nthüllung  In diesem Augenblick, in dem Monsieur de Charlus sich von niemandem beobachtet glaubte und die Lider wegen der Sonne gesenkt hielt, ließ in seinem Gesicht jede Spannung nach, fiel die künstliche Munterkeit ab, die bei ihm sonst durch ein animiertes Gespräch oder die Kraft des Willens unterhalten wurde. Sein Antlitz wirkte marmorblaß, die Nase sprang stark hervor, seine feingezeichneten Züge erhielten nicht mehr von einer ungewöhnlichen Absicht des Ausdrucks her eine Sonderbedeutung, die Einfluß auf die Schönheit der Modellierung bekam; nur noch ein Guermantes, schien er bereits als Palamède XV. in der Kapelle von Combray in Stein gehauen zu ruhen. Aber dennoch nahmen die gemeinsamen Familienzüge in dem Gesicht des Barons eine unbedingt vergeistigtere, vor allem aber gesänftigtere Art von Feinheit an. Ich bedauerte um seinetwillen, daß er gewöhnlich durch so viele gewaltsame Ausbrüche und peinliche Seltsamkeiten, durch Schwätzereien, Härte, Mißtrauen und Arroganz die Liebenswürdigkeit im Umgang, die Güte in Frage stellte (ja oft unter künstlich angenommener Brutalität verbarg), die im Augenblick, als er von Madame de Villeparisis zurückkehrte, sich so harmlos und ungehemmt über seine Miene ergoß. In die Sonne blinzelnd schien er beinahe zu lächeln; ich entdeckte in seinem dergestalt in der Ruhe und gleichsam in natura vor mir liegenden Gesicht etwas so Liebevolles, so Wehrloses, daß ich mich nicht enthalten konnte zu denken, wie entrüstet Monsieur de Charlus gewesen wäre, hätte er gewußt, daß ihn jemand in dieser Sekunde sah; denn woran ich beim Anblick dieses Mannes, der so auf Männlichkeit hielt, ja ganz verliebt in sie war, der alle anderen viel zu weibisch fand, plötzlich denken mußte, war - weil er vorübergehend die Züge, den Ausdruck, das Lächeln einer solchen an sich trug - eine Frau.

Ich wollte gerade noch einmal meine Stellung verändern, damit er mich ja nicht bemerkte. Doch ergab sich dafür weder die Zeit, noch eine Notwendigkeit. Denn was mußte ich sehen! Auf diesem Hof, auf dem die beiden sich gewiß zuvor nie begegnet waren (da Monsieur de Charlus sonst nur nachmittags in das Haus kam, das heißt in den Stunden, in denen Jupien sich im Büro befand) traten sie jetzt einander gegenüber: der Baron, der mit einem Male die halbgeschlossenen Lider weit öffnete und mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit den ehemaligen Westenmacher auf der Schwelle seines Ladens betrachtete, und dieser, der wie angenagelt, ja pflanzengleich angewurzelt stehenblieb, als er Monsieur de Charlus vor sich sah und den staunend bewundernden Blick über die zur Fülle neigende Gestalt des Barons gleiten ließ. Doch was noch wunderbarer war: nachdem Monsieur de Charlus seine Haltung gewandelt hatte, richtete sich auch die Jupiens im gleichen Augenblick, als folge sie den Gesetzen einer geheimen Kunst, harmonisch danach aus. Der Baron, der jetzt den Eindruck verbergen zu wollen schien, den Jupien soeben auf ihn gemacht hatte, sich aber offenbar ungeachtet seiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit nur widerwillig entfernte, ging, kam zurück, schaute ziellos in einer Weise vor sich hin, von der er annahm, sie werde die Schönheit seines Blicks am besten zur Geltung bringen, und nahm ein eitles, lässiges, lächerliches Gehaben an. Jupien aber, der auf der Stelle die ergebene und gutmütige Miene ablegte, die ich von jeher an ihm kannte, hatte - in vollkommener Übereinstimmung mit dem Baron - den Kopf erhoben und seine Gestalt möglichst vorteilhaft zurechtgerückt, wobei er mit grotesker Überheblichkeit die Faust auf die Hüfte stemmte und sein Hinterteil herausdrückte, kurz, Posen annahm, in denen jene Koketterie lag, welche die Orchidee für die von der Vorsehung gesandte, überraschend eintreffende Hummel hätte aufwenden können. Ich hatte nicht gewußt, daß Jupien so unsympathisch sein konnte. Aber ich hatte auch nicht gewußt, daß er in dieser Art von Doppelpantomime, die (obwohl er zum ersten Male Monsieur de Charlus gegenüberstand) schon seit langem einstudiert schien, seine Rolle so gut zu improvisieren verstand; ohne Vorbereitung erreicht man solche Vollkommenheit nur, wenn man im Ausland auf einen Landsmann stößt, mit dem die Verständigung dann ganz von selbst eintritt, da die vermittelnde Sprache die gleiche und, obwohl man sich nie zuvor sah, die Szene schon festgelegt ist.

