elle    Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es etwas zu erreichen gälte! Wie kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des felsigen Geklüftes hinein! Es scheint, sie will jemandem zuvorkommen; es scheint, daß dort etwas versteckt ist, das Wert, hohen Wert hat. — Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer, immer noch ganz weiß vor Erregung — ist sie enttäuscht? Hat sie gefunden, was sie suchte? Stellt sie sich enttäuscht ? — Aber schon naht eine andere Welle, gieriger und wilder noch als die erste, und auch ihre Seele scheint voll von Geheimnissen und dem Gelüste der Schatzgräberei zu sein. So leben die Wellen. - (frw)

Welle (2)  Man sagt zwar, eine Welle sieht wie die andere aus, aber dem ist nicht so: Jede einzelne hat eine eigene Form der Rückenkrümmung, manche gehen steil und spitz, manche rund und flach, es gibt dicke und dünne, grüne und blaue, schwarze und braune, durchsichtige und trübe, große und weite, breite und lange, kalte und warme, salzige und süße, laute und leise, schnelle und langsame, harmlose und lebensgefährliche. Jede Welle hat sozusagen eine eigene Statur, ein eigenes Gesicht und schließlich eine eigene Frisur in Form von Gischt auf ihrem Kopf. Und man unterscheidet sie an ihrem Gang, dem sogenannten Wellengang. Wellen südlicher Gewässer bevorzugen einen lässigen, wiegenden Gang, die der Nordmeere eher einen strammen, zügigen, wegen der Kälte und der Gefahr, zur Eisscholle zu gefrieren.

Hawaiianische Wogen scheinen sich im Takt von Rumbakugeln zu bewegen, schottische in langen Reihen zu unhörbarer Dudelsackmusik zu marschieren. Wenn man Wellen ausführlich studiert, weiß man, welche Sorte sich wo gerne aufhält. Kleine grüne mit lustiger Gischt zum Beispiel in tropischen seichten Gewässern, dunkle schlammige in Küstennähe, besonders an Flußmündungen, hohe blaue auf kalter, tiefer See und so weiter.

Wellentypologie

Man kann also an ihrem Aussehen sehr genau bestimmen, wo man sich befindet, ob es Untiefen gibt oder unsichtbare Sandbänke und Korallenriffe, ob man in Landnähe ist oder auf hoher See, in einer tückischen Strömung und sogar, ob sich im Wasser Haie befinden oder nur Heringe. Sind Haie darin, zittern die Wellen leicht. - (zam)

Welle (3)   Um zu erkennen, wie eine Welle beschaffen ist, muß man die gegeneinander gerichteten Schübe beachten, die sich in gewisser Weise neutralisieren und in gewisser Weise summieren und schließlich ein allgemeines In- und Durcheinander sämtlicher Schübe und Gegenschübe im gewohnten Zerfließen des Schaumes erzeugen.

Herr Palomar sucht nun zunächst sein Beobachtungsfeld zu begrenzen: Wenn er ein Quadrat von, sagen wir, zehn Metern Breite am Strand auf zehn Meter Tiefe ins Meer überblickt, kann er ein Inventar aller Wellenbewegungen aufstellen, die sich darin mit wechselnder Häufigkeit in einer gegebenen Zeitspanne wiederholen. Das Schwierige ist, die Grenzen dieses Quadrats im Blick zu behalten, denn nimmt er zum Beispiel als entfernteste Seite von seinem Standpunkt die Kammlinie einer näherkommenden Welle, so verdeckt diese Linie, während sie näherkommt und sich dabei hebt, vor seinen Augen all das, was hinter ihr liegt, und der zu prüfende Raum klappt auf und preßt sich im gleichen Zuge zusammen.

Dennoch läßt sich Herr Palomar nicht entmutigen, und jeden Augenblick glaubt er auch schon, glücklich alles gesehen zu haben, was er von seinem Beobachtungsstandpunkt sehen kann, doch immer wieder springt ihm dann etwas ins Auge, was ihm zuvor noch entgangen war. Hätte er nicht diese Ungeduld, ein komplettes und definitives Ergebnis seiner visuellen Operation zu erzielen, so wäre das Wellenbetrachten für ihn eine sehr erholsame Übung und könnte ihn vor Neurosen bewahren, vor Herzinfarkten und Magengeschwüren. Und vielleicht könnte es der Schlüssel sein, um die Komplexität der Welt in den Griff zu bekommen durch ihre Reduktion auf den einfachsten Mechanismus.

