rophet   Sie haben ich weiß nicht was für Priester und Propheten, die sich sehr selten dem Volke zeigen und ihren Aufenthalt im Gebirge haben. Bei ihrer Ankunft wird ein großes Fest und eine feierliche Versammlung mehrerer Dörfer veranstaltet (jede Scheune, wie ich es beschrieben habe, bildet ein Dorf, und sie liegen etwa eine französische Meile voneinander).

Dieser Prophet redet öffentlich zu ihnen und vermahnt sie zur Tugend und zu ihren Pflichten; allein ihre ganze Sittenlehre enthält nur diese beiden Sätze der Standhaftigkeit im Kriege und der Liebe zu ihren Frauen. Er weissagt ihnen die kommenden Dinge und den Ausgang, den sie von ihren Unternehmungen erhoffen sollen, rät ihnen zum Kriege oder widerrät ihn; aber dabei halten sie es so, daß er, wenn er in seiner Weissagung fehlgeht und es ihnen anders widerfährt, als er ihnen vorhergesagt bat, in tausend Stücke gerissen wird, falls sie seiner habhaft werden, und verurteilt wird als falscher Prophet.

Weswegen einer, der sich einmal verrechnet hat, nie wieder gesehen wird. - (mon)

Prophet (2) Der Prophet Jurieu ward ausgepfiffen; die Propheten der Cevennen wurden gehängt oder gerädert; die Propheten, welche aus dem Languedoc und dem Dauphiné nach London kamen, wurden an den Pranger gestellt; die wiedertäuferischen Propheten wurden zu verschiedenen Todesstrafen verdammt; der Prophet Savonarola ward in Florenz gesotten; dem Propheten Johannes, genannt auch der Täufer oder Baptist, ward der Kopf abgeschlagen.

Man behauptet, daß Zacharias erschlagen wurde; aber Gott sei Dank ist das nicht bewiesen. Der Prophet Jeddo oder Addo, welcher nach Beth-El gesandt ward mit dem Geheiß, nicht zu essen noch zu trinken, und dann zum Unglück ein Stück Brot aß, ward seinerseits von einem Löwen gegessen, und zwischen seinem Esel und diesem Löwen fand man auf der Landstraße seine Knochen. Jonas ward von einem Fisch verschlungen; zwar blieb er in dessen Bauch nur drei Tage und drei Nächte, doch sind das immerhin zweiundsiebzig Stunden, die es sehr unerquicklich zu verbringen galt.

Habakuk ward an seinen Haaren durch den Himmel nach Babylon getragen. Das ist gewiß kein großes Unglück, doch ein sehr unbequemes Fuhrwerk. Wer über den Raum von dreihundert Meilen an den eigenen Haaren hängt, der hat viel zu leiden. Mir wäre ein Paar Flügel lieber gewesen oder die Stute Burak oder der Vogel Greif.

Als Micha, des Jemla Sohn, den Herrn auf seinem Thron hatte sitzen sehen mit dem himmlischen Heere zur Rechten und zur Linken und ihn fragen hören, wer gehen wolle, den König Ahab zu täuschen, und hatte treten sehen vor den Herrn den Teufel, daß er den Auftrag übernehme, so gab Micha von seiten des Herrn über dies himmlische Abenteuer dem König Ahab genaue Rechenschaft. Zwar bekam er zum Lohn nur eine ungeheure Ohrfeige von des Propheten Zekedia Hand, zwar ward er nur für ein paar Tage in ein Verlies gesteckt; doch schließlich ist es dem Gottbegeisterten unerfreulich, geohrfeigt und gepfercht am Kerkerboden zu hocken.

Es heißt, daß der König Amazja dem Propheten Amos die Zähne ausreißen ließ, damit er nicht mehr rede. Zwar läßt es sich gewiß auch ohne Zähne sprechen; wie geschwätzig hat man nicht manch zahnlos altes Weib gesehen! Doch eine Prophezeiung gilt es deutlich auszusprechen, und einem zahnlosen Propheten lauscht man nicht mit der gebührenden Achtung.

Baruch erlitt mancherlei Verfolgung. Ezechiel ward von den Gefährten seiner Sklaverei gesteinigt. Man weiß nicht, ob Jeremia gesteinigt oder entzweigesägt wurde.

Was den Jesaja angeht, so heißt es beständig, daß er zersägt wurde auf Befehl des Manasse, des Zaunkönigs von Juda.