Diese Szene übrigens war nicht eigentlich komisch, sie barg in sich eine Seltsamkeit oder - wenn man will - eine Natürlichkeit, die allmählich an Schönheit gewann. Monsieur de Charlus mochte wohl eine ganz unbeteiligte Miene anlegen, zerstreut die Lider senken — sekundenlang hob er sie dennoch wieder und warf auf Jupien einen gespannten Blick. Jedesmal jedoch (zweifellos, weil er der Meinung war, eine solche Szene könne an diesem Ort nicht beliebig lange ausgesponnen werden, oder aus Gründen, die man später verstehen wird, oder schließlich auch aus dem Gefühl für die Kurzlebigkeit aller Dinge, die den Wunsch erzeugt, jeder Streich möge auf der Stelle sitzen, und die das Schauspiel der Liebe so rührend macht), wenn Monsieur de Charlus Jupien anblickte, richtete er es so ein, daß sein Blick ausdrücklich etwas besagte, was ihn den Blicken ganz ungleich machte, die man gemeinhin für eine Person verwendet, die man wenig oder gar nicht kennt; er starrte Jupien auf die besondere Weise eines Menschen an, der einem gleich darauf sagen wird: › Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber auf Ihrem Rücken hängt ein langer weißer Fadem, oder: ›Ich glaube, ich täusche mich nicht. Sie sind doch auch aus Zürich, ich meine, ich bin Ihnen dort beim Antiquitätenhändler begegnete So schien immer wieder das gleiche dringliche Heischen in den Blicken zu liegen, die Monsieur de Charlus Jupien zuwarf, wie in den fragenden Motiven bei Beethoven, die im gleichen Abstand unendlich oft wiederholt werden und nach einem übertriebenen Aufwand an Vorbereitung ein neues Thema, einen Wechsel der Tonart herbeiführen, also als ›Durchführung‹ dienen. Die Schönheit aber der Blicke, die Monsieur de Charlus und Jupien einander zusandten, schien im Gegenteil gerade daher zu rühren, daß - einstweilen wenigstens - diese Blicke offenbar nicht dem Zweck unterstanden, etwas ›durchzuführen‹. Diese Schönheit stellte ich bei dem Baron und Jupien zum ersten Male fest. In aller beider Augen spiegelte sich der Himmel, freilich nicht Zürichs, sondern irgendeiner orientalischen Stadt, deren Namen ich noch nicht erriet. Was auch Monsieur de Charlus und den Westenmacher noch zurückhalten mochte, auf alle Fälle schien der Bund geschlossen und dies nutzlose Blickgeplänkel nur ein rituelles Vorspiel zu sein wie die Feste, die einer bereits beschlossenen Heirat vorauszugehen pflegen. Von einem der Natur noch näher gelegenen Blickpunkt aus - die Vielheit dieser Vergleiche ist in sich selbst um so natürlicher, als ein und derselbe Mensch, wenn man ihn ein paar Minuten lang beobachtet, in aufeinanderfolgenden Phasen ein Vogelmensch, ein Fischmensch, ein Insektenmensch zu sein scheint - hätte man meinen können, es handle sich um zwei Vögel, ein Männchen und ein Weibchen, von denen das Männchen das Geplänkel eröffnete, das Weibchen aber - Jupien - mit keinem Zeichen dessen Aufführung beantwortete, sondern seinen neuen Freund nur ohne Verwunderung oder angespannte Aufmerksamkeit im Auge behielt, was es, seitdem das Männchen den ersten Schritt getan, wahrscheinlich für um so betörender und einzig zweckmäßig hielt und sich einfach nur die Federn glättete. Endlich schien Jupiens