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Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks. Reinbek bei Hamburg 1972 (zuerst
1939)
Straße (2)
Erotisches Varieté
Auf offner Straße in der Nacht Nach gleichgesinnten Viechern schielt In schmutzig grüner Tunke hockt Ein Auto bringt ein Fräulein um. |
Straße (3) Ich bin durch all diese Stadtteile gekommen,
zu Fuß oder im Wagen. Nur wenige Hauptstraßen waren freigelegt, aber Kilometer
über Kilometer kein lebendiges Haus mehr. Und versuchte
man seitlich einzudringen, verlor sich sofort jedes Gefühl für Zeit
und Richtung. In Gegenden, die ich zu kennen
glaubte, habe ich mich völlig verirrt. Ich habe eine Straße gesucht, die ich
im Schlaf hätte finden müssen. Da, wo ich sie vermutete, stand ich und wußte
mir nicht zu helfen. Ich habe die Querfurchen im Geröll an den Fingern abgezählt,
doch ich habe die Straße nicht wieder entdeckt. Und wenn man nach Stunden einen
Menschen traf, dann war es auch nur einer, der im Traum durch die ewige Einöde
wandelte. Man ging mit einem scheuen Blick aneinander vorbei und sprach noch
leiser als vorher. Irgendwo schien wohl die Sonne, aber über diese Dämmerung
hatte sie keine Macht. - Hans Erich Nossack, Der Untergang. Frankfurt
am Main 1987 (zuerst 1948)
Straße (4) Ich wohne in der Brick Lane,
einer schmalen Straße im Londoner East End, die über einem römischen Friedhof
errichtet wurde. In den vergangenen fünf Jahrhunderten ist sie meist als Ort
der Armut und des Lasters geschmäht worden, als Magnet für Kriminelle und Herumtreiber.
Ein Geistlicher beschrieb sie im 19. Jahrhundert als "Land von Blut
und Bier"; Jack the Ripper
ermordete eines seiner Opfer in einer Seitenstraße; jeder jenseits der Vierzig
kann sich an Stadtstreicher mit geschwollenen Fußgelenken und schwarzen Zähnen
erinnern, die früher zwischen den Bombenkratern dieser Straße auf- und abstolperten
und Methylalkohol soffen, um schließlich vor Lagerfeuern zusammenzusacken. -
Sukhdev
Sandhu
Straße (5) Es gab eine kleine Straße, nur einen
Häuserblock lang, die zwischen der Grand Street und der North Second Street
lag und Fillmore Place hieß. Die kleine Straße lag schräg gegenüber von dem
Haus, das meinem Großvater gehörte und in dem wir wohnten. Es war die bezauberndste
Straße, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe — die ideale Straße für
einen Jungen, einen Verliebten, einen Wahnsinnigen, einen Trunkenbold, einen
Hochstapler, einen Wüstling, einen Banditen, einen Astronomen, einen Musiker,
einen Dichter, einen Schneider, einen Schuster, einen Politiker. Genau eine
solche Straße war es: sie beherbergte alle Vertreter der menschlichen Rasse,
deren jeder eine Welt für sich war und die alle zusammen, harmonisch oder unharmonisch,
aber zusammen, als eine feste Gemeinschaft lebten, eine dichte menschliche Keimzelle,
die nicht zerfallen konnte, es sei denn, die Straße selbst wäre zerfallen. -
Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks. Reinbek bei Hamburg 1972 (zuerst
1939)
Straße (6) Die Straßen waren meine Zuflucht. Und
kein Mensch kann den Zauber der Straßen verstehen, ehe er nicht gezwungen ist,
in ihnen Zuflucht zu suchen, ehe er nicht ein Strohhalm geworden ist, der von
jedem Windstoß hierhin und dorthin geweht wird. Man geht an einem winterlichen
Tag durch eine Straße, und ein Hund, der verkauft werden soll, rührt einen zu
Tränen. Während auf der anderen Straßenseite, einladend wie ein Friedhof, eine
elende Bruchbude steht, die sich ‹Hôtel du Tombeau des Lapins›
nennt. Das bringt einen zum Lachen, rein zum Totlachen. Bis man merkt, daß es
überall Hotels gibt für Hasen, Hunde, Läuse, Kaiser, Kabinettminister, Pfandleiher,
Roßtäuscher und so fort. Und fast jedes zweite ist ein ‹Hôtel de l'Avenir›.
