töhnen
Jedenfalls war die alte Frau im Regen auf die Veranda geklettert. Sie
war heruntergekommen, körperlich, meine ich — wie die meisten Stadtstreicherinnen,
und sie lag vier Tage lang einfach da. Die Typen aus dem Halfway Hause — auch
Grogan selber — mußten am ersten Tag regelrecht über sie hinweg steigen. Dann
schaffte sie es, an die Wand zu kriechen. Der springende Punkt ist: Niemand
hat ihr geholfen, niemand hat ihr zu essen oder zu trinken gegeben. Sie war
zu schwach, um sich zu bewegen, und sie ist einfach dort gestorben. Als sie
gestorben war, sagte jemand Grogan Bescheid, und da rief er einen Krankenwagen,
damit man sie abholte, Als sie ihn fragten, warum er sie nicht gerufen habe,
als die Alte auf seiner Veranda erschienen war, erklärte er, es habe ihn nicht
gestört, daß sie dort lag. Sie sei niemandem lästig gefallen, sagte er, aber
er hätte die Polizei gerufen, wenn sie versucht hätte, ins Haus zu kommen. Auf
Befragen behaupteten all diese Leute, die auf Bewährung draußen waren und in
dem Haus lebten, sie hätten nichts Besonderes dabei gefunden, daß da eine stöhnende
Frau auf der Veranda gelegen habe. - Charles Willeford, Neue Hoffnung für die Toten.
Berlin 2002 (zuerst 1985)
Stöhnen (2)
Das Licht, das mir entgegenkommt, als der Wald
sich aufhellt, ist ein ruhiges Morgenleuchten; und jetzt höre ich es. Ein Stöhnen,
ein kurzes, bündiges Weinen, sofort unterbrochen, ohne Schluchzer; ein Stöhnen,
das vielleicht aus einer Felsspalte, einem Riß im Boden, einem Höhlenausgang
kommt. Das Stöhnen ist hell, fest, kurz und sehr vornehm, wie auf einem Musikinstrument
gespielt, mit großer Genauigkeit; das Stöhnen löst kein Grauen in mir aus, erschreckt
mich nicht, veranlaßt mich nicht, zurückzuweichen; mein Gefühl ist das der Bewunderung,
so als befände ich mich bei der glänzenden Darbietung eines Solisten. Aber ist
es denn wirklich ein Stöhnen? Vielleicht ist es die Modulation eines Satzes
in einer mir unvertrauten, fremden, unerreichbaren Sprache. Das Stöhnen wiederholt
sich, und ich denke, es könnte ein Gebet sein, oder eine Wehklage, oder eine
mehr gekränkte als fordernde Bitte, vielleicht eine Bitte um Klärung. Doch an
wen wäre die Bitte, das Gebet, die Wehklage wohl gerichtet? Ist es, dieses Stöhnen,
ein Zeichen dafür, daß eine Verhandlung zwischen Göttern
im Gang ist, zwischen einem verwundeten Gott und einem Gott, der über eine wilde
und siegreiche Macht verfügt? Das Stöhnen setzt wieder ein, stärker, höher,
vornehmer, und gleichzeitig mit einem Anflug von Verächtlichkeit; ja, jemand
ist verwundet worden, vielleicht tödlich getroffen.
- Giorgio Manganelli,
Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)
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