Indifferenz Charlus nicht mehr zu genügen; von der Gewißheit, eine Eroberung gemacht zu haben, bis zu dem Entschluß, sich verfolgen und begehren zu lassen, ist es nur ein Schritt, und so machte Jupien sich, entschlossen zur Arbeit zu gehen, nach dem Torweg zu auf den Weg. Gleichwohl trat er erst, nachdem er zwei- oder dreimal den Kopf gewendet hatte, auf die Straße hinaus, wo der Baron, welcher zitterte, er könne die Spur verlieren (während er betont unbekümmert vor sich hinpfiff und dem Hausmeister, der, halb betrunken, Gäste in seinem Hinterzimmer traktierte und ihn gar nicht hörte, ›Auf Wiedersehen‹ zurief), eilig hinter ihm herlief, um ihm ja auf den Fersen zu bleiben. Im gleichen Augenblick, da Monsieur de Charlus wie eine dicke Hummel pfeifend durch die Tür verschwand, kam eine andere, diesmal eine richtige, in den Hof geschwirrt. Wer weiß, ob es nicht die seit so langem schon von der Orchidee erwartete war, die ihr den seltenen Pollen brachte, ohne den sie den Stand der Jungfräulichkeit niemals verlassen würde? Doch wurde ich davon abgelenkt, dem munteren Summen des Insekts mit dem Blick zu folgen, denn ein paar Minuten darauf wurde meine Aufmerksamkeit stärker durch Jupien in Anspruch genommen, der (vielleicht um ein Paket zu holen, mit dem er später fortging und das er in seiner Aufregung über das Erscheinen von Monsieur de Charlus vergessen hatte, vielleicht auch aus einem natürlicheren Grunde) von dem Baron gefolgt wieder im Hof erschien. Der Baron, nunmehr entschlossen, rasch voranzukommen, bat den Westenmacher um Feuer, bemerkte dann aber sofort: »Ich bitte Sie um Feuer, sehe aber, daß ich meine Zigarren vergessen habe.« Die Regeln der Gastfreundschaft erwiesen sich als stärker denn die der Koketterie: »Kommen Sie doch herein, da können Sie alles bekommen, was Sie wünschen«, sagte der Westenmacher, auf dessen Antlitz der eher verächtliche Ausdruck offenkundiger Freude wich. Die Ladentür schloß sich hinter den beiden, ich konnte nichts mehr hören. Die Hummel hatte ich aus den Augen verloren, ich wußte nicht, ob sie das Insekt darstellte, das für die Orchidee so unentbehrlich war, zweifelte aber nicht mehr daran, daß eine in der Gefangenschaft lebende Pflanze und ein sehr seltenes Insekt die ans Wunderbare grenzende Möglichkeit finden könnten, sich zu vereinigen, wo doch Monsieur de Charlus (es soll dies ein schlichter Vergleich hinsichtlich providentieller Zufälle jeglicher Spielart sein, ohne die leiseste Anmaßung, auf naturwissenschaftlichem Gebiet gewisse Gesetze der Botanik zu dem in Beziehung zu setzen, was man meist recht unzulänglich als Homosexualität bezeichnet), der seit Jahren in dieses Haus immer nur zu den Stunden kam, zu denen Jupien nicht anwesend war, nun durch den Zufall einer Unpäßlichkeit von Madame de Villeparisis dem Westenmacher und damit dem beglückenden Erlebnis begegnet war, das Männern vom Schlage des Barons durch eines der Wesen geschenkt wird - die sogar, wie man sehen wird, unendlich viel jünger und schöner sein können - durch den Menschen, der vom Schicksal im voraus ausersehen ist, damit auch diese ihren Anteil an den Wonnen der Erde erhalten: den Mann, der einzig die alten Herren liebt.