Zugestanden: Prophet zu sein ist ein böses Handwerk.- Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, nach (vol)

Prophet (3) Mohammed  Ich schwöre bei der Morgenröte, bei den Paaren und bei den Nullen, daß die Gottlosen bestraft und in die Flammen geworfen werden, in denen sie nicht sterben können. Wir haben die Hölle zur Strafe für die meuternden Engel geschaffen und für die Menschen, die ein Herz haben und nicht den Antrieb der Tugend verspüren, die Augen haben und nicht sehen, Ohren und nicht hören. Dort werde ich die Gottlosen bestrafen, diejenigen, die seine Existenz mißachteten, diejenigen, die meinen Vorschriften nicht gehorchten, diejenigen, die nicht an die Einheit eines Allmächtigen Gottes glauben wollten, und diejenigen, die den Armen das Brot wegaßen. Die Schätze der Welt werden sie nicht erlösen können, und ihr Elend wird kein Ende haben; ich werde sie in einem ewigen Feuer brennen lassen, und ihre Haut will ich neu machen, auf daß sie von neuem verbrenne; die Hölle soll ihr Lager sein, das Feuer ihre Speise, und vergeblich sollen sie um ein Mittel gegen das geschmolzene Erz bitten, in das sie geworfen werden und das ihr Trank sein soll. Wenn sie versuchen, herauszukommen, werden sie mit eisernen Keulen geschlagen, und sie werden schreien:

»Möge es Gott gefallen, mich auf die Erde zurückkehren zu lassen, denn dann wäre ich einer aus der Zahl der Gläubigen!« Sie werden den fragen, der das höllische Feuer leitet: »Wird dein Herr uns von diesen Qualen befreien?« Und er wird ihnen antworten: »In alle Ewigkeit werdet ihr leiden.« Gott wird die Hölle fragen: »Bist du voll?« Und die Hölle wird antworten: »Sind nicht mehr da?«

Koran, Kapitel von der Morgenröte, der Verfolgung, der Vorhöllen, der Prüfung, der Frauen, der Kuh, der Belohnung, des Gerichts über die Sache; Pastoret, Cesare Cantú, Storia Universale (1866) - (boc)

Prophet (4) Die Befürchtungen des Volkes wurden ebenso ungewöhnlich gesteigert durch den Irrglauben jener Zeit, in der, glaube ich, die Leute - aus welchem Grunde, kann ich mir nicht vorstellen - Prophezeiungen, Träumen, astrologischen Beschwörungen und Altweibermärchen mehr als je zuvor oder danach ergeben waren. Ob dieser unglückliche Hang seinen Ursprung den Narrheiten einiger Leute verdankte, die damit Geld verdienten, das heißt, indem sie Weissagungen und Vorhersagungen drucken ließen, weiß ich nicht, aber gewiß ist, daß Bücher wie »Lilys Almanach«, Gadburys »Astrologische Voraussagen«, »Poor Robins Almanach« und andere sie furchtbar in Schrecken versetzten, ebenso wie verschiedene angeblich religiöse Bücher, darunter eines mit dem Titel »Komm heraus aus Ihr, mein Volk, damit du nicht Teilnehmer an ihren Plagen bist«, ein anderes betitelt »Aufrichtige Warnung«, wieder ein anderes »Britanniens Mahner« und viele solche; alle oder doch der größte Teil von ihnen sagten offen oder versteckt den Untergang der Stadt voraus; ja, einige waren so schwärmerisch begeistert, daß sie mit ihren mündlichen Weissagungen durch die Straßen liefen und behaupteten, sie seien gesandt, um der Stadt zu predigen, und vor allem rief einer, wie Jona zu Ninive, in den Straßen aus: »Noch vierzig Tage, und London wird zerstört werden.« Ich will nicht für gewiß behaupten, ob er »vierzig Tage« oder nur »ein paar Tage« sagte.

Ein anderer rannte nackt umher, nur ein Paar Unterhosen um seinen Leib gewickelt, und rief Tag und Nacht wie ein Mann, den Josephus erwähnt und der »Wehe Jerusalem« kurz vor der Zerstörung dieser Stadt geschrien habe; so rief dieses arme nackte Geschöpf: »Oh! der große und schreckliche Gott! « Weiter sagte er nichts, sondern wiederholte beständig mit einer Stimme und einem Gesicht voller Schrecken und mit schnellem Schritt diese Worte, und nie konnte jemand bemerken, daß er einhielt oder ruhte oder etwas Nahrung zu sich nahm, wenigstens habe ich davon nichts gehört. Ich traf diese bedauernswerte Kreatur verschiedene Male in den Straßen und hätte ihn angesprochen, aber er wollte sich weder mit mir noch mit sonst jemand in ein Gespräch einlassen, sondern fuhr ohne Pause in seinen schauderhaften Schreien fort. - Daniel Defoe, Die Pest in London (zuerst 1722)

Prophet (5) Der Prophet Muhamed liebte die Katzen ungemein und schnitt einst, da seine Katze auf dem Zipfel seines Kleides eingeschlafen war, lieber den Zipfel ab, als daß er sie weckte, wobei er vielleicht an das Sprichwort der Franzosen dachte: Il ne faut pas éveiller chat qui dort. - (kjw)