Was einen noch mehr aus dem Häuschen bringt. So viele Hotels der Zukunft! Keine
Hotels im Partizip der Vergangenheit, keine im Konjunktiv, keine Konjunktivitis.
Alles ist altersgrau, grausig, birst vor Lustigkeit, ist von Zukunft geschwollen
wie eine Zahnfistel. Trunken von diesem geilen Ekzem der Zukunft wanke ich weiter
zur Place Violet, wo alle Töne malvenfarben und schiefergrau und die Türrahmen
so niedrig sind, daß nur Zwerge und Kobolde
sich hindurchzwängen könnten. Über dem dumpfen Schädel Zolas verqualmen die
Kamine reinen Koks, während die ‹Madonna zu den belegten Broten› mit Kohlblätterohren
dem Brodeln der Gaskessel lauscht, dieser schönen, gedunsenen, am Straßenrand
hockenden Kröten. -
(krebs)
Straße (7) »Hier ist es.« Er nahm mich beim Ellbogen, und ich stieg aus und stellte mich neben ihn. Dann stieg der andere Beamte aus. Beide packten mich und führten mich in die Straße wie einen richtigen Gefangenen - der eine machte aus meinem Mantelkragen eine Kompresse, der andere aus meinem Ärmel. So mit mir in der Mitte konnten sie natürlich nur diagonal gehen. Die anderen blieben beim Wagen. Die Straße war tückisch. Sie wurde länger und länger. Sie wurde sogar noch etwas breiter, aber nicht viel. Es stank, und wie. Nach Teufelsdreck, nach verbrannten Federn und nach der Leeseite einer Kloake. Die Straße war nicht gleichmäßig dunkel, die Dunkelheit war eher fleckig. Alle paar hundert Meter warfen Öllampen oder chinesische Papierlaternen aus einem Hausflur oder einem Ladeneingang einen Lichtstrahl, um der Straße ihre Düsterkeit zu nehmen. Diese Lichtstreifen hatten verschiedene Farben, je nachdem, durch was sie gefiltert wurden: In Orange, Schwefelgrün und einmal sogar Purpurrot wie Traubensaft spie es ringsum auf die schmutzigen Wände. Aber diese Lichtstreifen durchbrachen die Dunkelheit nur stellenweise, größtenteils war es düster.
Schlurfende Gestalten in Filzpantoffeln und schwarzen Alpakahosen drückten sich an die Wand, um uns vorbeizulassen. Sie starrten uns hinterher, und manche versuchten, uns zu folgen. Aber dann rief ihnen das Schlußlicht unserer Kolonne giftig etwas zu, und sie verschwanden.
Einmal fegte mir ein Ladenschild oder ein Eisenträger, der aus irgendeinem
Eingang herausragte, den Hut vom Kopf, aber jemand hob
ihn auf und gab ihn mir zurück. - Cornell Woolrich, Der schwarze Pfad.
Zürich 1988 (zuerst 1944)
Straße (8) Ich hatte Schritte getan, die sich als nutzlos erwiesen, und ging nun auf die Straße, erregt, betäubt. Zuerst war ich wie blind und meinte, keiner sehe mehr den andern, alle seien erblindet, und das Leben stocke, weil alles irr umhertaste.
Angespannte Nerven ließen mich die Dinge besonders scharf empfinden. Kalt stiegen die Fassaden vor mir auf. Köpfe, Kleider kamen hastig daher und verschwanden wie Spukgestalten. Ein Zittern durchlief mich; kaum wagte ich vorwärtszugehen. Ein Eindruck nach dem ändern packte mich an. Ich und alles schwankte. Alle, die hier gingen, hatten einen Plan, ein Geschäft. Soeben hatte auch ich eine Absicht; doch jetzt war ich planlos, forschte aber schon wieder und hoffte, etwas zu finden.
Im Gewühle wimmelte es von Energie. Jeder war im Geiste der Vorderste. Männer, Frauen schwebten vorbei. Alle schienen nach ein und demselben Ziel zu streben. Woher kamen und wohin gingen sie?
