raft  Die eigentliche Kraft des produktiven Menschen liegt überhaupt im vegetativen Leben, während sich die des Täters aus dem animalischen Willen speist.

Der Baum mag noch so alt werden; er ist in jeder neuen Blüte jung. Zum vegetativen Leben gehören auch der Schlaf, die Träume, die Spiele, die Muße und der Wein. - Ernst Jünger, Strahlungen, 16. Juni 1943

Kraft (2) Der Geist ist das Auge der Seele und nicht ihre Kraft. Ihre Kraft liegt im Herzen, das heißt in den Leidenschaften. Die erleuchtetste Vernunft führt nicht zum Handeln und Wollen. Genügt es, gut zu sehen, um gut zu gehen? Muß man nicht auch Füße haben und Willen und Kraft, sie zu regen? - Vauvenargues

Kraft (3) Der Kranführer Hellmut Krutschinski, 26 Jahre alt, war stark, wenn er einem Gegner Körper an Körper gegenüberstand. Dann hatte er »eine Lust«, mit einem Griff ihm die Arme auszukugeln oder ihn mit Brustkasten zwei, drei, vier, fünf, zehn Meter vor sich herzudrücken. So schob er einen Gendarmerieposten, der ihm im Sommer 1976 das Baden im Baggersee verwehren wollte, in das Kusselgelände ab und konnte mit fünf Kollegen zum See vordringen. Dem Pförtner Bettermann renkte er die Schulter aus, daß der vor sich hinschrie. Es mußten aber zwei Voraussetzungen gegeben sein: i. ein Gegner, z. unmittelbare körperliche Berührung, so wie er mit den Händen die Hebel seines Gerätes, auch ohne hinzusehen, bediente. Ein Gegner war Bettermann insofern zweifellos, als er früher Kameraden angezeigt hatte und Krutschinski nicht zum Werkzeugdepot durchlassen wollte, wo er einen Schlagbohrer brauchte, um ein Gartenhäuschen für Kollegen instand zu setzen. Am folgenden Tag war der Schlagbohrer wieder zurück.

Krutschinski hätte sich einmal eine allgemeinere Kampfsituation gewünscht. Entweder das Zurückdrücken eines Polizei- und Werkschutzaufmarsches, der den Kollegen imponieren sollte, das hätte Krutschinski gemeinsam mit Kollegen vorgenommen. Auf dieses Risiko ließ sich aber die Firmenleitung nie ein. Kämpfe mit ihr erfolgten in Form von Verhandlungsrunden in Räumen des Verwaltungsbaus, wo Krutschinski, den die Kollegen zu einem ihrer Vertreter gewählt hatten, rasch auszusitzen war, denn nach fünf, sechs Stunden verlangte ihn nach frischer Luft. Er gab dann, was Prozentzahlen usf. betrifft, nach.

Oder eine Gruppe von angeblichen Kollegen, die bei Spinddiebstählen ergriffen worden sind. Die hätte er aus dem Betrieb hinausgeprügelt. Kam in der Firma nicht vor.

Blieben Kämpfe mit Nebenbuhlern, Günstlingen von Mädchen außerhalb des Betriebs. Das war nicht viel. So gilt Krutschinski als »friedlich«, weil der Kampfgegner, an den sich eine lange Wut anhängen läßt, in Griffnähe nicht auftritt. - (klu)

Kraft (4) Der Stab rückte aus Krapivno ab, und unser Troß zog als polternde Nachhut über die Chaussee, die unverwelkliche Chaussee, die von Brest nach Warschau führt und die auf Bauernknochen gebaut wurde durch Nikolaus den Ersten.

Felder purpurroten Mohns blühen ringsum, der Mittagswind spielt im reifenden Roggen, Jungfräulicher Buchweizen steht auf am Horizont, wie die Mauer eines fernen Klosters. Das stille Wolhynien windet sich, Wolhynien verschwindet vor uns in den perlgrauen Nebel der Birkenwälder, es kriecht die blumenbestandenen Anhöhen hinauf und verfängt sich mit geschwächten Armen in den Hopfenreben. Die orangefarbene Sonne rollt über den Himmel, wie ein abgehackter Kopf, zärtliches Licht entbrennt an den Wolkenschluchten, und die Standarten des Sonnenunterganges wehen über unseren Köpfen. Der Geruch von gestrigem Blut und getöteten Pferden tropft in die Abendkühle. Schwarz rauscht der Zbruc und schürzt die schäumenden Knoten seiner Untiefen. Die Brücken sind zerstört, wir überschreiten den Fluß an einer Furt. Auf den Wellen liegt majestätisch der Mond. Die Pferde verschwinden bis zum Rücken im Wasser, gurgelnde Bäche platschern zwischen Hunderten von Pferdebeinen. Jemand geht unter und lästert laut die Gottesmutter. Der Fluß ist übersät mit den schwarzen Quadraten der Wagen, er ist erfüllt von Stimmengewirr, von Pfiffen und Liedern, die über die Mondschlangen und glitzernden Mulden hinwegdröhnen.