Prophet (6) Im Jahr 163 der Flucht und im fünften des Strahlenden Antlitzes wurde Hakim in Sanam vom Heer des Kalifen eingeschlossen. An Vorräten und Märtyrern war kein Mangel, und man war der ungesäumten Hilfe einer Rotte von Lichtengeln gewärtig. So standen die Dinge, als ein furchtbares Gerücht die Festung durchlief. Es wurde erzählt, eine Ehebrecherin des Harems hätte, als sie von den Eunuchen erdrosselt wurde, geschrien, an der rechten Hand des Propheten fehle der Ringfinger, und die anderen seien ohne Nägel. Das Gerücht verbreitete sich unter den Gläubigen. Im grellen Sonnenlicht, auf einer erhöhten Terrasse, bat Hakim die vertraute Gottheit um einen Sieg oder um ein Zeichen. Mit eingezogenem Kopf, diensteifrig - als liefen sie wider Regenschwaden an - rissen zwei Hauptleute ihm den juwelenbestickten Schleier herunter.

Ein Schauder war das erste. Das verheißene Antlitz des Apostels, das Antlitz, das in den Himmeln gewesen war, es war in der Tat weiß, aber von dem eigentümlichen Weiß der Fleckenlepra. Es war so aufgeschwollen oder unglaubhaft, daß es ihnen wie eine Maske vorkam. Es hatte keine Brauen; das Unterlid des rechten Auges hing auf die altersschlaffe Wange herab; ein schweres Gehänge von Tuberkeln zerfraß die Lippen; die unmenschliche abgeplattete Nase war die eines Löwen.

Die Stimme Hakims versuchte einen letzten Betrug: »Eure abscheuerregende Sünde hindert euch, meinen Glanz zu sehen«, begann er zu sprechen.

Sie hörten nicht auf ihn und durchbohrten ihn mit Lanzen.  - (bo3)

Prophet (7) Keola war mit Lehua verheiratet, der Tochter Kalamakes, des weisen Mannes von Molokai, und er wohnte mit dem Vater seines Weibes zusammen. Es gab keinen verschlageneren Menschen als diesen Propheten. Er las in den Sternen und deutete die Zukunft aus den Körpern der Toten und mit sonstigen üblen Hilfsmitteln. Er stieg allein auf die höchsten Berggipfel zum Reich der Dämonen hinauf, und dort legte er Schlingen, um die Geister der Vorzeit einzufangen.

Deshalb war keines Menschen Rat so begehrt im ganzen Königreich Hawaii wie der seine. Nach seinen Empfehlungen kauften und verkauften kluge Leute, nach seinen Vorschlägen heirateten und richteten sie ihr Leben ein. Zweimal hatte ihn der König nach Kona kommen lassen, um die Schätze von Kamehameha zu suchen. Keinen Menschen hat man je mehr gefürchtet. Einige seiner Feinde ließ er durch seinen Zauberbann krank dahinsiechen, andere waren mit Leib und Leben verschwunden, so daß die Leute,nicht einmal ihre Gebeine fanden. Es ging das Gerücht, er verfüge über die List und die Gaben der alten Helden. Einige Leute hatten ihn des Nachts auf den Bergen gesehen, wie er von Klippe zu Klippe schritt; sie hatten ihn im hohen Busch gesehen, und sein Kopf und seine Schultern hatten die Bäume überragt.

Dieser Kalamake sah sehr seltsam aus. Er entstammte dem besten und reinsten Blut von Molokai und Maui. Trotzdem war er weißer als irgendein Ausländer. Sein Haar hatte die Farbe von trockenem Gras. Seine Augen waren gerötet und völlig blind. - Robert Louis Stevenson, Die Insel der Stimmen.

Prophet (8) Siehe den hochstaunenden Satrapen. Die Welt ist seinem Blicke Wunder und Zeichen voll Sinnes, voll Gottheit! .... Rücke den Kopfbund, der itzt das Netz eines frisirten Kopfes zu seyn scheinet, zum Krankentuche der schmerzvollen, gedankenschwangern Stirn hinunter. Lege sodann auf die mittlere, itzt so helle, platte, gespannte, Fläche zwischen den Augenbraunen, die dem Urbilde, auch in Zeiten großer Mühe, nur selten ist, eine dunkle, elastische Wolke, einen Knoten voll Kampfes, und du hast, dünkt mich, eine kleine Schattengestalt seines Wesens.

