rlöser
Um das Jahr 1830 erschien in einem der Staaten der amerikanischen
Union, der an Kentucky grenzt, ein Betrüger,
der erklärte, er sei Gottes Sohn, der Erlöser der Menschheit, und er sei
wieder auf der Erde erschienen, um die Gottlosen, Ungläubigen und Sünder
zu ihrer Pflicht zurückzurufen. Er behauptete, wenn sie nicht innerhalb
einer bestimmten Zeit ihren Lebenswandel änderten,
werde er ein Zeichen geben, worauf in einem Augenblick die Welt in Trümmer
gehen werde. Diese überspannten Behauptungen wurden selbst von Leuten geglaubt,
die Reichtum und eine Stellung in der Gesellschaft besaßen. Endlich bat
ein Deutscher den Messias demütig, die furchtbare
Katastrophe doch seinen Landsleuten in deutscher Sprache zu verkünden,
da sie kein Englisch verstünden und es schade sei, daß sie nur aus diesem
Grunde verdammt sein sollten. Der angebliche Erlöser
bekannte darauf mit großer Aufrichtigkeit, daß er kein Deutsch verstehe.
"Wie?" entetgegnete der Deutsche, "du willst der Sohn
Gottes sein und sprichst nicht alle Sprachen, verstehst nicht einmal Deutsch?
Komm, komm, du bist ein Schurke, ein Betrüger und ein Wahnsinniger. Bedlam
ist der richtige Ort für dich." Die Zuschauer
lachten und gingen beschämt über ihre Leichtgläubigkeit
davon.
- (
fraz
)
Erlöser (2) Wohin man sich wendet: überall
Larven, die predigen; jede Institution erfüllt eine Sendung; jedes Gemeindehaus
besitzt sein Absolutes, wie jede Kirche; die Verwaltung hat ihre Ordensregeln
: Metaphysik für Affen... Ein jeder will der Not eines jeden abhelfen,
selbst Bettler und unheilbare Kranke wollen es: auf dem Pflaster der Welt und
in den Hospitälern wimmelt es von Reformatoren. Bei jedem einzelnen wirkt das
Verlangen, Ursache von Ereignissen zu sein, wie eine geistige Störung, wie ein
selbstgewollter Fluch. Die Gesellschaft: eine Hölle voller Erlöser! Einen Gleichgültigen
- das war es, was Diogenes mit seiner Laterne
suchte... - E. M. Cioran, Lehre vom Zerfall, nach (
enc
)
Erlöser (3) Kurt Schwitters animierte
Hannah Höch nur, ihren Vornamen durch ein h am Ende zu vervollkommnen.
Anders ging Raoul Hausmann vor, der Künstler, Schriftsteller, Monokelträger
aus Wien und Mitbegründer von Dada-Berlin, den sie 1915
kennen lernte, als sie bei Emil Orlik in der Lehranstalt des Kunstgewerbemuseums
studierte. Hausmann, von dem sie später schrieb, er habe ihren Horizont „recht
gewaltsam, aber beträchtlich erweitert“, war gerade frisch chloroformiert von
Freud, Weininger & Co und ließ sie wissen: „Ich habe die Aufgabe, dich zu
erlösen.“ Nach sieben Jahren war die kuriose, stürmische Geschichte dieser versuchten
Zwangsemanzipation an ihr trauriges Ende gekommen und Hannah Höch reif für eine
Frauenfreundschaft. -
Petra
Kipphoff, Die Zeit
(29. Januar 2004)
Erlöser (4) Es gefiel ihnen in der Spelunke nicht mehr. Sie gingen hinaus, und im Hof sahen sie einen tiefen, tiefen Brunnen. Der Jüngste sagte zu den anderen beiden: »Holt einmal einen Strick, dann wollen wir nachschauen, was in dem Brunnen ist. Laßt mich mit ihm in die Tiefe hinab, und ich werde mich darum kümmern, in welche Abenteuer ich da komme.« Sie machten es so und ließen den Jüngsten hinunter, und als er auf dem Grund des Brunnens ankam, sah er sich in einem großen Saal, in dem an den Wänden ringsum eine Reihe von Statuen stand, und in einer Ecke des Saales saß ein Alter, der der Wächter zu sein schien.
Der Alte schlief, und da näherte sich ihm der Jüngste, zog sein gutes
Schwert und schlug ihm mit einem Streich den Kopf ab. Aber welch ein Wunder:
aus dem abgeschlagenen Haupt fiel ein Schlüssel
heraus. Der Jüngste hob den Schlüssel auf und öffnete mit ihm einen Schrank,
der dort stand. Und als er den Schrank geöffnet hatte, fand er dort ein
Schriftzeichen, das besagte: »O du, der du so tapfer warst, hier herunterzusteigen,
öffne die letzte Schublade dieses Schrankes!
