(bi)
Vergangenheit (2) Es
gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf
dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen,
worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine
Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muß
so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette
von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die
unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er
möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in
seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr
schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er
den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das,
was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. - (Walter Benjamin)
Vergangenheit (3)
die vergangenheit ist klar vorbei |
- Ernst Herbeck
Vergangenheit (4) Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das
Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede
und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und
übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise
das A und O all unseres Redens und Fragens bildet,
allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht.
Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab
in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet,
die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich
als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen
Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose
zurückweichen Zutreffend aber heißt es hier »wieder und weiter«; denn mit unserer
Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem
Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht
sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht,
der des Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse,
die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.
- Thomas Mann, Joseph und seine Brüder (Die Geschichten Jaakobs) 1933
Vergangenheit (5)
- Abu Simbel, westlicher Koloss des Phré-Speos, Photographie von
Maxime du Camp, in: (
orient
)
Vergangenheit (6)
Die Vergangenheit ist wie ein immer länger werdender Bandwurm,
den ich aufgespult in mir trage und der kein einziges Glied verliert, so sehr
ich auch immer bemüht bin, meinen Darm zu entleeren in sämtliche Spül- oder
Steh- oder Plumpsklos, in die Kübel der Gefängniszellen, die Nachtgeschirre
der Krankenhäuser, die Lagerlatrinen oder einfach hinter die Büsche, nachdem
ich gut vorher nachgeschaut habe, daß nicht auf einmal eine Schlange hervorschießt
wie damals in Venezuela. Deine Vergangenheit kannst du so wenig ändern wie deinen
Namen: So viele Pässe ich auch schon hatte, mit Namen, an die ich mich selber
kaum noch erinnere, immer nannten mich alle nur Ruedi den Schweizer. - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
Vergangenheit (7) »Wenn
du einmal eine Vergangenheit hast, Vovonne, dann wirst du merken, was für eine
komische Sache das ist. Da sind erst einmal all die vielen Winkel mit Schutt
und Gerümpel, sonst nichts mehr. An anderen Stellen wuchert das Unkraut, und
auch dort ist nichts mehr zu erkennen. Dann wieder gibt es Fleckchen, die man
so schön findet, daß man sie alle Jahre neu anstreicht, mal mit dieser Farbe,
mal mit jener, und schließlich hat es nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit
dem, was es war. Ganz abgesehen von dem, was man zu der Zeit, als es sich zutrug,
für selbstverständlich und geheimnislos gehalten hat und das einem Jahre danach
gar nicht mehr so selbstverständlich ist, so wie man manchmal Tag für Tag an
einem Ding vorübergeht, ohne daß es einem auffällt, und dann auf einmal sieht
man es. « - Raymond
Queneau, Mein Freund Pierrot. Frankfurt am Main 1964 (zuerst 1942)
Vergangenheit (8) Wenn sich alles in der Zeit rückwärts
entwickelt, warum hat sich der Fernseher dann nicht in einen Haufen
Metall und Plastik verwandelt? Das sind seine Bestandteile, daraus wurde
er hergestellt - nicht aus einem alten Radio ... Nun, vielleicht ist
das die Bestätigung für einen alten philosophischen Gedanken: Platons
ideale Objekte. Die universellen Vorgaben, die in ihrer jeweiligen
Kategorie real sind. Frühere Formen leben in allen Objekten als
unsichtbare Überreste weiter. Die Vergangenheit ist latent und verborgen
immer vorhanden, sie ist noch da und kann wieder an die Oberfläche
kommen, wenn die spätere Version aufgrund unglücklicher Umstände
verschwindet ... Aber glaubte Platon nicht auch, dass irgendetwas den
Verfall und den Niedergang der Formen überlebt? Irgendetwas im Innern,
das nicht verfallen kann? Der Körper mag vergehen, wie Wendy verging,
aber die Seele ... Der Vogel fliegt aus dem Nest und sucht sich ein
neues Heim. Er will wiedergeboren werden, wie es im Tibetanischen
Totenbuch steht. Es ist die Wahrheit - ich hoffe es jedenfalls. Denn
dann können wir uns alle wieder sehen. Wie in »Pu der Bär« in einem
anderen Teil des Waldes, an einem klareren, dauerhaften neuen
Ort. - Aus Philip K. Dicks UBIK-Drehbuch,
nach (ubik)
Vergangenheit (9) Ich werde nun in die Betrachtung der Vergangenheit als einer Anhäufung von Sinnen eintreten, nicht als Auflösung
von Zeit, wie uralte Metaphern, die den Übergang darstellen,
implizierten. Das «Verstreichen von Zeit» ist bloß eine Erfindung des
Geistes ohne objektives Gegenstück, aber mit leicht herzustellenden
räumlichen Analogien. Man sieht sie nur irn Rückblick, Formen und
Schatten, Arven und Lärchen, die stumm zur Seite purzeln: unaufhörliche
Katastrophe zurückweichender Zeit, eboulements, Erdrutsche,
Gebirgsstraßen, wo dauernd <Steine schlagen> und <Männer
arbeiten>.
