akrament
»Der Stoizismus«, sagt Baudelaire, »ist
eine Religion, die nur ein Sakrament kennt: den Selbstmord!«
Obgleich der Selbstmord für ihn sehr früh diese Bedeutung des einzigen Sakraments
angenommen hat, kann man von Jacques Rigaut keineswegs behaupten, daß
er ein Stoiker war. Resignation ist nicht seine Stärke: Für ihn ist nicht nur
Leid etwas Unerträgliches, sondern auch Freudlosigkeit. Grenzenloser, krasser
Egoismus liegt bei ihm im Streit mit einer natürlichen Generosität, die an größte
Verschwendung grenzt. Er ist sogar bereit, für ein Ja oder für ein Nein selbst
das Leben hinzugeben. Des Lebens schönstes Geschenk ist die Freiheit, die es
dem Menschen läßt, aus ihm zu scheiden, wann es ihm paßt, eine zumindest theoretische
Freiheit, doch die vielleicht die Mühe lohnt, in einem erbitterten Kampf gegen
die Feigheit und die Hinterhältigkeit eines vom Menschen geschaffenen Bedürfnisses
errungen zu werden, das zu dem natürlichen Bedürfnis in höchst undurchschaubarer
und loser Beziehung steht. Jacques Rigaut hat sich mit kaum zwanzig Jahren selber
zum Tode verurteilt und von Stunde zu Stunde, zehn Jahre lang, ungeduldig auf
den Augenblick gewartet, da es angemessen wäre, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Es war auf jeden Fall ein spannendes menschliches Experiment, dem er eine halb
tragische, halb humoristische Note zu geben wußte, die nur ihm eigen ist. Petronius,
Alphonse Rabbe, Paul Lafargue und Jacques Vache füngieren als Richtungsanzeiger
auf einem Weg, der auch von einigen Helden gesäumt wird, die sich ärgerlicherweise
von denjenigen unterscheiden, die sie ins Leben gerufen haben: »Wer ist der,
der nicht Julien Sorel ist? Stendhal. - Wer ist der, der nicht Monsieur
Teste ist? Valéry. - Wer ist der, der nicht Lafcadio ist? Gide.
- Wer ist der, der nicht Julia ist? Shakespeare.«
Jacques Rigaut, dessen literarischer Ehrgeiz sich darauf beschränkte, eine Zeitung
mit dem recht vielsagenden Titel »Le Grabuge« gründen zu wollen, schiebt jeden
Abend einen Revolver unter sein Kopfkissen: Dies ist seine Art, sich der allgemeinen
Meinung anzuschließen, daß guter Rat über Nacht kommt, und zu hoffen, den inneren
Übeltätern, das heißt den konventionellen Formen der Anpassung ein Ende zu machen.
Baudelaire sagt auch noch: »Das Leben hat einen echten Reiz; es ist der
Reiz des Spiels. Aber wenn es uns gleichgültig ist,
ob wir gewinnen oder verlieren?« Rigaut kokettiert mit dieser Gleichgültigkeit,
ohne sie zu erlangen, doch es bleibt das Spiel. Sein Glück versuchen; im Falle
eines mehr oder weniger bohrenden Zweifels sich aufs Geratewohl Gewißheit verschaffen.
Er gibt sich für einen »moralischen Menschen« aus, aber hat man die Art seines
Entschlusses gesehen, ist es nichts mit der Wohlanständigkeit.
Wir haben es mit dem ewigen Dandyismus zu tun: »Ich werde ein
großer Toter sein ... Versucht, wenn ihr könnt, einen Menschen aufzuhalten,
der mit seinem Selbstmord im Knopfloch reist.« Man wird an das Gähnen
von Chateaubriand gemahnt: »Unvorsichtig der Mensch, der vor dem Spiegel
gähnt. Wer von beiden wird des Gähnens müde werden? Wer hat als erster gegähnt?
Aus weit geöffnetem Munde entweicht mein Gähnen bis zu der schönen Amerikanerin.
Ein Neger hat Hunger, ein Mädchen langweilt sich: Ich war es, der gegähnt hat.«
Es handelt sich immer darum, in einen Rolls-Royce zu springen, doch daß man
sich nicht täusche, in einen, der rückwärts fährt. »Nach mir die Sintflut«,
diese Worte bringen Rigaut auf keinen anderen Gedanken, als seine Aszendenz
zurückzuverfolgen, die einigermaßen akzeptablen Toten zu deren Lebzeiten einzuholen
und ihrem Schicksal mit einem kleinen Dreh eine andere Wendung zu geben. Nur
das Vehikel gilt es zu finden. Auf das Geistesleben bezogen, ist das Jarrys
Wettrennen von zehntausend Büchern. Am 7. November 1929 ist der Augenblick
endlich gekommen. Nachdem Jacques Rigaut sorgfältig Toilette gemacht und auf
diese Art Abgang alle erforderliche Korrektheit verwandt
hat - nichts herumliegen lassen, einer eventuellen Erschütterung, die eine letzte
Konzession an die Unordnung sein könnte, mit Kissen
vorbeugen —, schießt er sich eine Kugel ins Herz. - (
hum
)
Sakrament (2) «Ja, Angst», sagte Agustín. «Angst und das andere. Und im Leben eines Menschen gibt es nichts Stärkeres als dieses andere.»
Ja, dachte Robert Jordan. Sie sind nicht wie wir, die wir kalten Blutes zur Waffe greifen. Für sie war's schon immer eine Leidenschaft. Ein besonderes Sakrament, das alte Sakrament, dem sie dienten, bevor sie vom anderen Ende des Mittelmeeres her die neue Religion erhielten, das Sakrament, das sie nie preisgegeben, das sie nur unterdrückt und versteckt haben, um es im Krieg und in der Inquisition wieder hervorzuholen. Das ist das Volk des autodafé, der ‹Glaubenstat›. Es läßt sich nicht vermeiden, Menschen zu töten, aber ihre Art ist eine andere als die unsere. Und du, dachte er, du bist nie davon angesteckt worden? In der Sierra? Oder bei Usera? Oder während der ganzen Zeit in Estremadura? Oder sonst irgendwann? Qué va! sagte er zu sich selber. Bei jedem Eisenbahnüberfall.
Hör auf, zweifelhafte literarische Betrachtungen über die Berber und die
alten Iberer anzustellen, und gib zu, daß dir das Morden Spaß gemacht hat, wie
es allen, die aus freien Stücken den Soldatenberuf wählen, irgendeinmal Spaß
gemacht hat, ob sie es nun ableugnen oder zugeben. - Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt. Frankfurt am Main
1978 (zuerst 1940)
Sakrament (3) Zu wiederholten Malen war ihm versichert worden, das Sakrament werde ihn umwandeln: nun lauerte er ein paar Tage lang auf den Blütenlenz in seiner Seele. Doch blieb er immer der gleiche, und ein schmerzliches Staunen bemächtigte sich seiner.
Wie? Das Fleisch des Herrn geht ein in unser Fleisch und hat keinerlei Wirkung zur Folge! Das Denken, das die Welten lenkt, bringt keine Erleuchtung in unseren Geist! Die allerhöchste Macht läßt uns in unserer Ohnmacht im Stich!
Monsieur Jeufroy sprach ihm Mut zu und empfahl ihm den Katechismus
des Abbé Gaume. - Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Zürich 1979
(zuest 1881)
Sakrament (4)
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