ukunft  Die ersten Autos waren Pferdewagen ohne Pferde. Anders waren sie anscheinend zunächst nicht vorstellbar. Strukturextrapolation! Jules Vernes Reise zum Mond geschah durch einen Kanonenschuß. Auch dies ist ein Beispiel für die Strukturextrapolation — und damit ein Beispiel für die geringe menschliche Fähigkeit, sich Zukunft, die strukturelle «Brüche» enthält, vorzustellen. Kanonenschüsse waren die zu Jules Vernes Zeiten üblichen Mittel des Transportes von «Gütern» durch die Luft.

Auch zu Zeiten von Jules Verne waren Raketen (zum Beispiel als Feuerwerkskörper) durchaus bekannt, und ihre größere Geeignetheit für die Raumfahrt — im Vergleich mit einem ballistisch sich bewegenden Projektil — ist «eigentlich» offensichtlich. Denn eine Rakete hat einen eigenen Antrieb, eine Kanonenkugel nicht.

Wir Menschen scheinen eine starke Tendenz zu haben, uns die Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart vorzustellen. Gelegentlich mag es dabei auch zu Inversionen kommen. Wunschbilder und Utopien, immerhin auch eine Art von Zukunftsvorstellungen, sind oft dadurch gekennzeichnet, daß sie den Mangel in Überfluß und den Uberfluß in Mangel verwandeln. Aus zu viel Mühe und zu wenig Essen wird das Schlaraffenland mit geringer Mühe und viel Essen, aus der Unterjochung und Einflußlosigkeit eines großen Teiles der Bevölkerung wird die Diktatur des Proletariats. Die Vorausschau zukünftiger Szenarios scheint gewöhnlich entweder durch eine Strukturfortschreibung oder durch eine Strukturinversion zu geschehen.

Sehr schön sichtbar wird der Mechanismus der Strukturextrapolation in den Szenarios und Gestalten der Science-fiction und der Phantasie-Literatur. Betrachtet man Illustrationen zu dieser Literaturgattung oder Filme aus diesem Bereich, so wird sinnfällig, daß die Autoren die zukünftigen oder phantastischen Welten im wesentlichen gemäß dem Modell der Gegenwart konstruieren. Abb. 40

 Abb. 40: Sternenwesen

zeigt eine Sammlung von Zeichnungen von «Außerirdischen», die von Ufologen zusammengestellt wurde, also von Leuten, die der Meinung sind, daß unsere Erde ständig von unbekannten Sternenwesen besucht wird. Abb. 40 zeigt, was solche Leute angeblich zu Gesicht bekommen haben.

Die Sternenwesen richten sich anscheinend sehr genau nach dem menschlichen Bauplan. Wenn in der Science-fiction-Literatur davon abgewichen wird, dann meistens nur in Details. Aus einer Nase wird ein Rüssel. Aus zwei Ohren werden vier Ohren. Aus einem einem Menschenkopf wird ein Schweine- oder Elefantenkopf. Abb.41 zeigt eine solche Kombination. Auch hier ist aber die Strukturfortschreibung noch deutlich erkennbar.

 Abb. 41: Ein Kombinationswesen

Man kann auch ganz anders vorgehen. Man kann beispielsweise Bedingungen formulieren und sich dann überlegen, wie eine Realität aussehen könnte, die den jeweiligen Bedingungen und Anforderungen gerecht werden könnte. Der polnische Science-fiction-Autor Stanislaw Lem beschreibt diese Art von Konstruktion. Ein sich bewegendes System muß eine Art von Gleichgewichtsorgan haben, damit es sich im Raum richtig orientieren kann. Welche Möglichkeiten für solche Gleichgewichtsorgane gibt es? Man kann einmal (und so ist es praktisch in allen uns bekannten Fällen realisiert) die Schwerkraft ausnutzen und ein Gleichgewichtsorgan bauen, welches sich wie ein Pendel verhält und Verschiebungen des Körpers gegen die Schwerkraftlinien indiziert. Man könnte aber auch ganz anders vorgehen. Man könnte beispielsweise ein Kreiselsystem bauen. Man könnte die Magnetlinien des Erdmagnetfeldes benutzen oder die Richtung des Lichteinfalls (letzteres tun manche Fische). - Aus: Dietrich Dörner, Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek b. Hamburg 1992 (rororo Sachbuch 9314)