Hamann, Der Magus aus Norden

Im Auge ist gediegner Lichtstral. Was es sieht, sieht's durch, ohne mühsame Meditation und Ideenreihung - Ist es dir nicht beym Blicke und Buge des Augenbrauns, als ob es seitwärts oder von untenher schaue, und sich seinen eigenen Anblick gebe? Ist's nicht, als kreuzten sich seine Stralen? oder der Brennpunkt liege tief hin? - Kann ein Blick mehr tiefer Seherblick seyn? Prophetenblick zur Zermalmung mit dem Blitze des Witzes! - Siehe, wie das abstehende fast bewegliche Ohr horchet? Die Wange, wie einfach, ruhig, gedrängt, geschlossen! Nichts spitzes, nichts hervorfühlendes ist in der Nase. Nichts von dem feinen, müßigen Scharfsinn, der in Subtilität und fremdem Geschaffte wühlet; -was sie aber anweht, - nahe, stark weht sie's an; siehest du nicht in ihr den gehaltenen, regen Athem, zu dem sie gebildet ist? - und im Munde? . . . wie kann ich aussprechen die Vielbedeutsamkeit dieses Mundes, der spricht, und innehält im Sprechen - spräche Areopagiten Urtheil - Weisheit, Licht und Dunkel - diese Mittellinie des Mundes! Noch hab' ich keinen Menschen gesehen mit diesem schweigenden und sprechenden, weisen und sanften, treffenden, spottenden und - edeln Munde! Mir ist, ihm schweben die Worte auf der Lippe: »den einen Theil verbrennet er mit Feuer; mit dem andern bratet er das Fleisch, daß er gebratenes esse und satt werde. Er wärmet sich, daß er spricht: ha! ha! Ich bin wohl erwärmt; ich habe das Feuer gesehen. Den übrigen Theil desselben machet er zu einem Gotte - und spricht:
Erlöse mich, denn du bist mein Gott!« -

Diesen Prophetenblick! dieses durchschauende, Ehrfurcht erregende Staunen! voll würksamer, treffender, gebährender Urkraft! dieses stille, kräftige Geben weniger, gewogener Goldworte - diese Verlegenheit - keine Scheidemünze für den Empfänger und Warter an der Hand zu haben - Hieroglyphensäule! Ein lebendiges:

Quos ego - sed motos praestat componere fluctus.

- (lav)

Prophet (9) VND des HERRN wort geschach zu mir / vnd sprach / Du Menschenkind / sprich zu jnen / Du bist ein Land / das nicht zu reinigen ist / wie eins / das nicht beregent wird / zur zeit des zorns. Die Propheten so drinnen sind / haben sich gerottet / die Seelen zu fressen / wie ein brüllender Lew / wenn er raubet / Sie reissen gut vnd gelt zu sich / vnd machen der Widwen viel drinnen. Jre Priester verkeren mein Gesetz freuelich / vnd entheiligen mein Heiligthum / Sie halten vnter dem Heiligen vnd vnheiligen kein vnterscheid / vnd leren nicht / was rein oder vnrein sey / Vnd warten meiner Sabbathen nicht / vnd ich werde vnter jnen entheiliget. Jre Fürsten sind drinnen / wie die reissende Wolffe / blut zuuergiessen / vnd Seelen vmb zubringen / vmb jres Geitzes willen.

VND jre Propheten / tünchen sie mit losem Kalck / predigen lose teiding / vnd weissagen jnen Lügen / vnd sagen / so spricht der HErr HERR / So es doch der HERR nicht geredt hat. Das volck im Lande vbet gewalt / vnd rauben getrost / vnd schinden die Armen, vnd Elenden / vnd thun den Frembdlingen gewalt vnd vnrecht. Jch sucht vnter jnen / Ob jemand sich eine Maur machete / vnd wider den Riss stünde gegen mir / für das Land / das ichs nicht verderbete / Aber ich fand keinen. Darumb schüttet ich meinen zorn vber sie / vnd mit dem Fewr meines grimmes macht ich jr ein ende / vnd gab jnen also jren verdienst auff jren Kopff / spricht der HErr HERR. - Prophet Hesekiel, Kap. 22

Prophet (10)   Der Prophet  sieht nur auf einen einzigen bestimmten Zweck; solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgendeine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hiezu bedarf es nur, daß die Welt glaube; er muß also eintönig werden und bleiben, denn das Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es. - Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans (zuerst 1819)

Prophet (11)  Andere Araber,  verwegener, behaupteten, Mahomet habe ihre Sprache und Literatur verdorben, so daß sie sich niemals wieder erholen werde. Der Verwegenste jedoch, ein geistvoller Dichter, war kühn genug zu versichern: alles, was Mahomet gesagt habe, wollte er auch gesagt haben, und besser, ja er sammelte sogar eine Anzahl Sektierer um sich her. Man bezeichnete ihn deshalb mit dem Spottnamen Motanabbi, unter welchem wir ihn kennen, welches soviel heißt als: einer, der gern den Propheten spielen möchte. - Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans (zuerst 1819)

Prophet (12)  Mormone, der - Anhänger von Joseph Smith, welcher von einem Engel eine Offenbarung empfing, die auf Messingtafeln aufgezeichnet war und später von Smiths Nachfolger in der Stellung des leitenden Propheten revidiert und erweitert wurde. Als sie noch harmlose Leute waren, wurden die Mormonen bitterlich verfolgt, ihr Prophet ermordet, ihre Häuser verbrannt und sie selbst in die Wüste gejagt. Dort gediehen sie, betrieben Vielweiberei und verfolgten ihrerseits prächtig.