Du wirst darin ein Gefäß mit Öl finden, und damit kannst du von den
Statuen salben, wen du willst. Und die Statuen, die du salbst, werden
ins Leben zurückkehren, mit Haut und Bein, Männer und Frauen.« Kaum hatte
der Bursche diese Schrift gelesen, da öffnete er die bezeichnete Schublade
und fand darin das Gefäß mit dem Öl. Er nahm das Gefäß heraus und ging
damit im Saal herum. Und da fand er in einer anderen Ecke die drei Prinzessinnen,
in Statuen verwandelt, die sie gesucht hatten. Er salbte mit dem Öl diese
drei Statuen, und sofort wurden sie lebendig, sprangen herum und umarmten
unter Dank ihren Erlöser. Er gab sich aber damit nicht zufrieden, sondern
er fuhrt fort, Statuen zu salben, solange ihm das Öl reichte. Und so sah
er sich schließlich von einer Menge hübscher junger Mädchen und eleganter
junger Burschen umgeben. Er führte sie alle dorthin, wo der Strick hing,
und er ließ einen nach dem andern hinaufziehen. Als er selber aber an die
Reihe gekommen wäre, merkte er zu seinem Erstaunen, daß seine Brüder
den Strick nicht mehr herunterließen. Er schrie laut, aber niemand antwortete
ihm. -
Italienische Volksmärchen. Hg. und Übs. Felix Karlinger. Düsseldorf u. Köln
1980 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)
Erlöser (5) Dann sah er dann sie - und er wußte, was er wollte. Sie hieß Jane Wilhelm, war in Grosse Point geboren und aufgewachsen, in ihrem Abschlußjahr von der Ben-nington-School abgehauen und in den Westen getrampt, um neue Werte und Freunde zu finden. Mit Schnürhemd und Flik-kenhose bekleidet hatte sie sich herumgetrieben und war schließlich in der Drogenszene am Sunset Strip gelandet. Er hatte sie zum ersten Mal vorm »Whisky a Go Go« gesehen, als sie mit einem Haufen vergammelter Hippietypen sprach und offensichtlich versuchte, ihre Intelligenz und gute Herkunft herunterzuspielen. Er gabelte sie auf und erzählte ihr von seiner Kassette und dem Stück Papier. Es ließ sie sichtlich nicht kalt, aber sie lachte kurz auf. Wenn er sie bumsen wollte, warum fragte er sie nicht einfach? Romantik wäre doch kitschig, und sie sei eine liberale Frau.
Damals wurde ihm durch seine Weigerung bewußt, daß er nun zum ersten Mal moralisch Stellung beziehen mußte. Es offenbarte sich ihm sein jetziges und sein zukünftiges Ziel: die Bewahrung weiblicher Unschuld.
Er beobachtee Jane Wilhelm in unregelmäßigen Abständen bis zum Ende der vom Prediger vorgeschriebenen dreißig Tage; er sah sie bei Bettorgien, in Drogenhöhlen und bei Rockkonzerten. Am einunddreißigsten Tag stolperte Jane allein aus »Gazzaris Disco«. Von seinem Wagen aus, der etwas südlich vom Sunset Strip geparkt war, sah er, wie sie über die Straße torkelte. Er schaltete das Fernlicht ein, das ihr voll ins Gesicht schien und ihre aufgedunsene Figur und die erweiterten Pupillen sichtbar werden ließ. Dies sollte ihre letzte Selbsterniedrigung sein! Er erdrosselte sie direkt auf dem Bürgersteig und warf dann ihren Körper in den Kofferraum seines Wagens.
Drei Abende später fuhr er nach Norden in eine ländliche Gegend in der Nähe von Oxnard. Nach einer Andacht am Straßenrand aus seiner »Erlösungs «-Kassette begrub er Jane in der weichen Erde neben einem Steinbruch. Soweit er wußte, wurde ihre Leiche niemals gefunden.
Er bog jetzt auf die Topanga Canyon Road ein und erinnerte sich an seine
Vorgehensweise, die es ihm gestattet hatte, zwanzig Frauen zu erlösen, ohne
daß die Massenmedien aufgeregt eingegriffen und Wirbel um seine Ergreifung gemacht
hatten. Sie war ganz einfach. Er wurde mit seinen Frauen eins, indem er Monate
damit zubrachte, Details aus ihrem Leben in sich aufzunehmen, jede Feinheit
auskostend und jeden Vorzug oder jede Schwäche auflistend, bevor er sich für
die Art ihrer Beseitigung entschied, die genau passend für die Person, sogar
auf den Geist der Auserwählten zugeschnitten war. Dadurch wurde das Planen zur
Werbung und das Töten zur
Vereinigung. -
James Ellroy, Blut auf dem Mond (mit: In der Tiefe der Nacht). Frankfurt am
Main / Berlin 1993
Erlöser (6) Die Gestalt erhob die Arme und sagte zu Travis, Elms und Agneta: »Ich bin die Auferstehung. Wer an mich glaubt, auch wenn er stirbt, wird leben, und wer lebt und an mich glaubt, wird niemals sterben. Glaubt ihr dies?«
»Ich ganz bestimmt«, sagte Elms von Herzen.