Zukunft (2)

"Du wirst ein großer stolzer Eber werden. Des Lebens Stürme werden über dich hinwegbrausen, aber du wirst lachen und getrost deinen Weg durch diese Welt gehen, und die Herzen der Säue werden höher schlagen, wenn sie dein Lachen hören" - Friedrich Karl Waechter, aus: Waechter. Zürich 2002 (Diogenes, nach: SZ 258, 2002)

Zukunft (3) Wenn die Welt auch nur hundert Millionen Jahre alt wird, so steht sie noch in der Jugendblüte, ja sie hat kaum erst begonnen; wir selber sind den ersten Menschen und den Patriarchen ganz nahe; wer wird uns in so fernen Jahrhunderten von ihnen unterscheiden können? Und wenn man von der Vergangenheit auf die Zukunft schließt: wieviel Neues in den Künsten, in den Wissenschaften, in der Natur und, ich möchte sagen, in der Geschichte bleibt uns unbekannt! Welche Entdeckungen wird man machen! Wie viele Umwälzungen müssen sich auf dem ganzen Erdball ereignen, in Staaten und Reichen! Wie groß ist unsere Unwissenheit und wie nichtig die Erfahrung von sechs- oder siebentausend Jahren! - (bru)

Zukunft (4) Wenn nun das milde Klima, die vorzüglich weiche Luft, die schöne, lachende Gegend und der Zufluß von allem, was die Sinne, selbst die verwöhnten, verlangen, insbesondere» der edle Wein, unwillkürlich im Busen des Mainzers eine Stimmung zum Genuß hervorrufen, die sich mit der rauhen Tugend eines Cincinnatus oder eines Cato gerade nicht verträgt: müssen ihm darum die liebenswürdigen Tugenden der gebildeten Gesellschaft alle unerreichbar bleiben, vorausgesetzt, daß Regierungsform, Gesetze, Beispiel und Erziehung einst darauf ihr Absehen richten könnten? Wenn alsdann durch einen unverhofften Glücksfall Frankfurt einen Teil seines Handels an Mainz abtreten müßte und der durch Fleiß erworbene Reichtum seine liebenswürdigen Gefährten, Geschmack und Schönheitssinn, mit sich brächte, wenn die Künste hier endlich blühten und die zarteren Saiten des Gefühls berührten: wäre Deutschland etwa sehr zu bedauern, daß es mit reineren Sitten und einer vollkommneren Ausbildung als einst Großgriechenland - seine eigene Sybaris hätte? - Georg Forster, Darstellung der Revolution in Mainz.  (entst. 1794). In: G. F., Schriften zu Natur, Kunst, Politik. Reinbek bei Hamburg 1971 (rk 540)

Zukunft (5)  Durch das Gefühl des bleischweren Zaubers, sagen die Propheten des Bahranel, liegt die Zukunft nicht mehr irgendwo da vorne und wartet auf dich, sondern sie umwickelt dich ringsherum in allen Dingen. Man sieht also die Zukunft als eine Welle, die kommt und dich mitreißt, aber auch die Schaukel der Hoffnungen und Ängste wegfegt, denn, indem sie dich umwickelt, führt und wiegt sie dich mit der »Sanftheit des Zitterns« (ouina ki truntrun). Das ist die Sanftheit der stummen Zeiten, die Sanftheit des Anfangs der Zeit, als es nur die Kuppel des Himmels gab und niemand wußte, daß er in eine Halluzination geraten war.   - (fata)

Zukunft (6)  Paolino hatte von der Zukunft reden hören. Was ist das, die Zukunft? Etwas, das noch kommen muß. Und wann kommt es? Es kommt schon, du brauchst nur zu warten. Aber woran soll ich sie erkennen? Das ist schon schwieriger, denn wenn sie da ist, ist sie nicht mehr Zukunft, sondern Gegenwart.« »Wenn ich gut aufpasse und sie kommen höre - ist das dann die Zukunft?« »Wenn du sie kommen hörst, ja - das ist dann die Zukunft.«