»Sie sagen, die Mormonen seien Lügner. Sie sagen, Joseph Smith habe nicht aus den Händen eines Engels die Offenbarung erhalten, der wir gehorchen. Sollen sie es doch beweisen!« Brigham Young, Prophet und Logiker - (bi)

Prophet (13)  Fortuné Roustan beendete sein Leben in einem Altersheim. Er war ein höchst intelligenter Greis und von erstaunlicher geistiger Aktivität. Er schreibt Gedichte unter der Inspiration von Jeanne d'Arc und Unserer lieben Frau von Salette und sieht in der Tatsache, daß er mit achtzig Jahren Dichter geworden ist, den Beweis für den göttlichen Ursprung seiner Inspiration. In Wirklichkeit war sein erstes Werk ein Gedicht und er schrieb nie etwas anderes. Sie sehen, wie traurig dieses Prophetenleben ist, das sich immer irrte und manchmal log. - (lim)

Prophet (14)   Der Koran spricht von zweihundertvierundzwanzigtausend Propheten. In seinen Anmerkungen zum sogenannten Kanon der Apostel zählt der Bischof Epiphanius dreiundsiebzig jüdische Propheten und zehn Prophetinnen auf. Der Beruf eines Propheten war bei den Juden weder ein Ehrenamt noch eine akademische Würde oder ein Berufsstand im Staat; man erwarb den Prophetentitel nicht, wie man in Oxford oder Cambridge zum Doktor promoviert wird; mochte prophezeien, wer wollte; es genügte, die Berufung und den göttlichen Geist zu besitzen, oder zu glauben, oder vorzugeben, man besitze sie. Tanzend und Psalter spielend verkündete man die Zukunft. Wenngleich Saul verstoßen war, so gab er doch vor, Prophet zu sein. In den Bürgerkriegen hatte jede Partei ihre Propheten, so wie wir die Schreiberlinge der Grub-street* haben. Die beiden Parteien schimpften sich wechselseitig Narren, Schwärmer, Lügner, Schurken, und nur darin sprachen sie die Wahrheit. Scitote Israel stultum prophetam, Insanum virum spiritualem, heißt es bei Hosea in der Vulgata.

»Die Propheten von Jerusalem sind Narren, Männer ohne Glauben«, sagt Sophonias, der Prophet von Jerusalem. Sie alle sind wie unser Apotheker Moore, der in den Gazetten drucken läßt: »Nehmt meine Pillen, hütet euch vor Fälschungen!«

Als der Prophet Micha den Königen von Samaria und Judäa Unheil voraussagt, verabreicht ihm der Prophet Zedekias eine gewaltige Ohrfeige mit den Worten: »Wie ist der Geist Gottes durch mich hindurch zu dir gekommen?«

Jeremias, der zugunsten von Nebukadnezar, dem Tyrannen der Juden, prophezeite, legte sich Stricke um den Hals und band sich einen Packsattel oder ein Joch auf den Rücken, denn dies war ein Sinnbild; und er sollte dieses Sinnbild zu den kleinen benachbarten Schattenkönigen schicken und sie damit auffordern, sich Nebukadnezar zu unterwerfen. Der Prophet Hananja, der in Jeremias einen Verräter sah, zerrte ihm die Stricke herunter, zerriß sie und warf sie zu Boden.

Und Gott befiehlt Hosea, sich eine Hure zu nehmen und Hurensöhne zu zeugen. Vade, sume tibi uxorem fornicationum, et fac tibi filios fornicationum, heißt es in der Vulgata. Hosea gehorcht aufs Wort, er nimmt sich Gomer, die Tochter von Diblaim, und zeugt mit ihr drei Kinder. Und also dauerten diese Prophezeiung und diese Hurerei mindestens drei Jahre. Das genügt dem Gott der Juden nicht; er verlangt, Hosea solle mit einer Frau schlafen, die ihren Mann schon zum Hahnrei gemacht hat. Das kostet den Propheten nur fünfzehn Drachmen und anderthalb Scheffel Gerste, was für einen Ehebruch recht billig ist. Dem Patriarchen Juda war der Inzest mit seiner Schwiegertochter Thamar nicht einmal so teuer zu stehen gekommen.

* Grub-street ist die Straße, wo die meisten schlechten Pamphlete gedruckt werden, die täglich in London erscheinen. - (vol)

Prophet (15)  Ich  kam an einen Höllen-Ort, wo einer, sehr schmutzig, in einem Winkel kauerte. Er hatte ein Fersenbein zu wenig und eine Schmarre im Gesicht, er war mit Kamelglöckchen behängt, brannte und stieß Lästerungen aus.

