renzüberschreitung
Man stelle sich die Geistesverfassung der drei Freunde vor,
als sie feststellen, daß die Pforte der Buttes-Chaumont geöffnet ist. Einer
von ihnen, Noll, ist nie an diesem Ort gewesen, zu dem er nach einem Tag übertriebener
Aufrichtigkeit, der Beunruhigung und des Verdrusses mitgenommen wird infolge
einer plötzlichen Erregung der Vorstellungskraft, zu der seine Freunde noch
beitragen durch ihr Reden über diesen Garten, von dem sie die große Selbstmörder-Brücke
in Erinnerung behalten haben, von der sich, bevor man sie mit einem Geländer
versah, selbst Passanten in den Tod stürzten, die dazu gar nicht entschlossen
gewesen waren, doch die der Abgrund plötzlich in Versuchung
führte; sie erinnern sich an das Belvedere, und es scheint unglaublich, daß
man nachts zum Belvedere gehen kann, sie erinnern sich an das Belvedere und
den See und an die unwahrscheinliche Mannigfaltigkeit dieser Anlagen von Tälern
und plätscherndem Wasser. Es ist neun Uhr fünfundzwanzig und ein dichter Nebel
hat sich über die ganze Stadt gelegt. Die hohen Leuchtgaslaternen, die den Park
erhellen, bilden lange schweflige Bahnen in dieser dubiosen Nacht, in die die
Baumstämme ragen. Einige angetrunkene Burschen kommen aus den Buttes und entfernen
sich lautlos. Wir betreten den Park mit dem Gefühl von
Eroberern und mit der echten Trunkenheit geistiger
Bereitschaft.
-
(ara)
Grenzüberschreitung (2) Die Lust wäre verächtlich, wenn es nicht ein überwältigendes Überschreiten wäre, das nicht nur der sexuellen Ekstase vorbehalten ist. Die Mystiker haben es in der gleichen Weise erfahren. Das Sein wird uns gegeben in einem unerträglichen Überschreiten des Seins, das nicht weniger unerträglich ist als der Tod. Und da das Sein uns im Tod zur gleichen Zeit, da es uns geschenkt, auch wieder genommen wird, müssen wir es im Erleben des Todes suchen, in jenen unerträglichen Momenten, in denen wir zu sterben glauben, weil das Sein in uns nur noch Exzeß ist, wenn die Fülle des Schreckens und die der Freude zusammenfallen.
Selbst das Denken (die Reflexion) vollendet sich in uns nur im Exzeß.
Was bedeutet Wahrheit außerhalb der Vorstellung des
Exzesses, wenn wir nicht das sehen, was über die Möglichkeit des Sehens hinausgeht,
das zu sehen unerträglich ist, wie in der Ekstase
der Genuß unerträglich ist? Wenn wir das nicht zu denken
vermögen, was die Möglichkeit, zu denken, übersteigt. -
(bat)
Grenzüberschreitung (3) Wie ich entrückt
dastand, fiel mir plötzlich ein Traum ein, den ich immer wieder gehabt hatte,
den ich noch dann und wann träume und den ich, solange ich lebe, zu träumen
hoffe. Ich träumte, daß ich die Grenzlinie überschritte. Wie in allen Träumen
ist das Merkwürdige die Lebendigkeit der Wirklichkeit, die Tatsache, daß man
sich in der Wirklichkeit befindet und nicht im Traum. Jenseits der Grenze bin
ich fremd und ganz allein. Sogar die Sprache hat sich geändert. Ich werde immer
als Fremder, Ausländer angesehen. Ich habe unbegrenzt Zeit und bin völlig damit
zufrieden, durch die Straßen zu bummeln. Es gibt immer nur eine Straße - die
Fortsetzung der Straße, in der ich wohnte. Ich komme schließlich an eine über
Rangierbahnhöfe führende eiserne Brücke. Immer ist einbrechende Nacht, wenn
ich diese Brücke erreiche, obwohl sie nur eine kurze Strecke von der Grenzlinie
entfernt ist. Dort blicke ich hinunter auf das Schienengewebe, die Güterbahnhöfe,
die Kohlentender, die Lagerschuppen, und wie ich auf diese Häufung seltsamer,
sich bewegender Substanzen hinunterblicke, geht ein Verwandlungsprozeß vor sidi,ganz
wie im Traum. Mit der Verwandlung und Umgestaltung werde ich gewahr, daß es
sich um den alten Traum handelt, den ich so oft geträumt hatte. Eine wilde Angst
vorm Erwachen ergreif t mich, und ich weiß, daß ich plötzlich, gerade in dem
Augenblick aufwachen werde, in dem ich inmitten eines großen offenen Raumes
im Begriff bin, in das Haus einzutreten, das etwas birgt, das für mich von größter
Wichtigkeit ist. Gerade als ich auf dieses Haus zugehe, beginnt das Stückchen
Land, auf dem ich stehe, an den Rändern zu zerfließen, sich aufzulösen, zu vergehen.
Der Raum rollt wie ein Teppich auf mich zu und verschlingt mich, und damit natürlich
auch das Haus, das mir nie zu betreten gelingt. - (wendek)
Grenzüberschreitung (4) »Es
gibt eine Demarkationslinie, eine Grenze zwischen denen, die Bücher machen,
und denen, die Bücher lesen. Ich möchte bei denen bleiben, die lesen, und deshalb
passe ich auf, daß ich die Grenze nicht überschreite. Sonst war's bald vorbei
mit dem unvoreingenommenen Lesevergnügen, oder jedenfalls würde es sich in etwas
anderes verwandeln, und das wäre nicht das, was ich will.-Ich muß sehr genau
aufpassen, denn die Grenzlinie ist nur ungefähr zu erkennen und hat die Tendenz,
immer mehr zu verlöschen: Die Welt derjenigen, die beruflich mit Büchern zu
tun haben, bevölkert sich immer dichter und neigt dazu, sich mit der Welt der
Leser gleichzusetzen. Gewiß werden auch die Leser immer zahlreicher, aber mir
scheint, daß die Zahl der Leute, die Bücher benutzen, um daraus andere Bücher
zu machen, schneller wächst als die Zahl der Leute, die Bücher einfach nur gerne
lesen. Und ich weiß, daß ich, wenn ich diese Demarkationslinie überschreiten
würde, auch nur gelegentlich oder aus Versehen, in Gefahr käme, mich von dieser
vorwärtsdrängenden Flut mitreißen zu lassen. « - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
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