Paolino setzte sich auf einen Stuhl und begann zu warten.   - (ma2)

Zukunft (7)  ‹Zeit› ist alles andere als das beliebte Triptychon: eine nicht mehr existierende Vergangenheit, der dauerlose Punkt der Gegenwart und ein «Noch-nicht», das vielleicht nie kommt. Nein. Es gibt nur zwei Tafeln. Die ‹Vergangenheit› (immer existent in meinem Verstand) und die <Gegenwart› (der mein Verstand Dauer und folglich Wirklichkeit verleiht). Richten wir eine dritte Abteilung ein der erfüllten Erwartung, des Vorhergesehenen, des Vorherbestimmten, der Fähigkeit zu Voraussicht, zu vollkommener Vorhersage, so wenden wir unseren Verstand immer noch auf die Gegenwart an.

Wenn die Vergangenheit als ein Lager von ‹Zeit› wahrgenommen wird und wenn die Gegenwart der Vorgang jener Wahrnehmung ist, stellt andererseits die Zukunft keinen Gegenstand von ‹Zeit› dar, hat mit ‹Zeit› und der grauen Gaze ihrer physikalischen Textur nichts zu tun. Die Zukunft ist bloß ein Quacksalber am Hofe von Chronos. Denker, Gesellschafts-Wissenschaftler empfinden, daß die Gegenwart über sich hinaus auf eine noch nicht verwirklichte ‹Zukunft› weist- aber das ist aktuelle Utopie, progressive Politik. Technologische Sophisten behaupten, daß durch Ausnutzung der Lichtgesetze, durch Anwendung neuer Teleskope, die auf einem anderen Planeten in kosmischer Entfernung durch die Augen unserer schmerzlich-sehnsüchtigen Agenten gewöhnliche Druckschrift sichtbar werden lassen, wir tatsächlich unsere eigene Vergangenheit sehen können (Goodson entdeckt den Goodson River und derlei Dinge), den dokumentarischen Beweis inbegriffen, daß wir nicht wußten, was für uns bereit lag (und daß wir es jetzt wissen) und daß infolgedessen die <Zukunft> gestern bereits existierte und per Rückschluß auch heute existiert. Dies mag gute Physik sein, ist aber scheußliche Logik, und die Schildkröte der <Vergangenheit wird niemals den Achilles der Zukunft überholen, ganz gleich, wie wir auf unseren wolkigen Wandtafeln Entfernungen zergliedern.

 Was wir bestenfalls leisten (schlimmstenfalls führen wir alberne Tricks vor), wenn wir Zukunft voraussetzen, ist, die trügerische Gegenwart gewaltig auszudehnen und sie so zu veranlassen, jegliche Zeitmenge mit jeder Art von Information, Erwartung und Vorkenntnis zu durchsetzen. Im besten Fall ist «Zukunft» die Idee einer hypothetischen Gegenwart, die auf unserer Erfahrung von Abfolge, auf unserem Glauben an Logik und Gewohnheit basiert. In Wirklichkeit können unsere Hoffnungen sie ebenso wenig zum Dasein erwecken, wie unser Bedauern die Vergangenheit ändern kann. Letztere hat zumindest den Geschmack, den Anstrich, die Tinktur unseres individuellen Seins. Die Zukunft indessen bleibt jenseits unserer Vorstellungen und Gefühle. In jedem Augenblick ist sie eine Unendlichkeit sich verzweigender Möglichkeiten. Ein festumrissenes Schema würde den Zeit-Begriff an sich zerstören (hier entschwebte der Pille das erste Wölkchen). Das Unbekannte, das noch nicht Erfahrene und das Unerwartete, all die gloriosen «x»-Kreuzungen sind dem menschlichen Leben eingeboren. Das festumrissene Schema würde, indem es die aufgehende Sonne ihres Schocks beraubte, alle Sonnenstrahlen ausradieren - - (ada)



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