»Wer bist du«, fragte ich ihn, »unter so vielen Bösen der Schlimmste?«

»Ich«, sagte er, »bin Mohammed.« Und das sagten auch sein erbärmlich kleiner Wuchs, die Narbe und die Glöckchen, Zeichen eines Kameltreibers. »Du bist«, sagte ich, »der schlechteste Mensch, den es auf der Welt gab, und hast die meisten Seelen in die Hölle gebracht.«

»Dafür büße ich«, antwortete er, »während die unseligen Afrikaner droben mein Fersenbein verehren, das mir hier abgeht.« - Francisco de Quevedo, Die Träume. Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller. Frankfurt am Main 1966 (zuerst 1627)

Prophet (16)  Ich habe nie einen Propheten des Alten Testaments gesehen, doch beim Anblick dieses Mannes, welchen der Zorn Gottes zu Fall gebracht hatte, der jetzt mit weitgespreizten Beinen auf dem riesigen Nachtgeschirr aus Porzellan saß, bedeckt vom Sturmwind der Schultern, von einer Wolke verzweifelter Verrenkungen, über denen noch höher seine fremde, harte Stimme schwebte, verstand ich den göttlichen Zorn der heiligen Männer.

Es war ein schrecklicher Dialog, gleich der Sprache des Gewitters. Die Verrenkungen seiner Arme rissen den Himmel in Stücke, und in den Spalten zeigte sich das Antlitz Jehovas, aufgebläht vor Zorn und Flüche speiend.  - Bruno Schulz,  Heimsuchung. In (bs)

Prophet (17)   «Wenn Ihr mir meine Konsommation und Spesen zahlt, werde ich etwas vollbringen, daß die ganze Welt und die ganze Weltpresse von Dada sprechen wird!» versetzte im «Café des Westens» Johannes Baader, unser erwählter Ober-Dada, und strich sich seinen gepflegten Täuferbart. Allein schon dieses Prachtstück war uns das wert - so wie auch sein gesalbter Name, der ihn gleichnishaft zum Prediger in der märkischen Sandwüste prädestiniert hatte, obwohl ER-SELBER von Beruf Architekt war; Erbauer des Eisbärenfelsens in Hagenbecks Zoologischen Garten, Hamburg-Stellingen.

Aber sein Wesen strahlte jenes radioaktive Fluidum aus, das von Derwischen, afrikanischen Marabuhs, russischen Staretzin, polnischen Wunderrabbis emaniert, und von den Jeremiaspropheten, die in härenen Büßerhemden, auf ausgelatschten Sandalen durch die Korruptionssümpfe und über das Pflaster des New Yorker Broadway und Columbus-Circle wandeln, mit einem Pappkarton-Menetekel in Fäusten:

Der Jüngste Tag ist morgen -
Gehen Sie heute noch in sich!

- Walter Mehring, Berlin Dada. Zürich 1959

Prophet (18)  Es ist aber ein gütiger vnd sanffter Man gewest / schilt vnd strafft nicht so / wie die andern Propheten / sondern flehet vnd klagt / Wolt gern die Leute from machen mit guten freundlichen worten / vnd sie für schaden vnd vnglück bewaren. Aber es wird jm freilich / wie andern Propheten / gegangen sein / Das man seinem wort nicht gegleubt / vnd jn für einen Narren gehalten hat. - Luther, Vorrede zum Propheten Joel, nach (lut)

Prophet (19)    Der Prophet Hosea sagte zu einer Kurtisane: »Freundin, lege dich dorthin, daß ich durch Hurerei dir ein Kind mache«, und niemand entrüstete sich über diese Worte oder die Angelegenheit. Eine unverzeihliche Sünde begeht, wer einen Priester schlägt. Und wer ihn versehentlich tötet, wird verurteilt, sein ganzes Leben lang betteln zu gehen, mit dem Priesterschädel in der Hand. - (sop)

Prophet (20)   »Alle Kinder fragen nach meinem Tamburin. Ich hab ihr gesagt, daß ich draufschlage, um auf mich aufmerksam zu machen. Es ist mein Arbeitsgerät. Prophezeien geht nicht ohne Publikum, und das ist eben meine Art, zu einem Publikum zu kommen. Prophezeiungen sind mein Geschäft, auch wenn die Bullen es Bettelei nennen oder gar Erpressung. Von Erpressung kann überhaupt keine Rede sein. Wenn ich vor einem Laden stehe und wahrsage, und der Ladenbesitzer drückt mir was in die Hand, damit ich weitergehe, ist das keine Erpressung. Für ihn ist es die vernünftigste Lösung, und für mich ist es besser als Sozialhilfe. Oder ich geh einem Touristenehepaar nach und prophezeie ihm, daß morgen die Welt in die Luft fliegt oder etwas anderes, was sie nicht hören wollen, weil sie noch eine Woche Urlaub haben, dann stecken die mir vielleicht was zu, damit ich weggeh. Ich will gar nicht behaupten, daß es die feine Art ist, sich durchs Leben zu schlagen, aber das Geschäft ist mindestens so redlich wie manches andere, Ihrs nicht ausgenommen, Mr. Hyatt. Finanzielle Vorhersagen sind oft nicht fundierter als meine Prophezeiungen. Und was Sie angeht, Sir -« er deutete mit einem Finger, dem das vorderste Glied fehlte, als habe ein unseliger Adressat seiner Prophezeiungen es abgehackt, auf Michael, den Pastor, »Sie und Ihresgleichen verbreiten sich über Himmel und Hölle und lassen dann den Kollekteteller rumgehen. Wissen Sie, warum die Leute Geld auf den Kollekteteller tun? Weil sie Angst haben. Und aus dem gleichen Grund krieg ich Geld von dem Ladenbesitzer und von den Touristen. Aber kein Mensch nennt Ihr Geschäft Erpressung.«