Einer war dies, der andere das, der dritte nichts. Viele wurden getrieben; lebten ohne Zweck, ließen sich da- und dorthin werfen. Sinn fürs Gute blieb unbenutzt; Intelligenz griff in ein Leeres; manche schöne Kraft fruchtete wenig. Abend war's; die Straße glich einem Phänomen. Tausende gingen hier täglich. Sonstwo gab es keinen Platz. Frühmorgens waren sie frisch; nächtlings müde. Sie erreichten vielmals nichts. Tätigkeiten rollten übereinander, und die Tüchtigkeit rieb sich oft vergeblich auf.
Wie ich so ging, traf mich der Blick eines Herrschaftskutschers. Da sprang ich auf einen Omnibus, fuhr eine Strecke weit, sprang ab, trat in ein Restaurant, um etwas zu essen, und ging dann wieder hinaus.
Gleichmäßig lief und floß es. In allem war ein Dunst, ein Hoffen. Menschenkenntnis
verstand sich von selbst. Jeder wußte vom andern im Nu ziemlich alles, aber
das Innenleben blieb ein Geheimnis. Seele erneuert sich fortwährend. Räder knarrten,
Stimmen wurden laut; dennoch war das Ganze seltsam still. -
Robert Walser, nach: Deutsche Parabeln. Hg. Josef Billen. Stuttgart 2001 (Reclam
7761)
Straße (9) Zehntausende in der Stadt werden immer
weiter auf der Straße verbraucht. Die Straße der Städte ist immer krank, wie
die Därme eines Dahinsiechenden. Immerwährend verschleißt sich die Straße. Sie
ist, eben weil das alles plump ist, nicht fähig, sich wie jede Haut zu regenerieren.
Der Regen und der Frost verschleißen die Straße, das Fahren der leichten, der
schnellen und der schweren Fuhrwerke. Noch immer sucht man nach der widerstandsfähigsten
Kunsthaut, aus der man eine Straße machen kann. Viele Stoffe hat man nacheinander
versucht: Die härtesten Steine, Asphalt, Zement. Man sucht weiter. -
Ernst Fuhrmann, Leerlauf der Erziehung. Nach (
fuhr
)
Straße (10) Er stellte die Klimaanlage des Wagens aus und schob eine Meditationskassette in den Kassettenrecorder, und zwar die mit seinem Lieblingsthema: Dem über einen gelassen dahintreibenden Menschen, der selbstbewußt ist und alles nimmt, wie es kommt, jedoch unbedingt einem Lebensziel folgt. Er lauschte der Stimme eines Predigers mit dem Akzent des Mittelwestens, die zu ihm von der Notwendigkeit von Lebenszielen sprach. »Was die Menschen der Bewegung von jenen unterscheidet, die stagnieren und in der Finsternis hausen, ist die Straße, die sowohl hinein- als auch hinausführt, beständig in Richtung lohnender Ziele. Das Fahren auf dieser Straße ist gleichzeitig Reisen und Ankommen, ist die gegebene und die empfangene Gabe. Sie können Ihr Leben von Grund auf ändern, wenn Sie dieses ganz einfache Dreißigtage-programm befolgen. Zuerst überlegen Sie, was Sie sich in diesem Augenblick am meisten wünschen - das kann alles mögliche sein, von spiritueller Erleuchtung bis hin zu einem neuen Auto. Notieren Sie Ihren Wunsch auf einem Stück Papier und schreiben Sie das heutige Datum daneben. Nun möchte ich, daß Sie sich innerhalb der nächsten dreißig Tage darauf konzentrieren, dieses Ziel zu erreichen! Lassen Sie keinen Gedanken an Scheitern aufkommen! Sollten sich dennoch solche Gedanken einschleichen, vertreiben Sie sie! Vertreiben Sie sie alle, bis auf den einen, reinen Gedanken, der Sie zum Ziel führt, und Sie werden sehen: Es wird ein Wunder geschehen!«
Straße (11) In dieser langen Zeit, in der er mehr
Pflaster gesehen hatte, als er zählen konnte, war
Profane Straßen gegenüber ein wenig mißtrauisch geworden, besonders solchen
Straßen gegenüber wie dieser hier. Sie alle hatten sich ihm zu einer einzigen,
imaginären Straße verwoben, die in Vollmondnächten zum Alptraum wurde. East
Main, Getto betrunkener Seeleute, mit denen niemand wußte wohin, überrumpelte
einen mit derselben Plötzlichkeit, mit der ein Traum in einen Alptraum umschlägt.