Wir bauen Modelle der Vergangenheit und gebrauchen sie dann spätiologisch, um <Zeit> zu vergegenständlichen und zu messen. Nehmen wir ein vertrautes Beispiel. Zembre, ein malerisches altes Städtchen am Minder-Fluß nahe Sorcière im Valais, ging nach und nach zwischen neuen Gebäuden verloren. Mit dem Anfang dieses Jahrhunderts hatte es ein definitiv modernes Aussehen angenommen, und die Denkmalspfleger entschlossen sich zum Handeln. Heute, nach Jahren geschickter Rekonstruktion, steht ein Abbild des alten Zembre mit seinem Schloß, seiner Kirche und seiner Mühle, auf das andere Ufer des Minder versetzt, gegenüber der modernisierten Stadt und ist von ihr durch eine Brückenlänge getrennt. Wenn wir nun die räumliche Ansicht (wie aus einem Hubschrauber gesehen) durch eine zeitliche (wie von einem Rückschauer gesehen) und das gegenständliche Modell des alten Zembre durch das geistige Modell davon, wie es in der Vergangenheit (etwa um 1822) war, ersetzen, dann stellt sich heraus, daß die moderne Stadt und das Modell der alten Stadt etwas anderes sind als zwei Punkte am gleichen Ort zu verschiedenen Zeiten (in räumlicher Perspektive sind sie gleichzeitig an verschiedenen Orten). Der Raum, in dem die moderne Stadt gerinnt, ist unmittelbar wirklich, während jene ihres retrospektiven Ebenbildes (wie man es gesondert von der materiellen Erneuerung sieht) in einem imaginären Raum schimmert, und wir können keinerlei Brücke benutzen, um von der einen Stadt in die andere zu gehen. Mit anderen Worten (so drückt man es aus, wenn am Ende sowohl der Autor als auch der Leser in hoffnungsloser Gedankenverwirrung umhertappen), alles, was wir tun, wenn wir im Geiste (und am Minder-Fluß) ein Modell der alten Stadt bauen, ist eine Verräumlichung derselben (oder vielmehr ein Herauszerren aus ihrem eigenen Element an die Küste des Raums). Daher stimmt der Ausdruck «ein Jahrhundert» in keiner Weise überein mit den hundert Fuß Stahlbrücke zwischen modernen und Modcllstadten, und das ist es, was wir beweisen wollten und jetzt bewiesen haben.
Die Vergangenheit ist demnach eine konstante Anhäufung von Bildern.
Sie kann leicht betrachtet und belauscht, aufs Geratewohl getestet und
gekostet werden, so daß sie aufhört, jenen planmäßigen Wechsel
miteinander verbundener Ereignisse zu bedeuten, wie sie es irn weiten
theoretischen Sinne tut. Sie ist jetzt ein üppiges Chaos, aus dem der
Genius totaler Erinnerung, an diesem Sommermorgen des Jahres 1922
herbeizitiert, alles nach Herzenslust herauspicken kann: übers ganze
Parkett verstreute Brillanten im Jahre 1888; eine rothaarige Schönheit
mit schwarzem Hut in einer Pariser Bar 1901; eine feuchte rote Rose
zwischen künstlichen 1883; das verträumte Halblächeln einer jungen
englischen Gouvernante 1880, während sie säuberlich die Vorhaut ihres
Zöglings nach der Gute-Nacht-Vergnügung wieder schließt; ein kleines
Mädchen, 1884, das den Frühstückshonig von den arg zerkauten Nägeln
ihrer gespreizten Finger leckt; die gleiche mit dreiunddreißig, erst
ziemlich spät eingestehend, daß sie Blumen in Vasen nicht mag; der
fürchterliche Schmerz, der ihm in die Seite stach, während zwei Kinder
mit einem Korb voll Pilzen im lustig brennenden Kiefernwald zuschauten;
und dem erschrockenen Quack eines belgischen Autos, das er gestern an
einer unübersichtlichen Kurve der alpinen Straße überholt und passiert
hatte. Solche Bilder sagen uns nichts über die Textur der Zeit, in die
sie hineingewoben sind - außer vielleicht bei einem Aspekt, dem übrigens
schwer beizukommen ist. Unterscheidet sich die Farbgebung eines