Was ich hier übrigens eben berichtet habe, sollte ich erst einige Minuten darauf begreifen, so sehr steht der Wirklichkeit die Fähigkeit zu Gebote, sich unsichtbar zu machen, bis irgendein Umstand sie enthüllt. - Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Sodom und Gomorra) Frankfurt am Main 1965, zuerst 1913 ff.)

Enthüllung (2)  Auf einem großen, sandigen, kieferbestandenen Platz tummelte sich in praller Sonne ein Haufe nackter Männer. Fast brutal wirkte dieses mit nackten weißen, gelben und braunen Körpern angefüllte Wäldchen. Die Offiziere des Regiments, in dessen Reserve ich als Leutnant stehe, hatten mir mit großer Belustigung und befriedigter Eitelkeit dazu Modell gestanden. Und ihre kräftige unverhüllte Schönheit war es, die das Publikum der Hauptstadt und dann das aller Länder faszinierte. Es war herrlich und grauenvoll zugleich, wie diese klugen und nervösen oder modern und militärisch zugestutzten, kriegerischen Köpfe auf den reinen unverdorbenen, urwüchsigen Leibern saßen. Es war wie die Offenbarung einer schöneren und lebensfroheren Wirklichkeit hinter unserer Welt der Konvention und des Geistes.

Man hatte den Versuch gemacht, die Ausstellung des Bildes zu unterdrücken, hatte es aber nicht durchsetzen können, da die Frauen ins Spiel kamen. Sie belagerten das Gemälde, saßen stundenlang davor, bekamen hysterische Anfälle, knieten nieder, schrieen. Die Offiziere wurden mit Liebesbriefen, Liebesbitten, leidenschaftlichen Zärtlichkeiten überschüttet. Die Glut der Weiber fiel sogar über die jeweiligen Burschen her, und die Köchin konnte das tête à tête der Herrin mit einem gemeinen Husaren stören.   - Kurt Münzer, Das Mädchen im Glaskasten. In: Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595)

Enthüllung (3) Karl spazierte mit dem aufgeschlagenen Buch in der Hand durch den Raum: «Ein herrliches Werk, Rosa, gehört zu den Glanzstücken der englischen Literatur. Im Mittelpunkt steht Satan. Es ist ein Phantasiewerk. Aber schließlich - was sagt der Ausdruck Phantasie bei einem wirklichen Dichter? Was ein wirklicher Dichter empfindet, sind keine Empfindungen, sondern Enthüllungen, ob er es meint oder nicht.»

«Was enthüllt er? Wen enthüllt er? Sich?» «Natürlich auch sich, irgendwie, aber darauf kommt's nicht an. Er enthüllt etwas, das in allen Menschen steckt, indem er es in Gestalten umsetzt, die man für Symbole nehmen kann. Milton stellt hier den Satan hin, begeisternd, zum Verlieben. Wir können von ihm lernen, wie man sich in Niederlagen verhalten muß.» Rosa: «Sag mir, Karl, was treibt dieser Satan, was stellt er an?» Karl: «Er ist ein Engel, ein großer, gewaltiger Engel, der gegen den Schöpfer rebelliert. Er vermag nicht zu knien und sich zu beugen. Er kann nicht dienen, er kann nicht anbeten. Er ist ein Herr. Mag sein, daß er sich überschätzt - er überschätzt sich wirklich -, aber er wird dadurch nur noch großartiger, zu einer tragischen Gestalt, und so menschlich begreiflich. Das ist ein Satan aus unserem Stoff, so daß man sich kaum eine bessere Verkörperung der Menschenwürde vorstellen kann. Ja, im Grunde steht da ein Mensch gegen Gott. Der Schöpfer hat es mehrmals mit ihm versucht. Aber Satan kann nicht dienen, der Rebell erwacht immer wieder in ihm, bis der Herr erkennt: man muß mit ihm Fraktur reden, was in kosmischem Maßstab geschieht. Der abtrünnige Engel, nun erklärter Satan und Widergott und Dämonenhäuptling, wird gepackt und kopfüber durch das Weltall gestürzt, in den allertiefsten Abgrund, mit ihm die anderen, die er schon aufgewiegelt hat, und viele böse Geister. Der Herr - ich halte mich an Milton, der eine handfestere Auffassung vom Herrn und vom Satan hatte als unser blasser humanistischer Goethe -, der Herr wollte es sogar in der Hölle noch mit dem abtrünnigen Engel versuchen. Der hätte nur klein beizugeben brauchen, er wäre wieder in Gnaden aufgenommen worden. Aber er setzte allen Ermahnungen ein eiskaltes Nein entgegen, worauf der Herr endgültig seine Hand von ihm abzog und den Verstoßenen da ließ, wo er war. Eine Begnadigung hätte dieses Geschöpf nur noch hochmütiger gemacht.»

