magination
Was wir von den Lippen jener hören, mit denen wir bei unseren
täglichen Geschäften sprechen, vermischt sich mit dem, was wir auf den Straßen
und überall um uns herum sehen, und es vermischt sich auch mit unseren Imaginationen.
Aus dieser Chemie entsteht eine Sprache des Tages, die sich verschiebt und ihren
Sinn enthüllt, wie Wolken im Himmel sich verschieben und drehen und manchmal
Regen oder Schnee oder Hagel herunter schicken. Auf diese Sprache sind wenige
Ohren eingestimmt, so daß Dichter behaupten, wenige Menschen seien ganz bei
ihren Sinnen, da sie keine Möglichkeit haben, ihre Imaginationen zu nutzen.
Zu sagen, daß ein Mann keine Imagination habe, ist beinahe, als sage man, er
sei blind oder taub. Aber in alten Zeiten pflegten Dichter diese verborgene
Sprache in eine Art Replik der Rede der Welt zu übertragen, mit gewissen Unterschieden
im Rhythmus und Versmaß, um zu zeigen, daß es nicht wirklich diese Rede
war. Heutzutage werden die Elemente dieser Sprache so niedergeschrieben, wie
sie vernommen werden, und es bleibt der Imagination des Zuhörers und des Dichters
überlassen, sich in den Tanz zu mischen. -
(kore)
Imagination (2)
Die Tat wird durch die Imagination derselben aufgedeckt. Doch von
größter Bedeutung ist, zu begreifen, daß die Imagination führt und die Tat
folgt. Erst Don Quichotte,
dann Sancho Pansa. So daß die Tat, um Lob zu verdienen,
es auf verschiedene Weise verdienen muß, je nach dem Weg, den die Imagination
genommen hat. So findet eine unschöne Tat mitunter ihr Lob in Gelächter
und mitunter in wildem Spott und eine einfache Wohltat
ihre Belohnung in sarkastischem Kommentar. Jedes Ding ruht in seinen Vollkommenheiten.
-
(kore)
Imagination (3)
Weder Anfang noch Ende hat die Imagination, doch beglückt sie in
den ihr eigenen Jahreszeiten, die gewohnte Ordnung nach Belieben umkehrend.
Aus der Luft des kältesten Zimmers scheint sie die heißesten Leidenschaften
zu bauen. Mozart pßegte, die eigene Melodie pfeifend, mit seiner Frau
zu zanken, um die Kälte fernzuhalten, und Villon
hörte an seinem Petit Testament zu schreiben nur auf, wenn die Tinte gefroren
war. Männer von äußerster Armut der Imagination aber kaufen Tand und geben sich
extravaganten Launen hin, um ihren Mangel mit anderen Dingen auszugleichen.
-
(kore)
Imagination (4)
Imagination (5) Die Imagination benutzt die Ausdrucksweise der Wissenschaft. Sie greift an, stört auf, belebt, wirkt radioaktiv auf alles, auf das eingewirkt werden kann. Kraft ihrer Prozesse kommt es zur Befreiung von Wörtern.
Bei der Beschreibung haften die Wörter bestimmten Gegenständen an und üben auf den Verstand die Wirkung von Austern oder Miesmuscheln aus.
Doch die Imagination wird falsch verstanden, wenn sie für einen Rückzug aus der Wirklichkeit im Sinn der Rede des Johann von Gaunt in Richard II. gehalten wird: als die Einbildung, das zu besitzen, was wir verloren haben. Richtig verstanden wird sie dagegen, wenn Johanns Worte nicht in ihrer Bedeutung als Dinge, die dem Wohlergehen seines Sohnes anhaften, oder als sonst irgendwas gesehen werden, sondern als ein Tanz über seine gesamte Verfassung, der diese Schritt für Schritt begleitet. Wenn wir es so verstehen, daß nämlich das Schauspiel geschrieben wurde, um als Schauspiel verstanden zu werden, sind Autor und Leser frei, um mit den Wörtern sich im Tanz zu drehen, die den vergangenen Ereignissen der Geschichte entstammen und sich jetzt in Leidenschaft wiedervereinen.