Doch jeder Versuch zur Präzisierung dieses Modells muß die Rechnung mit einer langgezogenen Welle machen, die quer zu den Flügeln und parallel zur Küste anrollt, wobei sie einen durchgängigen und nur leicht erhobenen Kamm vorangleiten läßt. Die kleinen Sprünge der schräg zum Ufer drängenden Wellen stören nicht den gleichmäßigen Elan dieses festen und glatten Kammes, der sie im rechten Winkel schneidet, und man weiß nicht, wohin er geht noch woher er kommt. Vielleicht aus einer leichten Brise vom Land, die das Wellenspiel an der Oberfläche bewegt, entgegen den Tiefenströmungen aus den Wassermassen des offenen Meeres. Doch diese langgezogene Welle, die aus der bewegten Luft entsteht, nimmt unterwegs auch die schrägen Schübe mit auf, die aus dem Wasser entstehen, und leitet sie um und lenkt sie in ihre Richtung und trägt sie mit sich voran. So wächst sie beständig weiter und gewinnt solange an Stärke, bis der unentwegte Zusammenprall mit den quer- und gegenläufigen Wellen sie langsam schwächt und schließlich verschwinden läßt, oder sie dreht und windet, bis sie zerfließt in einer der vielen Dynastien schräger Wellen, um mit ihnen ans Ufer zu klatschen.

Konzentriert man die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, so springt er mit einem Satz in den Vordergrund und erfüllt das ganze Tableau, wie bei jenen Bildern, vor denen man nur die Augen zu schließen braucht, und wenn man sie wieder öffnet, hat sich die Perspektive verändert. Jetzt, in diesem Durcheinander verschieden gerichteter Wellenkämme, erscheint das Gesamtbild zerstückelt in lauter Einzelbilder, die auftauchen und verschwinden. Hinzu kommt, daß auch der Rückfluß jeder einzelnen Welle noch eine gewisse Schubkraft hat, die sich den nach- und über sie kommenden Wellen entgegenstellt, und konzentriert man die Aufmerksamkeit auf diese rückwärtsgewandten Schübe, so scheint es, als sei die wahre Bewegung das Drängen vom Ufer zum Meer. - (calv)

Welle (4)   Eine Welle kam, und ich richtete mich, am Felsen klebend, ein wenig, kaum wahrnehmbar auf, es genügte, mich etwas zu entspannen, und plaff! floß das Wasser unter mir hindurch, voller Substanzen, Gefühle, Erregungen. Man konnte nie wissen, welche Richtung diese Gefühle nahmen, manchmal war es ein Kitzeln, daß man vor Lachen hätte bersten mögen, dann wieder ein Schauer, ein Brennen, ein Jucken, so gab es einen ständigen Wechsel von Vergnügen und Erregungen. Aber ihr dürft nicht meinen, daß ich etwa passiv dort verharrt und offenen Mundes alles geschluckt hätte, was da angetrieben wurde: nach einiger Zeit hatte ich meine Erfahrungen gesammelt, konnte rasch beurteilen, was auf mich zukam, und entscheiden, wie ich mich zu verhalten hatte, um auf bestmöglidie Art davon zu profitieren oder um die unangenehmsten Konsequenzen zu vermeiden. Alles war abhängig vom Zusammenspiel der Kontraktionen, das mit jeder einzelnen Zelle erfolgte, die ich besaß, oder vom Entspannen im richtigen Augenblick: ich konnte meine Wahl treffen, konnte zurückweisen, anziehen und sogar ausspucken.  - Italo Calvino, Kosmokomische Geschichten. Frankfurt am Main 1969 (zuerst 1965)

Welle (6)    „Breite Wellen . . .", sagte Thomas Buddenbrook. „Wie sie daherkommen und zerschellen, daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, endlos, zwecklos, öde und irr. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See liebengelernt - vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, weil es in weiterer Ferne lag. Jetzt möchte ich nicht mehr dorthin. Ich glaube, daß ich mich fürchten und schämen würde. Es ist zu willkürlich, zu unregelmäßig, zu vielfach - sicher, ich würde mich allzu unterlegen fühlen. Was für Menschen es wohl sind, die der Monotonie des Meeres den Vorzug geben? Mir scheint. es sind solche, die zu lange und tief in die Verwicklungen der innerlichen Dinge hineingesehen haben, um nicht wenigstens von den äußeren vor allem eins verlangen zu müssen: Einfachheit. Es ist das wenigste, daß man tapfer umhersteigt im Gebirge, während man am Meer still im Sande ruht. Aber ich kenne den Blick, mit dem man dem einen, und jenen, mit dem man dem andern huldigt. Sichere, trotzige, glückliche Augen, die voll sind von Unternehmungslust, Festigkeit und Lebensmut, schweifen von Gipfel zu Gipfel; aber auf der Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt, träumt ein verschleierter, hoffnungsloser und wissender Blick, der irgendwo einstmals tief in traurige Wirrnisse sah - Gesundheit und Krankheit, das ist der Unterschied. Man klettert keck in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde, wie man ist, von der Wirrnis der inneren." - Thomas Mann, Buddenbrooks

 

Bewegung Wasser

 

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