Rosa: «Und also, Karl, was geschah? Da saß er in seiner Hölle und schmorte. Was kann er in der Hölle machen?» «Er schmorte, Rosa. Aber er saß nicht. Er hatte eine gewisse Bewegungsfreiheit. »

«Wie ist das möglich? Warum ließ der Herr den Bösen in die Welt?»

Karl lachte: «Ich bin weder Milton noch ein Theologe. Zuviel darfst du mich nicht fragen, du bist immer zu neugierig. Vielleicht, weil sich der Herr vor ihm nicht fürchtete und ja wußte, daß er ihn jeden Augenblick wieder herabstürzen konnte.» Rosa, versunken: «Das stelle ich mir vor. Er wird es in der Hand gehabt haben, ihn wieder zurückzustoßen.» Karl freute sich über Rosas Interesse:

«Interessant, was? Ein toller Stoff, sage ich dir. Erinnert an die griechische Gigantensage, wie sie gegen Zeus kämpfen, der sie in der Schlacht unter Felsblöcken begräbt, worauf sie ihr Feuer aus Vulkanen speien. Du kannst auch, wenn du willst, an die Götter unserer Epoche denken, an die Kaiser, die Diktatoren, an die Feldherren, die Regierungen und die Kapitalisten, die das Volk unter sich treten wollen, aber aus dem Volk wird mit unserer Hilfe das Proletariat, und der Boden unter den Füßen dieser Herren geht in Flammen auf und verwandelt sich in einen Feuersee. Was ich sagen wollte: Was beginnt der aus dem Himmel exilierte und nun in der Hölle ansässige Satan, nachdem ihm klar wurde, daß er über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügt? Nun, fängt es bei Milton erst an. Satan schmuggelt sich in das Paradies ein und sieht die ersten Menschen, Adam und Eva, in voller Unschuld, beobachtet ihre wunderzarte Art, sich zu lieben, sieht, wie sie mit Pflanzen und Tieren umgehen, und der Neid macht ihn blaß. Er erkennt: Dies hat der Himmlische geschaffen, das trägt die Marke seiner Hand. Ihm ist es versagt. Er kann das Gefühl nicht ertragen.» Rosa: «Er gönnt ihnen ihr Glück nicht?» «Nein, gerade diese Art Glück nicht, diese ungetrübte Seligkeit der Seligen, diese Unschuld. Der Anblick des ersten Menschenpaars reizt ihn. Er erweckt in ihm keine Reue über seinen Abfall. Aber, wenn er gegen den Herrn nichts ausrichten konnte, hier wird er es können.» Karl marschierte mit großen Schritten durch das Zimmer:

«Rosa, wie wahr diese Qual des Teufels beim Anblick der beiden, quasi durch das Gitter eines Schloßgartens.»

Rosa: «Proletarischer Neid? Ist das Proletariat neidisch auf den Besitz?»

Karl: «Richtig, Neid wäre ein falsches Wort. Aber man enthält dem Proletariat etwas vor, was ihm zusteht.»

Rosa: «Also der Satan begehrt unverändert die himmlische Seligkeit. »