erinnerten Gegenstands (oder irgend etwas anderes an seinem sichtbaren
Eindruck) von Datum zu Datum? Könnte ich an seiner Färbung erkennen, ob
er früher oder später, tiefer oder flacher in der Stratigraphie meiner
Vergangenheit erscheint? Gibt es irgendein Uran des Geistes, dessen Trau
m-Delta-Zerfall dazu benutzt werden könnte, das Alter einer Erinnerung
zu messen? Die Hauptschwierigkeit, möchte ich gleich erklären, besteht
darin, daß der Experimentator nicht in der Lage ist, dasselbe Objekt zu
verschiedenen Zeiten zu gebrauchen (etwa den holländischen Ofen mit
seinen kleinen blauen Segelbooten im Kinderzimmer vom Herrenhaus auf
Ardis 1884 und 1888), weil die zwei oder mehreren Eindrücke voneinander
ausborgen und im Geiste ein zusammengesetztes Bild ergeben; wenn aber
verschiedene Objekte gewählt werden sollen (etwa die Gesichter zweier
denkwürdiger Kutscher: Ben Wright, 1884, und Trofim Fartukov, 1888), ist
es unmöglich, jedenfalls so weit meine eigene Forschung reicht, das
Eindringen nicht nur verschiedener Eigentümlichkeiten, sondern auch
verschiedener gefühlsmäßiger Umstände zu vermeiden, die es verbieten,
beide Objekte als im wesentlichen gleich zu betrachten, noch ehe sie,
sozusagen, dem Handeln der 'Zeit> ausgesetzt wurden. Ich bin mir
nicht sicher, ob solche Objekte nicht doch entdeckt werden können. Bei
rreiner beruflichen Arbeit in den Laboratorien der Psychologie habe ich
mir so manchen raffinierten Test ausgedacht (von denen einer, nämlich
die Methode, weibliche Jungfräulichkeit ohne körperliche Untersuchung
festzustellen, heute meinen Namen trägt). Deshalb dürfen wir aiinehmen,
daß das Experiment durchgeführt werden kann — und wir
quälend dann die Entdeckung gewisser exakter Ebenen abnehmender
Sattheit oder sich vertiefende! Helligkeit - so exakt, daß das
«irgendwas», das ich undeutlich an dem Bild eines erinnerten, aber nicht
identifizierbaren Menschen wahrnehme und das es «irgendwie» eher meiner
frühen Kindheit als meiner Jugend zuschreibt, wenn nicht mit meinem
Namen, so doch zumindest mit einem endgültigen Datum beschriftet werden
kann, z.B. 1. Januar 1908 (heureka! das «z. B.» wirkte - er war der frühere Hauslehrer meines Vaters, der mir zu meinem achten Geburtstag Alice in der Camera Obscura schenkte).
Unsere Wahrnehmung der Vergangenheit ist nicht in so
hohem Maße gekennzeichnet durch den Zusaiflmen-hang der Aufeinanderfolge
wie die Wahrnehmung der Gegenwart und der Augenblicke unmittelbar vor
ihrem Wirklichkeits-Punkt. Ich rasiere mich normalerweise jeden Morgen
und wechsle für gewöhnlich die Klinge m meinem Rasierapparat nach jeder
zweiten Rasur; hin und wieder überschlage ich aber versehentlich einen
Tag, niuß dann am nächsten Tag einen gewaltigen Wuchs geräuschvoller
Borsten abschaben, deren hartnäckige Gegenwart von meinen Fingern wieder
und wieder zwischen den Strichen ertastet wird, und in solchen Fällen
benutze ich die Klinge nur einmal. Wenn ich mir nun eine erst kürzlich
erfolgte Reihe von Rasuren vergegenwärtige, lasse ich das Element der
Aufeinanderfolge außer acht: was ich wissen möchte, ist allein, ob die
Klinge, die m meinem silbernen Pflug steckt, ihre Arbeit ein- oder
zweimal getan hat; wenn es einmal war, hat die Reihenfolge in meinem
Gedächtnis der zwei Tage, an denen die Stoppeln wachsen, keine
Bedeutung- in der Tat neige ich dazu, den zweiten, kratzigeren Morgen
zuerst zu hören und zu fühlen und dann erst den rasurlosen Tag
dazuzutun, was zur Folge hat, daß mein Bart umgekehrt wächst,
gewissermaßen. - (ada)
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