»Haben Sie eine Ahnung«, sagte Michael sarkastisch. - Margaret Millar, Banshee die Todesfee. Zürich 1987 (zuerst 1983)

Prophet (21) Für Charles Taze Russell, den Gründer der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, war „der Krieg von Harmagedon“ ein so wichtiges Thema, dass er den 1897 erschienenen vierten Band seiner Schriftstudien so benannte. Er meinte damals, dass dieser Krieg bereits im Gange sei und 1914 mit dem Anbruch des Friedensreich Platz enden werde. - Wikipedia

Prophet (22)  « Haben Sie nun tatsächlich jemand aus dem Haus gehen sehen? Ich meine, wirklich gesehen? Während Sie unten waren?»

«Meine Augen waren verhüllt. Ich wußte, daß ich vor einer Vision stand.»

«Also gut, Reverend. Ich werde Sie jetzt laufenlassen», sagte Brody und betrachtete den Inhalt von Reverend Shorts Taschen, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. «Aber das muß ich sagen: für einen Mann, der sich selbst als Diener des Evangeliums bezeichnet, waren Sie nicht sehr hilfsbereit.»

Reverend Short regte sich nicht.

Brody schob Taschenbibel, Taschentuch, Schlüsselbund und Brieftasche über die Schreibtischplatte, zögerte bei der Medizinflasche, und einem plötzlichen Impuls folgend, zog er den Korken heraus und roch daran. Er blickte überrascht auf. Er führte die Flasche an die Lippen, kostete und spuckte auf den Boden. «Grundgütiger!» rief er aus. «Pfirsichschnaps mit Opiumtinktur.»

«Das ist für meine Nerven», sagte Reverend Short feindselig.

«Sie meinen für Ihre Visionen. Wenn ich das Zeug trinken würde, bekäme ich auch Visionen.» Angewidert sagte Brody zu den beiden Polizisten: «Bringt ihn raus!»

Plötzlich begann Reverend Short zu schreien: «Laßt sie nicht entkommen! Verhaftet sie! Verbrennt sie! Sie ist eine Hexe! Sie steht mit dem Teufel im Bund! Und Chink ist ihr Helfer!»

«Wir werden uns schon um sie kümmern», versprach der eine Polizist nd als sie ihn von dem Hocker hoben. «Für Hexen ist hier der ric'htige Platz. Aber auch für Hexenmeister. Seien Sie also vorsichtig.» Reverend Short riß sich von ihnen los und fiel zu Boden. Er rollte und schlug krampfhaft um sich. Schaum stand ihm vor dem Mund wie bei einem epileptischen Anfall.

«Jetzt sehe ich, was ihr unter heiligen Rollern versteht», sagte Brody zu Grave Digger und Coffin Ed.

Der Polizeistenograf unterdrückte mühsam ein Lachen.

«Nein. Wahrscheinlich bekommt er jetzt eine Vision», sagte Grave Digger mit ernstem Gesicht.

Brody sah ihn scharf an. Die Polizisten faßten Reverend Short bei den Schultern und Füßen und trugen ihn hinaus. Einen Augenblick später kam der eine zurück, um das Eigentum des Reverend zu holen.

«Ist der verrückt, oder spielt er nur Theater?» fragte Brody.

«Vielleicht beides», antwortete Grave Digger.

«Schließlich kann an dem, was er sagt, was dran sein», gab Coffin Ed zu bedenken. «Wenn ich mich richtig an die Bibel erinnere, waren alle Propheten entweder Verrückte oder Epileptiker.»   - Chester Himes, Fenstersturz in Harlem. Reinbek bei Hamburg (rororo thriller 2348, zuerst 1959)

Prophet (23)  Der Prophet hatte seinen Ruf. Die Jungs kannten ihn schon seit zwanzig Jahren - dies war mindestens sein fünfter Aufenthalt hinter Gittern gewesen. Er saß mal vier Jahre am Stück in Einzelhaft, weil er eine Waffe reingeschmuggelt hatte. Er hatte sich mit einem Kerl zusammengeklinkt, der dreimal lebenslänglich absaß und den Affen machte. Sie nahmen einen Wärter als Geisel. Schafften es bis zum Ausgangstor, wo sie keine Bewegungs­freiheit mehr hatten. Der Kerl bei ihm wurde umgeblasen. Die Wachteln brachen dem Prof fast alle Knochen im Leib. In Einzelhaft knöpften sie ihn sich vor. Jeden Tag, jede Nacht. Er blieb dabei und erzählte ihnen, die Waffe wäre durch eine Vision zu ihm gekommen. Jeder Knacki in dem Laden wußte, woher die Waffe gekommen war... woher sie gekommen sein mußte. Einem Wärter. Und der Prof war Manns zuviel, um auch nur einen von ihnen auffliegen zu lassen.  - Andrew Vachss, Bluebelle. Berlin und Frankfurt am Main 1991

Prophet (24) Ahab  macht sich auch im eigenen Land keine Freunde, weil er unter dem Einfluss seiner Frau Isebel den Baalskult fördert und dazu einen Tempel errichten lässt.