Spät in der Nacht kommen wir nach Novograd. Ich finde eine schwangere Frau in dem mir zugewiesenen Quartier und zwei rothaarige Juden mit dünnen Hälsen;

ein dritter schläft schon, die Decke über den Kopf gezogen und an die Wand gedrückt. Ich finde in dem mir zugewiesenen Zimmer zerwühlte Schränke, auf dem Fußboden Fetzen von Damenpelzen, menschlichen Kot und Scherben des heiligen Gefäßes, das bei den Juden nur einmal im Jahr benützt wird — zum Passahfest.

— Sammeln Sie das auf, — sage ich zu der Frau, — wie können Sie leben in so einem Dreck . . .

Die zwei Juden erheben sich von ihren Plätzen. Sie hüpfen auf Filzsohlen und sammeln die Scherben vom Fußboden auf, sie hüpfen wortlos, wie Affen, wie die Japaner im Zirkus, ihre Hälse schwellen und drehen sich im Kreis. Sie legen mir ein aufgeschlitztes Federbett hin, und ich lege mich an die Wand, neben den dritten, schon schlafenden Juden. Verängstigte Armut schließt sich sofort über meinem Lager.

Alles ist durch die Stille getötet, und nur der Mond, der mit blauen Händen seinen runden strahlenden unbekümmerten Kopf umfaßt hält, streicht unter dem Fenster umher.

Ich strecke die geschwollenen Füße von mir, ich liege auf dem aufgeschlitzten Federbett und schlafe ein. Im Traum sehe ich den Divkom Sechs. Er rast auf seinem schwarzen Hengst dem Brigadekommandeur hinterher und schießt ihm zwei Kugeln in die Augen. Die Kugeln durchschlagen den Kopf des Kombrig, und seine beiden Augen fallen auf die Erde. »Warum hast du die Brigade zurückgezogen?« — schreit Savickij, Divkom Sechs, den Verwundeten an, — und hier wache ich auf, weil die schwangere Frau mit den Fingern über mein Gesicht tastet.

— Panie, — sagt sie zu mir, — Sie schreien im Schlaf und wälzen sich herum, ich mache Ihnen das Bett in der anderen Ecke, Sie stoßen meinen Papa. . .

Sie hebt die mageren Beine und den runden Bauch vom Fußboden und zieht dem Schlafenden die Decke weg. Da liegt ein toter alter Mann, auf den Rücken geworfen. Die Kehle herausgerissen, das Gesicht in zwei Hälften zerhackt, blaues Blut liegt in seinem Bart, wie ein Stück Blei.

— Panie, — sagt die Jüdin und schüttelt das Federbett auf, — die Polen haben ihn abgeschlachtet, dabei hat er sie angefleht: tötet mich auf dem Hinterhof, damit meine Tochter nicht sieht, wie ich sterbe. Aber sie haben es sich bequem gemacht, — in diesem Zimmer ist er verschieden und hat dabei an mich gedacht. Und jetzt will ich wissen, — sagte die Frau plötzlich mit entsetzlicher Kraft, — ich will wissen, wo ihr auf der ganzen Welt noch einen solchen Vater findet, wie meinen Vater .. . - Isaak Babel, Die Reiterarmee. Berlin 1994 (Friedenauer Presse, neu übs. von Peter Urban - zuerst 1926)

Kraft (5) Die niedrigste Form des Überlebens ist die des Tötens. So wie man das Tier getötet hat, von dem man sich nährt, so wie es vor einem wehrlos daliegt, und man kann es in Stücke schneiden und verteilen, als Beute, die man sich und den Seinen einverleibt, so will man auch den Menschen töten, der einem im Wege ist, der sich einem entgegenstellt, der aufrecht als Feind vor einem dasteht. Man will ihn fällen, um zu fühlen, daß man noch da ist und er nicht mehr. Er soll aber nicht ganz verschwunden sein, seine leibliche Anwesenheit als Leiche ist für dieses Gefühl des Triumphes unerläßlich. Nun kann man mit ihm tun, was man will, und er kann einem gar nichts anhaben. Er liegt, er wird immer liegen bleiben; nie wird er sich wieder erheben. Man kann ihm seine Waffe wegnehmen; man kann sich Teile seines Leibes herausschneiden und als Trophäen für immer bewahren. Dieser Augenblick der Konfrontation mit dem Getöteten erfüllt den Überlebenden mit einer ganz eigentümlichen Art von Kraft, die keiner anderen Art von Kraft zu vergleichen ist. Es gibt keinen Augenblick, der mehr nach seiner Wiederholung ruft. - (cane)

Kraft (6) Es läßt sich die Wahrnehmung machen, daß manche Kräfte den Geschöpfen vermöge ihrer Art innewohnen: wie die Kühnheit und Herzhaftigkeit dem Löwen und Hahn, die Furchtsamkeit dem Hasen und Lamm, die Raubgier und Gefräßigkeit dem Wolfe, die Hinterlist und Neigung zum Betrügen dem Fuchs, die Schmeichelei dem Hund, der Geiz dem Raben und der Krähe, der Stolz dem Pferde, der Zorn dem Tiger und wilden Eber, die Traurigkeit und Melancholie dem Kater, die Geilheit dem Sperlinge.  - (nett)

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