Die Wörter solcherart als befreit zu verstehen heißt zu verstehen, was Dichtung ist. Daß sie sich unabhängig bewegen, sobald sie freigesetzt sind, ist das Zeichen ihres Rangs
Imagination soll nicht die Wirklichkeit meiden, auch ist sie weder Beschreibung noch Beschwörung von Dingen oder Zuständen, was heißen soll, daß die Dichtung sich nicht in die Welt einmischt, sondern sie bewegt - Sie bestätigt die Wirklichkeit mit Macht und schafft darum, weil die Wirklichkeit nicht menschlicher Unterstützung bedarf und ohne unser Handeln da ist, wie die Wissenschaft anhand der Unzerstörbarkeit von Materie und Energie bewiesen hat, ein neues Ding, ein Schauspiel, einen Tanz, der nicht Spiegel der Natur ist, sondern -
Wie die Schwingen des Vogels die feste Luft schlagen, ohne die er nicht fliegen
könnte, so bestätigen die durch die Imagination befreiten Wörter die Wirklichkeit
mit ihrem Flug - William Carlos Williams, Frühling und
Alles. Nach
(wcw)
Imagination (6) Obwohl die Phantasie
ein untergeordnetes Verstandesvermögen darstellt und von der Vernunft beherrscht
werden sollte, ist sie bei vielen Menschen, die innerlich oder äußerlich an
Gesundheitsstörungen leiden und deren Organe geschädigt sind, selbst in Mitleidenschaft
gezogen und nicht voll funktionsfähig. Das finden wir schon bei Schlafenden
bestätigt, die sich, bedingt durch ihre Körpersäfte und sich zusammenbrauende
Dämpfe, die die Phantasie in Unordnung bringen, oft widersinnige und unheilvolle
Dinge einbilden, unter Alpträumen leiden und von Nachtmahren heimgesucht werden.
Wenn sie auf dem Rücken liegen, kommt es ihnen so vor, als sitze eine alte Frau
rittlings auf ihnen und schnüre ihnen den Atem ab; dabei fließen in Wahrheit
nur schlechte Säfte zusammen, die diese Phantastereien
auslösen. Ein weiteres Beispiel sind die Schlafwandler und ihre seltsamen Kunststücke.
Bei ihnen reizen Dämpfe die Einbildungskraft, diese wirkt auf das Begehren,
das wiederum auf die Lebensgeister, die ihrerseits den Körper in Bewegung setzen
und so herumgehen lassen, als sei sein Besitzer bei Bewußtsein. Fracastoro
führt alle Formen der Ekstase auf die Kraft der Einbildung zurück, und zwar
sowohl bei denjenigen, die Tage hintereinander in Trance zu verbringen vermögen,
als auch bei jenem Priester, der nach dem Bericht des Celsus jederzeit besinnungslos
werden konnte und dann wie tot, ohne Reaktionsvermögen und ohne ein Lebenszeichen
dalag. Cardano rühmt sich entsprechender Fähigkeiten, die ihm nach Belieben
zu Gebot stünden. Oftmals erzählen diese Menschen, wenn sie wieder zu Bewußtsein
kommen, seltsame Geschichten über Himmel und Hölle und andere Gesichte, wie
etwa der heilige Owen, der nach Matthew Paris in das Purgatorium des heiligen
Patrick gelangte, oder der Mönch von Evesham, über den der nämliche Autor berichtet.
Die ständigen Erscheinungen bei Beda und Gregor und die Offenbarung der heiligen
Birgitta fuhrt Caesar Vaninus in seinen schon erwähnten Dialogen ebenso wie
alle Geschichten vom Hexensabbat, Besenreiten, Verzaubern und Verwünschen auf
die Kraft überschäumender Imagination und auf teuflisches Blendwerk zurück.
-
(bur)
Imagination (7) Lavater
hält die Furcht für die entscheidende Ursache des Geistersehens,
weil sie als stärkste aller Gefühlsregungen auch die Einbildungskraft am meisten
beflügelt, und ganz ähnliches gilt von der Liebe, vom Kummer und der Freude.
