egend   ICH BEFINDE MICH in einem Punkt, dem ich den Namen H geben möchte, da dieser Buchstabe entweder gar nicht ausgesprochen oder nur gehaucht wird. Nehmen wir an, um diesen Punkt H liegen andere Punkte, die ich etwa A, B, C nennen kann. Wenn ich mich von Punkt H entferne und auf Punkt A zugehe, komme ich nach zweihundert Parasangen in eine vollkommen weiße, schwammige Gegend, wo ein ziemlich ungenauer und diskutierbarer Pulsschlag ununterbrochen ein leises Geflüster aussendet, dessen wahrscheinliche Bedeutung ich jedoch nicht entziffere noch zu entziffern wünsche. Dieser weiße Raum, der meiner Meinung nach eingeschlafen ist, aber nicht tief schläft, so daß sein Gemurmel aus einem Traum durchsickernder Stoff sein könnte, ist weit ausgedehnt und undurchdringlich, nicht weil er etwa Widerstand leisten würde, sondern weil er keinen leistet. Um genau zu erklären, was ich meine, möchte ich auf den Vergleich mit dem Schlaf zurückkommen: wenn du ein Gebiet reiner Schläfrigkeit zu durchschreiten hättest, nicht einen Raum mit schlafenden Tieren oder Pflanzen, sondern mit nichts als Schlaf, ohne Subjekt, das in ihn versunken ist, dann könntest du in keiner Hinsicht vorwärtskommen; denn deine Glieder taugen nicht dazu, den Schlaf zu durchschreiten. Daher bin ich nie über die Peripherie dieses Gebiets hinausgekommen, das meiner Vermutung nach zwar sehr ausgedehnt sein muß, aber doch in ziemlich großer Entfernung von Punkt A liegt. Man wird sich fragen, ob ich versucht habe, das Gebiet des Schlafes zu wecken: ich antworte, daß ich das Experiment nur einmal gewagt habe, mich aber das, was geschah, noch heute verwirrt; einen Augenblick lang nämlich zeigte sich, daß in dem weißen Raum lauter ungeheuer gewalttätige Wesen hausen, die, was auch immer das bedeuten mag, wach waren im Gehäuse des Schlafes; ich möchte damit sagen, sie waren wach im Schlaf, wie wenn sie in den Schlaf wie in ein Gehäuse eingeschlossen gewesen wären, und nur erreichbar, wenn man in den Schlaf eindrang. Man wird mich fragen, ob ich es nie versucht hätte, in den Schlaf einzudringen, um als Inhaber des Schlafes Zugang zu den Tieren zu haben, die wach sind im Gehäuse des Schlafes. Ja, ich habe es versucht, mußte mich aber zurückziehen, um einer besonders heimtückischen Verwandlung zu entgehen: wer sich nämlich darauf einläßt, Schlaf zu werden, verschmilzt völlig mit dem Schlaf und, obschon er von den Tieren, die als Bewohner des Schlafes wach sind, bewohnt werden kann, hat er keinerlei Möglichkeit, mit diesen Tieren ins Gespräch zu kommen. Und wen die Tiere besetzen - der Ausdruck ist zwar ungenau, aber nicht unsinnig -, den verlassen sie nie mehr; obwohl ihm kein Leid geschieht, kennt er keinen Weg mehr, weder vorwärts noch zurück. Diese Tiere sind auf ihre Art zwar liebevoll, aber auch hinterhältig, und mitunter kommt mir der Gedanke, ihr Dasein sei dem ähnlich, das man den Toten zuschreibt. - Giorgio Manganelli, Der Punkt. In: (irrt)

Gegend (2) In einer jener unbestimmten, doch aller Bestimmbarkeit im Nu fähigen Gegenden, wie man sie im Traum oft sieht: Gegenden (denn Landschaften kann man sie nicht nennen), die aus noch nicht materialisierter, wohl aber schon lokalisierbarer Ideensubstanz zu bestehen scheinen, aus noch in der puren Möglichkeit des Wie, aber schon in der Wirklichkeit des Was und Wo befindlichen Wortbedeutungen, so daß man zwar sagen kann: links von mir ist Meer und rechts zum Hintergrund hin Gebirge, wo aber das Meer erst gewußtes, noch nicht leibhaftiges Meer ist, weder siedender Topf noch rollende Wüste noch stiller Abglanz eines Seraphlächelns, sondern ein noch gänzlich unsinnenhaftes, wiewohl örtlich und arthaft schon vorhandenes, im Fluß vom Begriff zum Ding gleichsam ins Stocken geratenes Übergangswesen, schon nicht mehr abstrakt und noch nicht konkret, schon nicht mehr an sich, aber noch nicht für sich, Schopenhauers Meer, wenn man will, und Schopenhauers Gebirge als farb- und konturlos majestätische Massen aller entstehbaren Gischten und Gipfel mitsamt ihren künftigen Adlern und Schiffen -, in solcher Gegend, einem werdebereiten, einen ganzen Bezirk überdachenden Basilikaraum, sehe ich, grau vorm grauen Nebel der Wände, den Urstoff eines wallenden Tuchs, über das sich eine schon im Sichtbarsein befindliche Alte beugt. - Eine der Parzen, denke ich ehrfürchtig, und wage es, mich ihr zu nahen; und Moira — denn es ist die unentfaltete Dreiheit — sieht auf, doch sie unterbricht nicht ihr Tun. - Franz Fühmann, Dreizehn Träume. Berlin 1991. In: Der Mund des Propheten. Späte Erzählungen (AtV 75, zuerst 1983)

