittel, den Unterschied zu erkennen, denn: Wen wir erlebt haben, der lebt weiter
mit uns, In uns. Er brauchte außer diesem verstreuten Dasein in vielen kein
irgendwo vereinsamtes Dasein. -
Ernst Fuhrmann, Vorwort zu (
fuhr
)
Erinnerung (13) Abends im Bett, bei strömendem Regen, kam mir die Person eines nahen, im vorigen Jahre verstorbenen Bekannten in den Sinn. Ich sah ihn in dieser und jener Situation — kleine, bezeichnende Eigenarten tauchten vor der lebhafter werdenden Erinnerung auf; er schien für einen Augenblick leibhaftig, ganz nahe erreichbar zu werden, bis plötzlich eine nüchterne Kontrolle die Tatsache seines Todes ins Gedächtnis rief. Dieser jähe Zusammenstoß des Lebendigen mit dem Toten erschütterte irgendwie das innere Gleichgewicht, und es war wohl das Bedürfnis nach völliger Klärung, das die Gedanken hinausriß in die dunkle, verregnete Ecke irgendeines Kirchhofes, sie die lockere Erde durchdringen und in den Sarg hineinspähen ließ. »Während ich hier im Warmen liege, liegst du dort, zur gleichen Zeit — sonderbar, daß ich so noch nicht gedacht habe an dich das ganze Jahr.«
Freilich ist das sonderbar, und noch sonderbarer, daß erst ein kleiner Unfall im Denken nötig war, um eine eigentlich so logische Vorstellung hervorzurufen.
Übrigens werde ich ganz erwachsener Mensch jedesmal, wenn ich in der Zeitung
von einer gerichtlichen Exhumierung lese, von einem unüberwindlichen Erstaunen
befallen — darüber, daß man dabei wirklich auf die Leiche
stößt. -
(ej)
Erinnerung (14) Der Regenwurmcharakter
mancher Erinnerungen: Je mehr man an ihnen zerrt, um
so heftiger entziehen sie sich (heftiger? nein: hartnäckiger, stetiger, gelassen
höhnischer), und wenn man nur einen Augenblick nachgreift, sind sie unwiederbringlich
(für die nächste, für eine gewisse Zeit, für immer unwiederbringlich) entschwunden.
Ist dies der Moment des Umschaltens vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis; ist
das »Sich-Entziehn« tatsächlich das Sich-Verflüchtigen, Sich-Auflösen, Sich-Zurückziehen
eines chemischen Stoffes, wie Physiologen behaupten? Es ist überhaupt erstaunlich,
wie oft die Sprache bestimmte Sachverhalte lange Zeit, ehe sie wissenschaftlich
bewältigt waren, exakt und zutreffend ausgedrückt hat. »Ich kann dich nicht
riechen«, das ist eine bedeutende psychologische Erkenntnis, und die Sprache
hat sie viel früher gewußt als die Wissenschaft - Franz Fühmann,
Drei Tage von zweiundzwanzig: Budapest. In: F. F., Den Katzenartigen wollten
wir verbrennen. München 1988 (zuerst 1973)
Erinnern (15)
Erinnern (16)
Wenn die Wildenten zur Flugzeit über das Land streichen, erzeugen sie sonderbare
Wirkungen. Die zahmen Enten versuchen ungeschickte Sprünge, geheimnisvoll angezogen
von dem großen Winkel, den der Schwärm da oben am Himmel bildet. Der wilde Schrei
hat in ihnen eine Spur von Wildheit erweckt. Für eine Minute werden die Bauernenten
wieder Zugvögel. In dem kleinen harten Vogelkopf, in dem nur bescheidene Bilder
von Teichen, Würmern und Geflügelhöfen lebten, entwickeln sich Weiten von Erdteilen,
Freude am freien Wind, an den Gestaltungen der Meere. Das Tier hatte vorher
keine Ahnung, daß in seinem Kopfe Raum für so viel Wunder war. Nun schlägt es
mit den Flügeln, verachtet die Körner und die Würmer und will eine Wildente
sein. - Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne.
Düsseldorf 1976 (zuerst 1939)
Erinnern (17)
Es war gewiß kein Zufall, überlegte Hawking, daß auch der psychologische
Zeitpfeil in unserem Geist Richtung Unordnung
zeigt und die Vergangenheit, aber nicht die Zukunft kennt oder erinnert. Es
kostet Energie, die als Wärme abgegeben wird, eine Erinnerung oder eine Information
zu speichern, gleichgültig ob in einem Gehirn oder auf einem Mikrochip. Die
dadurch verursachte Unordnung ist immer größer als die durch die Speicherung
hergestellte Ordnung. Der Preis der Erinnerung ist die Entropie; durch sie ist
die Vergangenheit als eine Zeit geringerer Unordnung definiert, wie es dem zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik entspricht. Die Unordnung wächst mit der Zeit, weil
wir die Zeit in Richtung der Unordnung messen. - Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München
1993
Erinnern (18) - Was meinen Sie damit?
- Daß er sich vergiftet hat.
- Verwechseln Sie das nicht mit der Geschichte von der Mimi?
- Vielleicht unterliegen Sie selbst diesem Irrtum?
- Was meinen Sie damit?
- Daß Ihre Erinnerungen, die die Mimi betreffen, Ihnen die Gerüchte ins Gedächtnis zurückrufen, die sich auf Alexandre Mortin beziehen ... anders ausgedrückt, daß Sie die Umstände beim Tod des einen mit denen beim Tod des ändern verwechseln.
- Na sowas, halten Sie mich für einen Lügner?
- Durchaus nicht, Herr Passavoine, durchaus nicht. Beruhigen Sie sich. Wir wissen, wie schwierig es ist, sich genau zu erinnern. Sie sind vollkommen entschuldigt, wenn Sie sich einmal irren sollten.
- Ich irre mich aber nicht, zum Teufel, die Mimi hat zu viele Tabletten gefressen, und Mortin ist an Krebs gestorben, weil er zu viel gesof ...
- Es ist merkwürdig, sehen Sie, daß die Gerüchte, die um Mortins Tod in Umlauf waren, gerade die sind, die Sie in Bezug auf diese Frau anführen.
- Bitte schön, Sie können ja den Gerüchten, wie Sie sagen, glauben und nicht mir. Dann brauchen Sie midi aber nicht erst zu fragen,
- Bitte, beruhigen Sie sich, Herr Passavoine. Pause Im Gegenteil, wir benötigen Ihre Angaben sogar dringend. Eben um festzustellen, daß diese Gerüchte falsch waren. Pause. Sie sind ganz sicher in Bezug auf das, was Sie über diese Mimi aussagten?
~ Daß sie mit Mortm verkehrte? Ja.
- Daß sie sich vergiftet hat.
- Zu viele Tabletten genommen, ja.
- Wissen Sie, ob dieser tragische Tod Herrn Mortin nahe gegangen ist? Erinnern Sie sich, daß er großen Kummer gezeigt oder sich irgendwie merkwürdig verhalten hat?
- Sie verkehrten schon lange nicht mehr zusammen, als sie starb. Pause. Und was das merkwürdige Verhalten angeht, so hat er das schon immer gehabt.
- Was meinen Sie damit?
- Er sagte einem heute das und morgen genau das Gegenteil. -
Robert Pinget, Monsieur Mortin. Frankfurt am Main 1966
|
|