Hund wird Wolf, Licht Zwielicht, Leere verwandelt sich in allgegenwärtige Drohung;
junge Matrosen, die auf die Straße reihern, Barmädchen, auf jede Arschbacke
eine Schiffsschraube tätowiert, ein Gernegroß in Gedanken über die beste Methode,
wie er durch eine Glasscheibe springen könnte (wann sollte er »Hurra!« schreien,
vor oder nach dem Zerbersten des Glases?), ein betrunkener Matrose am Ende einer
Gasse, der flennt, weil ihm die Shore Patrol eine Zwangsjacke verpaßt hatte,
als er das letzte Mal besoffen war. Dann und wann ein Vibrieren des Gehwegs,
wenn ein SP-Mann ein paar Laternen weiter mit dem Gummiknüppel den Takt schlägt,
und über allem die Bogenlampen, die jedem das Gesicht grün und häßlich werden
lassen und deren Kette sich gegen Osten, wo es dunkel ist und wo es keine Kneipen
mehr gibt, in ein asymmetrisches »V« verliert. - (
v
)
Straße (12) Die Sonne schien kurz nach zwei Uhr
nachmittags so heftig, daß der Blick von ihrem Glanz irritiert wurde. Von der
Sonne geblendet und an der Sicht auf die Buschsteppe und die Hochebene gehindert,
hatten die Reiter den Eindruck, über eine Straße zu ziehen, die sich in der
glühenden, leuchtenden Luft verlor, eine Straße, die nicht mehr den Boden berührte
wie andere Straßen, sondern statt dessen schwebte,
aufgehängt an der umgestülpten glutblauen Himmelsschüssel, an den Kupferstrahlen
der Sonne. Der Feuerwind des Buschwalds, der versengende ›Sertão-Wind‹ fegte
stoßweise über die Hochebene und wirbelte dabei Säulen trockener Blätter und
Holzstückchen in eine Höhe von über dreißig Metern empor. Das verstärkte nur
noch den Eindruck, sie befänden sich auf einer Reise zur Erleuchtung
oder auf einer Neuen Suchfahrt, auf einer Straße, die
ins ›fremde Land des Todes‹ führte. - (stein)
Straße (13)
Approach to a City Getting through with the world - bar-room window, the gulls wheeling trampled and lined with use - yet together. The flags in the heavy weeds: I never tire of these sights |
Stadteinfahrt Bald bin ich fertig mit der Welt - Fenster der Bar, den kreisenden zertreten und abgenutzt - doch gemeinsamen Abflug. Die Fahnen Unkraut: nie werde ich dieses Anblicks satt |
Straße (14) Die Straße draußen ist ziemlich lang.
Tagsüber ist sie nicht zum Anschaun, so voller Kopfschmerzenhäuser ist sie.
Einfamilienhäuser, Zweifamilienhäuser. Wenn ich nachts gehe, fallen einige Bruchstücke
in meinen Blick, die nicht so schneiden. Plötzlich macht man weiche Schritte.
Der befestigte Gehsteig wird für die Länge eines Grundstücks zum schlammigen
Weg, auf Graswasen trete ich auch. Mein Zimmer hat eine Mietsblockfassade zur
Altssicht, quadratische Fenster, rechteckige Fenster. Und das Gras in meinem
Kopf werde ich noch verbrennen, sage ich angesichts dieser Fassade. Wo mag der
Horizont sein, plätschert die Frage heran. Und im Grundstück steht ein Autowrack,
ein Isabella, den vor 20 Jahren Borgward baute, der in Deutschland keine Autos
mehr fabriziert. Isabella hieß auch eine Freundin meines Vaters, sie war superwasserstoffblond,
aber auch schon für meine damaligen Begriffe zu dürr. - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am
Main 1972
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