Drei Zustände gibt es, die Schlüssel zu allen Erlebnissen sind: den Rausch, den Schlaf und den Tod. Daher hat es auch nie an wilden Zechern des Lebens gefehlt, nie an den heiteren und düsteren Aristokraten des Traumes, nie an Kriegern, Landsknechten und Abenteurern, kurz nie an solchen, denen die ganze Welt der Arbeitgeber und -nehmer, der Krämer und des Geldes höchst gleichgültig ist.
Möchten sie sich nie irre machen, nie über ihren Rang hinwegtäuschen
lassen, denn sie sind es, aus deren Träumen jede Ordnung
sich bildet und denen jede Ordnung
wieder zum Opfer fällt. Die Ordnung
selbst wird unnütz, sobald sich in ihr der große Traum
nicht mehr verwirklichen läßt. - (ej)
Schlüssel (2) Zur Winterszeit, als einmal
ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und
Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht
und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch
nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein
bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so
den Erdboden aufräumte, fand er einen
kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel
wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand
ein eisernes Kästchen. 'Wenn der Schlüssel nur paßt!' dachte
er, 'es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen.' Er suchte,
aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins,
aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte und
der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und
nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den
Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare
Sachen in dem Kästchen lagen. - (
grim
)
Schlüssel (3) Ein Schlüssel, den man im
Traum schaut, bedeutet einem Heiratslustigen, er werde eine treue
und haushälterische Frau bekommen, und einem Mann, der eine Sklavin
kaufen will, verspricht er eine Dienerin, die es gut mit ihm
meinen wird. Eine Reise verhindert er,
weil er das Symbol der Verriegelung und der Haft ist. Er dient
ja nicht zum öffnen, sondern zum Verschließen der Tür, denn sonst
brauchte man weder Schlüssel noch Tür.
Ist aber kein Hauswart da, dann sind Schlüssel und verschlossene
Türen vonnöten. Folgerichtig ist er für diejenigen ein Hindernis,
die auf Reisen gehen wollen; für Leute aber, die bereit sind,
ein Aufseheramt zu übernehmen oder fremden Besitz zu verwalten,
ist er das Sinnbild des Vertrauens. - (
art
)
Schlüssel (4) Alle Menschen sind Rätsel,
bis wir endlich in irgendeinem Wort oder irgendeiner Tat den Schlüssel zu dem
Mann oder der Frau finden; mit einem Schlag liegen dann all ihre früheren Worte
und Taten vor uns im Licht. - Ralph Waldo Emerson, Tagebücher. Nach: Colin Dexter, Und kurz ist unser Leben. Reinbek
bei Hamburg 2000
Schlüssel (5) Bevor es dunkel wurde, kletterte er mit dem Kind die Treppen zum Turm hinauf; der Schlüssel drehte sich im Schloß, und die Tür, wie der Deckel einer Geheimkassette, öffnete sich und ließ sie ein. Das Zimmer war leer. »Wo sind die Geheimnisse?« fragte das Kind und starrte auf die staubbedeckten Balken und in die Spinnenwinkel hinein und an den bleigefaßten Fensterscheiben entlang.
»Es ist genug, daß ich dir den Schlüssel gegeben habe«, sagte der Gärtner, der glaubte, in seiner Tasche bei den Vogelfedern und bei den Blumensamen sei der Schlüssel zum Weltall versteckt.
Das Kind begann zu weinen, weil keine Geheimnisse da waren. Wieder und wieder durchforschte es das leere Zimmer, wirbelte den Staub hoch, um nach einer farblosen Falltüre auszuspähen, klopfte die ungetäfelten Wände ab und wartete auf die hohle Stimme eines Zimmers jenseits des Turmes. Es wischte die Spinnweben vom Fenster und sah durch den Staub hinaus in den schneienden Weihnachtsabend. Eine Welt von Hügeln dehnte sich weit in den abgemessenen Himmel, und die Gipfel von Bergen, die es nie gesehen hatte, kletterten hoch, um den fallenden Flocken entgegenzukommen. Wald und Felsen, weite Meere und Ödland lagen vor ihm, und eine neue Sintflut von Berghimmel, die durch die schwarzen Buchen schwemmte. Im Osten aber waren die Umrisse der namenlosen Hügelgeschöpfe und ein Nest von Bäumen.
»Wer sind die? Wer sind die?«
»Das sind die Jarvishügel«, sagt der Gärtner, »die von Anfang an da waren.«
- (echo)
Schlüssel (5) Wohlgemerkt, begann mein Vater, der
vor dem Haustor stand, die Hände unter den Rock in die Seiten gestützt, zu der
Frau, die neben ihm stand: wohlgemerkt, redete er, indes er die Augen einkniff
und den Weg hinabschaute, er verdächtige niemand, den Schlüssel veruntreut zu
haben, es gehe ihm einzig darum, sagte er, andere Worte gebrauchend, den Verlustort
des Schlüssels ausfindig zu machen, damit wir endlich vom Fleck kämen. Was einmal
geschehen sei, sagte darauf die Frau, könne man nicht ändern. Ob er vielleicht
auf dem Weg liege, erwog mein Vater, ohne auf ihren Einwurf zu achten. Man könne
nie wissen, setzte er hinzu, während er unbeteiligt einen Blick auf die Hühner
warf. In der Kirche, sagte die Frau, sei er noch in der Tasche gewesen. Wahrscheinlich
habe sie ihn im Auto verloren, half ihr mein Vater. Dort, antwortete sie, habe
sie die Tasche nicht in der Hand gehabt. So werde es also im Ort gewesen sein,
überlegte mein Vater für sich. Da sei er sicher noch drin gewesen, enttäuschte
ihn seine Frau. Ob sie dessen gewiß sei? forschte mein Vater. Sie sei es, gab
die Frau auf derStelle zur Antwort: als sie, so sagte sie aus, etwas der Tasche
entnommen habe, sei ihr, dadurch, daß sie suchte, der Schlüssel zwischen die
Finger geraten. Was aber habe sie der Tasche entnommen? Den Brief, erwiderte
sie; sie habe ihn meiner Schwester gegeben. Sie möge sagen, wo dieses vor sich
gegangen sei, ermunterte sie mein Vater. In der Kirche, erinnerte sich die Frau:
während das Volk zum Ausgang gedrängt habe. Und dort, ergänzte mein Vater, sei
er also noch drin gewesen? Sie habe es gesagt, sagte die Frau. Irgendwo müsse
er wohl sein, machte mein Vater seinem Ärger Luft, er könne doch nicht vom Erdboden
verschwinden. Da möge er recht haben, sagte die Frau, jedoch wir hatten ja noch
seinen Schlüssel. Einverstanden, höhnte darauf mein Vater: gleichwohl wünsche
er zu erfahren, wo der Schlüssel verlorengegangen, alles, was recht sei, er
rede nicht zum Vergnügen. Seinen Schlüssel, sagte die Frau, habe er im Rock.
Sie mache es sich zu billig, beteuerte mein Vater. Ja, lenkte sie ein. -
Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977
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