Manche sterben sogar plötzlich an einer Gefühlsaufwallung wie jene Frau, die
ihren Sohn gesund aus der Schlacht bei Cannae zurückkehren sah. Der Patriarch
Jakob nutzte die Einbildungskraft, indem er halb geschälte Zweige vor
die Tränke seiner Schafe legte, die daraufhin gesprenkelte und scheckige Lämmer
warfen. Nachdem die äthiopische Königin Persina das Bild von Perseus
und Andromeda gesehen hatte, brachte sie, wie Heliodorus vermeldet, kein
schwarzes, sondern ein weißes Kind zur Welt. Ein Grieche, der das harte Schicksal
hatte, mißgebildet zu sein und auch eine verkrüppelte Frau sein eigen zu nennen,
nahm sich daran ein Beispiel und hing die schönsten Bilder, die er erwerben
konnte, in seiner Kammer auf, in der Hoffnung, daß seine Frau durch den häufigen
Anblick ebenso wohlgestalte Kinder empfangen und gebären möge. Und wenn wir
Bale glauben dürfen, wurde eine der Konkubinen Papst Nikolaus' des Dritten
nach dem Anblick eines Bären von einem monströsen Wesen
entbunden. Wenn eine Frau, so Lemnius, in dem Moment
der Empfängnis an einen anderen Mann denkt, wird ihm das Kind gleichen. Bei
Hochschwangeren erzeugt ein ungestilltes Verlangen, wie uns zahlreiche erstaunliche
Beispiele beweisen, Leberflecken, Warzen, Narben, Hasenscharten und Mißgeburten,
die alle auf die verderbten Phantasien der Mutter zurückzuführen sind. Sie nämlich
drückt dem Kind den Stempel dessen auf, womit sie sich in ihrer Vorstellung
beschäftigt. Deshalb warnt Ludovicus Vives alle Schwangeren im fortgeschrittenen
Stadium, sich ja nicht mit aberwitzigen Überlegungen und Einbildungen abzugeben,
sondern alles Schreckliche - selbst wenn es nur erzählt wird - zu meiden und
widerwärtigen Schauspielen aus dem Wege zu gehen. Manche lachen, weinen, seufzen,
stöhnen, erröten, zittern und schwitzen bei dem, was ihnen die Imagination vorspiegelt.
Avicenna erwähnt einen Menschen, der jederzeit bei sich eine Lähmung
auslösen konnte, und manche machen Vogel- und Tierstimmen so gut nach, daß man
das Original von der Imitation kaum mehr unterscheiden kann. Auch die Wundmale
des Dagobert und des heiligen Franziskus sind nach Ansicht Agrippas,
wenn sie überhaupt vorhanden waren, durch die Kraft der Einbildung entstanden.
Daß einige sich in Wölfe verwandeln, aus Männern Frauen werden und umgekehrt
und Menschen Esels-, Hunde- oder manch andere Tiergestalt annehmen, ist ein
weitverbreiteter Glaube; Wierus aber führt solche berühmten Metamorphosen
ebenfalls auf eine überhitzte Phantasie zurück. Wasserscheue, denen ein Hund
aus jedem Wasserspiegel entgegenstarrt, die phantastischen
Visionen und Erscheinungen bei Melancholikern und Kranken, die sich in ihrem
Wahn für Könige, Adlige, Hähne,
Bären, Affen, Eulen halten und sich schwer oder leicht,
durchsichtig, groß oder klein, empfindungslos oder tot fühlen. -
(bur)
Imagination (8)
Imagination (9) Wir suchen in der erfinderischen Imagination die Erlösung von jedwedem Mißgeschick und auch von der Öde der platten hellenischen Vollkommenheit des Stils. Was für einen Sinn hat es dann, sich von den atavistischen Reli-gionisten, von einer Wissenschaft, die dienstmädchengleich die Gasmaschinen wartet, von einer in einen miserablen Dialekt verstrickten Philosophie, die keinen Sinn ergibt, wenn der Initialschub von Anbeginn an von einem Haufen bellender und um sich schnappender Scholastikusse in Abrede gestellt wird, sich von all dem der Kunst zuzuwenden? Wenn die erfinderische Imagination, wie ich glaube, das Feld der Kunst für ihre reichsten Entdeckungen im Auge haben muß, wird sie ihren Weg am besten nach dem Kompaß nehmen und keinem vorgegebenen Pfad folgen.
Bevor jedoch irgendein Fortschritt in der Sache erzielt werden kann, muß es jemanden geben, der zwischen wahren und falschen Werten eine Trennungslinie zieht.
Der wahre Wert ist jene Eigenheit, die einem Gegenstand einen eigenen Charakter verleiht. Der assoziative oder sentimentale Wert ist der falsche. Seine Durchsetzung verdankt sich einem Mangel an Imagination, einem einfachen seitlichen Weggleiten. Die Aufmerksamkeit ist zu starr auf die eine Ebene ausgerichtet worden, statt einem flexibleren Zickzackkurs zu folgen. Um die Aufmerksamkeit zu lockern, meine Aufmerksamkeit, da ich einen Teil des Gebiets halte, schreibe ich diese Improvisationen. In diesem Punkt gerate ich mit Wallace Stevens aneinander.