Travis sagte: »Das ist Quatsch.«
Agneta Rautavaara dachte bei sich: Ich bin nicht sicher. Ich weiß es einfach nicht.
»Wir sollen entscheiden«, sagte Elms. »Wir müssen entscheiden, ob wir mit ihm gehen wollen. Travis, du bist geliefert; du bist abgeschrieben. Bleib da sitzen, bis du verfaulst - das ist dein Schicksal.« Zu Agneta sagte er: »Ich hoffe, du rindest zu Christus, Agneta. Ich möchte, daß du ewiges Eeben erlangst, wie ich es bekomme. Ist es nicht so, Herr?« fragte er die Gestalt.
Die Gestalt nickte.
Agneta sagte: »Travis, ich finde - naja, ich meine, du solltest da mitmachen. Ich -« Sie wollte nicht darauf herumreiten, daß Travis tot war. Aber er mußte seine Lage begreifen; sonst war er, wie Elms gesagt hatte, verdammt. »Komm mit uns«, sagte sie.
»Du gehst also mit?« sagte Travis verbittert.
»Ja«, sagte sie.
Elms starrte die Gestalt an und sagte mit gedämpfter Stimme: »Mag sein, daß ich mich irre, aber da scheint sich etwas zu verändern.«
Sie sah hin, stellte jedoch keine Veränderung fest. Und doch schien Elms verängstigt.
Die Gestalt in dem weißen Gewand ging langsam auf den sitzenden Travis zu. Die Gestalt blieb dicht neben Travis stehen, hielt kurz inne, beugte sich dann vornüber und biß Travis ins Gesicht.
Agneta schrie auf. Elms starrte hin, und Travis, an seinen Stuhl gefesselt, warf sich hin und her. Die Gestalt aß ihn ruhig auf.
»Jetzt seht ihr doch ein«, sagte der Sprecher des Untersuchungsausschusses, »daß man dieses Hirn abschalten muß. Ihr Zustand hat sich ernsthaft verschlechtert; dieses Erlebnis ist schrecklich für sie, das muß sofort ein Ende haben.«
Ich sagte: »Nein. Wir vom Proxima-System finden diese Entwicklung höchst interessant.«
»Aber der Erlöser ißt Travis!« rief ein anderer der Erdmenschen aus.
»In Ihrer Religion«, sagte ich, »ist es doch so, daß Sie das Fleisch Ihres Gottes essen und sein Blut trinken? Was sich hier ereignet hat, ist bloß eine Spiegelung einer Eucharistie.«
»Ich befehle, daß ihr Hirn abgeschaltet wird!« sagte der Sprecher des Ausschusses. Sein Gesicht war blaß; Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Wir sollten erst noch etwas mehr sehen«, sagte ich. Ich fand das ausgesprochen aufregend, wie hier unser eigenes Sakrament vollzogen wurde, unser höchstes Sakrament, bei welchem der Erlöser uns, seine Gläubigen, verzehrt.
»Agneta«, flüsterte Elms, »hast du das gesehen? Christus hat Travis aufgegessen. Nur seine Handschuhe und seine Stiefel sind noch übrig.«
O Gott, dachte Agneta Rautavaara. Was geht hier vor?
Sie rückte ab von der Gestalt, ging näher zu Elms hinüber. Instinktiv.
»Er ist mein Blut«, sagte die Gestalt und leckte sich die Lippen. »Ich trinke von diesem Blut, dem Blut des ewigen Lebens. Wenn ich es getrunken habe, werde ich ewig leben.
Er ist mein Leib. Ich habe keinen eigenen Leib; ich bin nur ein Plasma. Indem ich seinen Leib esse, erlange ich ewiges Leben. Dies ist die neue Wahrheit, die ich jetzt verkünde, daß ich ewig bin.«
»Uns wird er auch noch essen«, sagte Elms.
Ja, dachte Agneta Rautavaara. Das wird er. Sie konnte jetzt sehen, daß die Gestalt eine Approximation war. Das ist eine Lebensform von Proxima, erkannte sie. Er hat recht, er hat keinen eigenen Körper. Die einzige Art, wie er zu einem Körper kommen kann, ist -
»Ich bring ihn um«, sagte Elms. Er riß das Lasergewehr für Notfälle aus seiner Halterung und richtete es auf die Gestalt.
Die Gestalt sagte: »Vater, die Stunde ist da.«
»Bleib mir vom Leib«, sagte Elms.
»Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen«, sagte die
Gestalt, »es sei denn, ich esse von eurem Leib und trinke von eurem Blut. Verkläre
dich, auf daß ich leben kann.« Die Gestalt kam auf Elms zu. - Philip K. Dick, Der Fall Rautavaara. Zürich 2000
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