Gegend (3) Es geht die Rede von einem Himmelsstrich, wo die Greise höflich, galant und zuvorkommend sind; die Jungen Leute hingegen roh, wild, ohne Sitte und Lebensart: sie fühlen sich frei von der Leidenschaft für das weibliche Geschlecht in einem Alter, wo man sie sonst zu empfinden beginnt; sie ziehen ihr Schmausereien, leckere Gerichte und lächerliche Liebhabereien vor. Bei ihnen heißt der mäßig und nüchtern, der sich nur mit Wein betrinkt: sie haben so viel davon genossen, daß sie abgestumpft sind, und suchen ihrem verdorbenen Geschmack durch Branntwein und andere scharfe Getränke wieder aufzuhelfen; es fehlt nur noch, daß sie Scheidewasser trinken. Die Frauen des Landes beschleunigen den Verfall ihrer Schönheit durch künstliche Mittel, mit denen sie sich zu verschönern glauben: sie haben die Gewohnheit, Lippen, Wangen, Augenbrauen und Schultern anzumalen, die sie wie die Brust, die Arme und die Ohren zur Schau stellen, als fürchteten sie zu verbergen oder zuwenig zu zeigen, wodurch sie gefallen könnten. Die Bewohner dieser Gegend haben ein Gesicht, das der klaren, offenen Züge entbehrt und noch unbestimmter wird durch ein Dickicht von fremden Haaren, die sie den natürlichen vorziehen und aus denen sie ein langes Lockengewirr machen, um damit den Kopf zu bedecken: es reicht bis zur Hälfte des Körpers herab, entstellt den Ausdruck und verhindert, die Menschen an ihrem Gesicht zu erkennen. Diese Völkerschaften haben auch ihren Gott und ihren König: Tag für Tag versammeln sich die Großen des Stammes zu einer bestimmten Stunde in einem Tempel, den sie Kirche nennen; im Hintergrund befindet sich ein ihrem Gott geweihter Altar, wo ein Priester geheimnisvolle Zeremonien zelebriert, die sie als heilig, weihevoll und ehrwürdig ansehen; die Großen bilden einen weiten Kreis am Fuße dieses Altars und stehen aufrecht, den Priestern und den heiligen Mysterien den Rücken zugewendet, die Gesichter zum König, den man auf einer Tribüne kniend erblickt, erhoben, auf den sie ihren ganzen Sinn und ihr ganzes Herz zu richten scheinen. Man könnte sagen, daß dieser Brauch eine gewisse Stufenfolge in sich schließt; denn das Volk scheint den Fürsten, und der Fürst Gott anzubeten. Bei seinen Bewohnern heißt das Land **. Es liegt ungefähr achtundvierzig Grad unter der Polhöhe und mehr als elfhundert Seemeilen von den Wohnsitzen der Irokesen und Huronen entfernt. - (bru

Gegend (4)   Wir   leben noch nicht in einer Zeit, der eine großzügige Revision aller Denkmäler vorbehalten ist. Dies verrät sich schon durch das Maß, in dem das Bewußtsein von dem hohen Range und der ungeheuren Verantwortung des Totenkultes verloren gegangen ist. Von allen Anblicken, die der Bürger liefert, besteht der schauerlichste in der Art und Weise, in der er sich begraben läßt, und ein einziger Gang über einen dieser Friedhöfe macht das Sprichwort anschaulich von den Gegenden, in denen man nicht einmal wünscht begraben zu sein. Indessen bezeichnet der Krieg auch hier einen Wendepunkt: man hat zuweilen wieder Gräber gesehen.  - Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982 (Cotta's Bibliothek der Moderne 1, zuerst 1932)

Gegend (5) Dieses im besorgenden Umgang umsichtig vorweg im Blick gehaltene Wohin des möglichen zeughaften Hingehörens nennen wir die Gegend.  - Martin Heidegger, Sein und Zeit (1926). Nach: Wilhelm Genazino, Achtung Baustelle. Frankfurt am Main 1998

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