onster Hurtig glitten Alicens finger über die elfenbeinernen tasten der orgel, während das monster gewaltig und urig in die pedale trat. Mit allmächtigen tönen schwoll die macht der musik durch den von farbigen ampeln erleuchteten raum ... Plötzlich aber schrie die kleine organistin entsetzt auf. Es war ihr, als hätte sie eine kalte, schleimige natter zwischen den bloßen schenkeln berührt. Ein unaussprechliches grauen hatte sie gepackt, ihr langes blondes haar richtete sich steil empor, das spiel ihrer finger war völlig paralysiert, ihr hellblaues flügelpaar begann vor schauder knisternd zu vibrieren, ihr ganzer körper schien von eisigen elektrischen schlägen bearbeitet zu sein. ›Was ist das?‹ rief sie mit versagender stimme aus, ›was wollen sie mit mir tun?‹ ›Was ich mit dir tun will, du lockige Grete‹, grunzte das monster, ›das sollst du gleich merken! Ich werde mit dir das tun, was ich, der welt seis geklagt, seit hundertundvierzig jähren tun will und dennoch nie getan habe! Du spiel nur brav die orgel weiter und kümmere dich nicht so sehr um das, was jetzt geschehen wird . .‹
Aber das abscheuliche monster hatte sich bei Alice verrechnet,
denn mit einem markerschütternden schrei, den ihr ein höllisches grausen eingab,
schwirrte sie kraft ihrer schwanenflüglein hoch und gelangte so fürs erste aus
der reichweite des nun zu toben beginnenden Ungeheuers, welches brüllend mit
geöffnetem hosenlatz durch das orgelzimmer wuchtete. ... - H.
C. Artmann, Frankenstein in Sussex. Frankfurt am Main 1969 (es 320)
Monster (2) Ich fühle mich so schwach,
so wacklig auf den Beinen, daß ich kaum die Hochbahntreppe hinuntersteigen kann.
Jetzt weiß ich, was geschehen ist - ich habe die Grenzlinie überschritten! Diese
Bibel, die ich überall mit mir herumgetragen habe, soll mich eine neue Art Leben
lehren. Die Welt, die ich kannte, ist nicht mehr - sie ist tot, zu Ende, weggeräumt.
Und alles, was ich war, ist mit ihr weggeräumt. Ich bin ein Kadaver, dem man
ein neues Leben einspritzt. Ich glänze und funkle, bin versessen auf neue Entdeckungen,
aber im Mittelpunkt ist noch Blei, noch Schlacke. Ich fange zu weinen an - mitten
auf der Hochbahntreppe. Ich schluchze laut wie ein Kind. Jetzt dämmert mir mit
voller Klarheit: Du bist allein auf der Welt! Du bist allein... allein... allein.
Es ist bitter, allein zu sein ... bitter, bitter, bitter, bitter. Es ist kein
Ende abzusehen, es ist unfaßbar, und es ist das Los jedes Menschen auf Erden,
aber besonders meines... besonders meines. Wieder die Verwandlung.
Wieder schwankt und wankt alles. Ich bin aufs neue im Traum, dem schmerzlichen,
irren, wonnigen, verrücktmachenden Traum von jenseits der Grenze. Ich stehe
mitten auf dem freien Bauplatz, aber mein Zuhause sehe ich nicht. Ich habe kein
Zuhause. Der Traum war eine Fata Morgana. Es hat nie ein Haus auf diesem Bauplatz
gegeben. Deshalb konnte ich es nie betreten. Mein Zuhause ist nicht in dieser
Welt, auch nicht in der nächsten. Ich bin ein Mensch ohne Zuhause, ohne Freund,
ohne Frau. Ich bin ein Monstrum, das einer Wirklichkeit
angehört, die es noch nicht gibt. Und doch ist sie vorhanden, es wird sie geben,
dessen bin ich sicher. Ich gehe jetzt rasch, mit gesenktem Kopf, vor mich hin
murmelnd. Ich habe mein Stelldichein so völlig vergessen, daß ich es nicht einmal
gemerkt hätte, wenn ich hinter ihr hergegangen wäre. Vielleicht bin ich das
auch. Vielleicht habe ich ihr direkt ins Gesicht gesehen und sie nicht wiedererkannt.
Vielleicht hat auch sie mich nicht wiedererkannt. Ich bin wahnsinnig, wahnsinnig
vor Qual, wahnsinnig vor Kummer. Ich bin verzweifelt. Aber nicht verloren. Nein,
es gibt eine Wirklichkeit, der ich angehöre. Sie ist fern, sehr fern, ich kann
von nun an bis zum Jüngsten Tag mit gesenktem Kopf dahinwandeln, um sie doch
nie zu finden. Aber es gibt sie, dessen bin ich sicher. Ich betrachte die Leute
mit mörderischen Blicken. Wenn ich eine Bombe werfen und das ganze Viertel in
die Luft jagen könnte, ich würde es tun. Ich wäre froh, sie zerfleischt, schreiend,
in Stücke gerissen, vernichtet in die Luft fliegen zu sehen. Ich möchte die
ganze Erde vernichten. Ich gehöre nicht zu ihr. Ein Narrenhaus
von A bis Z! Die ganze Schießbude! Ein riesiges Stück verdorbener Käse, von
Maden wimmelnd. Scheiß drauf! In die Luft damit! Töte, töte, töte! - (wendek)
Monster (furchtsames)
Monster (4) Man
vergreift sich nicht an einer frau! Feige memme, unedler drecksack,
erbärmlicher metzger! Er hat wohl keine mutter gehabt, er ist keinem schoß entsprungen,
er trägt keinen zärtlichen schimmer im blick, er ist auf dem mist geboren, er
hat die sonne mit einer klosettbrille verwechselt, hilfe! er ist salamanderkalt,
er ist molchhäutig, er ist grün und schleimig
wie ein lang nicht gesäuberter ausguß! Monster, wer eine frau ins gesicht schlägt,
ist nicht wert, nach ihrem gesäß zu greifen! - H.
C. Artmann,
How much, schatzi? Frankfurt am Main 1971
Monster (5) Richard
Goldschmidt vertrat die Auffassung, neue Arten entstünden abrupt
durch diskontinuierliche Variation oder Makromutation. Er räumte ein, daß die
Mehrzahl der Makromutationen nur als unglücklich und verheerend bezeichnet werden
könne. Sie nannte er «Monstren». Aber, so fuhr Goldschmidt fort, die Makromutation
könne immer mal wieder durch einen glücklichen Zufall einen Organismus an eine
neue Art zu leben anpassen. Das Ergebnis sei dann etwas, was er als «vielversprechendes
Monstrum» bezeichnete. Die Makroevolution gehe durch den seltenen Erfolg solcher
vielversprechenden Monstren, nicht aber durch eine Akkumulation kleiner Veränderungen
innerhalb von Populationen vor sich. - Stephen Jay Gould, Der Daumen des Panda.
Betrachtungen zur Naturgeschichte. Basel u.a. 1987
Monster (6)
Monster (7)
|
|