Die Imagination geht von einem Gegenstand zum anderen. Nun gibt es viele
Gegenstände, die in ihrer Beschaffenheit fast völlig voneinander abweichen,
jedoch ein Tausendstel einer Eigenschaft gemeinsam haben. Vorausgesetzt, daß
sie neu und bemerkenswert sind, gehören diese Gegenstände einer imaginativen
Kategorie und nicht einer groben natürlichen Ordnung an. In meinen Augen ist
das der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Angelegenheit. Es ist einfach, dem Zauber
einer bestimmten Schreibweise zu erliegen, vor allem dann, wenn ihr Ursprung
weit zurückliegt, so daß bestimmte ihrer Elemente wesentlich bleiben, um ihre
Bedeutung, die in dem undurchdringlichen Nebel der Zeit für immer verlorengegangen
ist, zu rekonstruieren. Aber das Ding, das dem wirklich guten Schreiben ewig
im Wege steht, ist immer dasselbe: die faktische Unmöglichkeit, jene Dinge zur
Imagination emporzuheben, die der Erforschung durch die Sinne unmittelbar offenstehen,
die direkt vor unserer Nase liegen. Diese Schwierigkeit ist es, die allen Werken
der Kunst einen Wert verleiht und sie zu einer Notwendigkeit macht. Die Sinne,
in allen Einzelheiten Zeugen dessen, was unmittelbar vor ihnen ist, gewahren
eine Endgültigkeit, an die sie sich verzweifelt klammern, weil sie nicht wissen,
wohin sie sich wenden sollen. Auf diese Weise kommt es zu einer Fixierung der
sogenannten natürlichen oder wissenschaftlichen Ordnung,
dem leibhaftigen Teufel des modernen Lebens. Derjenige,
der auch nur eine Kerbe in die Festigkeit dieser Erscheinung haut, verrichtet
ein Stück Arbeit, das höher zu veranschlagen ist als die Säuberung der Augias-Ställe
durch Herakles. - William Carlos Williams, Prolog zu
(kore)
Imagination (10)
Daß die Imagination nicht zu Unrecht über alle andern Fähigkeiten
des Menschen gesetzt worden, geht hervor aus dem tiefen Bewußtsein des imaginativen
Menschen, daß die in Rede stehende Fähigkeit seine Seele oftmals in den Stand
setzt, eines flüchtigen Schimmers der übernatürlichen und ewigen Dinge habhaft
zu werden - und Dies bis unmittelbar an die Schwelle des Großen Geheimnisses,
Und wahrhaftig: Momente giebt's, darin der mit Imagination Gesegnete die nahezu
unmerklichen Düfte, die ahndungsvollen Melodieen einer Schöneren Welt wahrnimmt.
So manche der tiefsten Erkenntnisse - ja vielleicht sogar alle wirklich
profunden - haben ihren Ursprung in der aufs Höchste gesteigerten Imagination.
Wahrhaft große Geister sind groß im Mutmaßen: Keplers Planeten-Gesetze
sind eingestandener Maßen von der Mutmaßung dictirt worden. - Edgar
Allan Poe, Ein Kapitel Betrachtungen. Nach: E. A. P., Werke IV. Olten
und Freiburg 1966
Imagination (11)
L'imagination consiste à expulser de la realité plusieurs personnes incomplètes pour, mettant à contribution les puissances magiques et subversives du desir, obtenirleur retour sous la forme d'une présence entièrement satisfaisante. C'est alors l'inextinguible réel incrée. |
So ist die Phantasie: sie vertreibt ein paar unvollständige Wesen aus der Realität, benutzt die magische und rebellische Macht der Sehnsucht, bis sie wiederkommen, als Gegenwart, die restlos befriedigt. Das ist dann das unauslöschlich ungeschaffen Reale. |
- Aus: René Char, Partage formel - Unanfechtbarer Anteil,
in: R. C., Zorn und Geheimnis. Frankfurt am Main
1991 (zuerst 1948)
Imagination (12) Manchmal spreche ich von der Imagination als einer Kraft, einem elektrischen Strom oder einem Medium, einem Ort. Es kommt nicht darauf an, was es ist: denn ob sie die Merkmale eines Ortes hat oder einer dynamischen Verwandlung, die Wirkung ist dieselbe: die Welt der Tatsachen von dem Schwindel der >Kunst< zu befreien und es dem Menschen freizustellen, seinem Handeln die Richtung zu geben, in die ihn seine Veranlagung führt.
Das Wort ist nicht befreit, darum nicht in der Lage, Erlösung aus der Erstarrung
zu vermitteln, die es zerstört, solange es nicht genau auf die Tatsache eingestellt
ist, die, indem sie ihm Wirklichkeit verleiht, durch ihre eigene Wirklichkeit
die eigene Freiheit von der Notwendigkeit eines Worts herbeiführt und es solcherart
zugleich freisetzt und dynamisch verwandelt. - William Carlos Williams, Frühling und
Alles. Nach
(wcw)
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