So kommt er mit dem Propheten Elia über Kreuz, der für den Glauben an den einen Gott Israels kämpft. Dem möchte das Volk zwar dienen, aber auch auf den Segen Baals für Land, Mensch und Vieh nicht verzichten. Die Religionen treten in einen öffentlichen Wettstreit. Elia strebt ein Gottesurteil an. Er versammelt Volk und Propheten auf dem Berg Karmel. Während Baal, von Elia verspottet, sich nicht zeigt, erscheint der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs im Feuer und erweist sich als der einzig wahre. Elia nutzt die Gunst der Stunde und bringt die Baalspropheten um. Das kommt nicht gut anbei Isebel, die selbst einen Kampf auf Leben und Tod um ihre Religion führt und nun ihrerseits Elia nach dem Leben trachtet. Der ist gut beraten, sich aus dem Staub zu machen.  - Hans-Albrecht Pflästerer

Prophet (25)  Der Idiot, der Dummkopf, der Geistesschwache galt bei den Kelten durchaus nicht als verächtlich. Man schrieb ihm gewisse Kenntnisse des Unsichtbaren zu, die dem Durchschnittsmenschen verwehrt sind. Seine Worte wurden für prophetisch gehalten. «Er hat die Füße in dieser Welt und die Augen in der andern », sagte man von ihm und nahm sich seiner liebevoll an.  - Nachwort zu (bret)

Prophet (26)  Es war nicht damit getan, dass ich meine Vorbilder mir anglich, ich selbst musste ihnen gleichen. So beschloss ich, selbst zu prophezeien.

Am Morgen nach dem ich diesen schwerwiegenden Entschluss gefasst hatte, stand ich eine halbe Stunde früher als gewöhnlich auf. Ich zog mich an, steckte die von mir bearbeitete Ausgabe der Prophetengeschichten in meinen Schulranzen und ging mit leerem Magen und trockenem Mund in Richtung Schule. Ich musste mich unwillkürlich an ein Bild der Klagemauer erinnert haben, denn am Schulgebäude angekommen stellte ich mich mit dem Gesicht gegen die Mauer neben der Eingangstür. Ich zog meine Brille ab. Mein Herz klopfte. Ich hatte keine Ahnung, wovon ich sprechen, was ich prophezeien sollte, doch einmal so weit gekommen, konnte ich nicht mehr umkehren. Es war kalt an dem Morgen, und meine Hände schmerzten, weil ich meine Handschuhe in der Aufregung zu Hause vergessen hatte. Ich hielt die Brille mit ausgestreckter Hand nach oben, als solle sie für mich sehen. Die überfrorenen Mauersteine drückten angenehm kühl gegen meine heiße Stirn. Ich wartete darauf, dass die Worte von selbst kommen würden, doch mein Mund war wie ausgedörrt. Die Lippen klebten aufeinander. Ich räusperte mich, murmelte etwas in einer Sprache, die ich mir, als ich noch kleiner war, mit einem Freund beim Spielen ausgedacht hatte. Vielleicht würden aus ihr sinnvolle Worte entstehen, und wenn nicht, so war das, was ich nicht verstehen konnte, vielleicht für andere verständlich. Ich hörte hinter mir die Schulbusse halten. Die anderen Schüler kamen laut redend und lachend näher. Mir stockte der Atem. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Meine Stimme fing an zu krächzen, sie überschlug sich und verfiel in einen jammernden Ton. Ein paar meiner Klassenkameraden waren stehen geblieben und äfften mich nach. Ich war den Tränen nahe. Ein erster Schneeball traf mich am Hinterkopf. Dann wurde mir die Mütze vom Kopf gehauen. Mein immer noch ausgestreckter Arm wurde umgebogen und die Brille aus der Hand gerissen. Ich wurde eingeseift. Und weil ich mit meinem Singsang nicht aufhören wollte, schnitten sie mir auch noch die Schnürsenkel durch und zerrten mir das Hemd aus der Hose. Ich konnte nichts sehen. Meine Brille war verschwunden, meine Augen tränten vom Schnee. Ich versuchte aufzustehen, aber immer mehr Schneebälle trafen mich. Schließlich stürzte ich gesteinigt zu Boden. - (raf)

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