Karl: «Ohne sich unterwerfen zu wollen. Aber sie fällt keinem ohne die Unterwerfung zu.» Rosa sann: «Sonderbar. Ist das sicher?» Karl lächelte: «Ich weiß nicht, aber nach Milton schon. Es ist eine göttliche Bedingung, auf die ein so freies Wesen wie Satan nicht eingehen kann. Und damit wird Satan das Vorbild der freien Wesen. Und er beschließt am Tor etwas, was zugleich böse und herrlich ist -keine einfache Verführung der beiden, Verführung zu seiner Bosheit-, sondern etwas viel Feineres. Er will den beiden Unschuldigen die Augen über sich selber öffnen, nur die Augen öffnen, so daß sie bewußt werden und wirklich über sich verfügen. Darum entzündet er in ihnen die Begierde, von dem verbotenen Baum zu essen. Als Schlange souffliert er Eva diesen Wunsch. Sie überträgt ihn auf Adam, sie übertreten das Verbot, und damit sind sie bewußt geworden, und alles, was sie jetzt sehen und fühlen, sieht und fühlt ihr Ich, und mit welcher menschlichen Färbung, in welcher ungeheuren Steigerung. Dieser Rausch der Liebe, den sie erleben, wie sie sich jetzt sehen, grüßen und umarmen, Adam die Eva und Eva den Adam. Er hält sie in seinen Armen und beklagt nun jeden Tag, den er in diesem Garten zugebracht hat und an dem er versäumt hat, mit ihr diese Liebeslust zu genießen. Du mußt lesen, Rosa, bis zu welchem Maß Satan sein Werk gelingt, Adam zu Adam und Eva zu Eva zu machen, das Werk der Aufhellung des Menschen, und wie die Menschen, Rosa, allein dadurch ihm ähnlich werden. Und dann ist natürlich die Unschuld weg und die pausenlose Fröhlichkeit verschwunden, und sie haben mit ihrem Bewußtsein die Scham, das Leiden und den Schmerz eingetauscht, dazu Krankheit und Tod. Es ist nicht mehr Paradies, aber es ist auch nicht Hölle. Es ist menschliches Dasein.»

Wie aufgeräumt Karl mit seinem Buch paradierte. Es war klar, daß er sich selber in der Pose des Satans gefiel. Er sprach von Satan und dem Paradies, aber er fühlte und begegnete in der Eva Sonja, so wie er sie schon in der Zelle gefühlt hatte. Rosa blieb einsilbig und teilte offenbar nicht sein Entzücken. Er schilderte dramatisch den Zauber und die Schönheit und die Gewalt Satans.

«Dieser stolze gefallene Engel», fuhr er fort, «erinnert in mancher Hinsicht an Lord Byron. Der strahlende mächtige Herr hatte ihn mit seiner Rebellenschar in den tiefsten Abgrund geschleudert, aber wie sehr man auch neben Satan heulte und stöhnte, er gab keinen Laut von sich. Erst jetzt wurde er ganz der Widersacher. Man nennt ihn im Volk den Versucher, und das ist er, weil er immer dabei und unterwegs ist, die schwachen Stellen in der Schöpfung seines Gegners aufzustöbern, woran's ja leider nicht fehlt. Was ist groß an ihm?»

Rosa richtete sich auf. «Sag lieber, Karl, was dir selbst an ihm gefällt.»

Karl: «Sein unentwegter Protest. Nichts erschüttert Satan Es erweicht ihn nicht, daß man ihm die Teilnahme an den Wundern der Welt entzieht. Keine Strafe verändert ihn. Der Zorn des Herrn auf ihn laßt nicht nach. Aber auch das Nein des Satans endet nicht. » Rosa: «Ein Zerstörer.»

Karl: «Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten und nimmer sich beugen. Der Herr selbst ist irgendwie verliebt in ihn, trotz allem. Er könnte ihn ja aus der Schöpfung ausmerzen, aber er tut es nicht, warum nicht? Er läßt ihn, er blickt ihn an und stellt fest: Die ganze Schöpfung ist gut, und auch dieser Satan ist aus seiner Hand. Er erinnert mich, Rosa, an Spartakus im alten Rom. Die Sklavenhorden hatten ihre Ketten abgeworfen und stürmten vor und waren nicht aufzuhalten, Rom muß sich zur Wehr setzen, man steht sich gleich auf gleich gegenüber.»

Da konnte Rosa sich nicht halten und brach in ein wildes Gelächter aus.

«Nennen wir uns dann also nicht mehr Spartakisten, sondern Satanisten.» - Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution. Bd.4. München 1978 (dtv 1389, zuerst 1939 ff.)

Enthüllung (4)

"Mysterium der Weiblichkeit"

- N.N.

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