aden

Schau hin, du wirst es nicht sehen -
man nennt es unsichtbar
Horche, du wirst es nicht hören -
man nennt es unhörbar
Greif danach, du wirst es nicht fassen -
man nennt es unfaßbar

Diese drei sind unergründlich,
deshalb sind sie zu einem Einzigen miteinander verbunden
Es strahlt nicht von oben,
und doch ist es von unten her nicht dunkel

Wie ein unendlicher Faden,
und doch nicht zu beschreiben
Es kehrt zuruck ins Nichts
Man nennt es die Gestalt des Gestaltlosen,
das Bild des Wesenlosen,

unvorstellbar
und jenseits aller Phantasie
Du stehst davor, doch du siehst sein Gesicht nicht,
du folgst ihm, doch du siehst seinen Rücken nicht

Bleib auf dem uralten Weg,
um das Reich der Gegenwart zu meistern
Die Fähigkeit, den Anfang allen Seins zu erkennen,
nennt man den Faden, der sich durch den Weg zieht

- (tao)

Faden (2)   Mein Weg wird  nicht zurück oder vorbei, sondern mitten hindurch führen. Das muß so sein. Auch Reiting wird nicht von der Sache lassen, denn auch für ihn hat es einen besonderen Wert, einen Menschen ganz in seiner Hand zu haben und sich üben zu können, ihn wie ein Werkzeug zu behandeln. Er will herrschen und würde dir es geradeso machen wie Basini, wenn die Gelegenheit zufällig dich träfe. Für mich handelt es sich jedoch noch um mehr. Fast um eine Verpflichtung gegen mich selbst; wie soll ich dir nur diesen Unterschied zwischen und klarmachen? Du weißt, wie sehr Reiting Napoleon verehrte: halte nun dagegen, daß der Mensch, welcher mir vor allen gefällt, mehr irgendeinem Philosophen und indischen Heiligen ähnelt, Reiting würde Basini opfern und nichts als Interesse dabei empfinden. Er würde ihn moralisch zerschneiden, um zu erfahren, worauf man sich bei solchen Unternehmungen gefaßt zu machen hat. Und wie gesagt, dich oder mich geradesogut wie Basini und ohne daß es ihm im geringsten naheginge. Ich dagegen habe geradesogut wie du diese gewisse Empfindung, daß Basini schließlich und endlich doch auch ein Mensch sei. Auch in mir wird etwas durch eine begangene Grausamkeit verletzt. Aber gerade darum handelt es sich! Förmlich um ein Opfer! Siehst du, auch ich bin an zwei Fäden geknüpft. An diesen einen, unbestimmten, der mich in Widerspruch zu meiner klaren Überzeugung an eine mitleidige Tatlosigkeit bindet, aber auch an einen zweiten, der zu meiner Seele hinläuft, zu innersten Erkenntnissen, und mich an den Kosmos fesselt. Solche Menschen wie Basini, sagte ich dir schon früher, bedeuten nichts — eine leere, zufällige Form. Die wahren Menschen sind nur die, welche in sich selbst eindringen könnien, kosmische Menschen, welche imstande sind, sich bis zu ihrem Zusammenhange mit dem großen Weltprozesse zu versenken. Diese verrichten Wunder mit geschlossenen Augen, weil sie die gesamte Kraft der Welt zu gebrauchen verstehen, die in ihnen geradeso ist wie außer ihnen. Aber alle Menschen, die bis dahin dem zweiten Faden folgten, mußten den ersten vorher zerreißen. Ich habe von schauerlichen Bußopfem erleuchteter Mönche gelesen, und die Mittel der indischen Heiligen sind ja auch dir nicht ganz unbekannt. Alle grausamen Dinge, die dabei geschehen, haben nur den Zweck, die elenden nach außen gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie nun Eitelkeit oder Hunger, Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer abziehen, das jeder in sich zu erwecken vermag.

Reiting kennt nur das Außen, ich folge dem zweiten Faden.  Jetzt hat er in den Augen aller einen Vorsprung, denn mein Weg ist langsamer und unsicherer. Aber mit einem Schlage kann ich ihn wie einen Wurm überholen. Siehst du, man behauptet, die Welt bestünde aus mechanischen Gesetzen, an denen sich nicht rütteln lasse. Das ist ganz falsch, das steht nur in den Schulbüchern! Die Außenwelt ist wohl hartnäckig, und ihre sogenannten besetze lassen sich bis zu einem gewissen Grade nicht beeinflussen, aber es hat doch Menschen gegeben, denen das gelang. Das steht in heiligen vielgeprüften Büchern, von denen die meisten nur nichts wissen. Von dorther weiß ich, daß es Menschen gegeben hat, die Steine und Luft und Wasser durch eine bloße Regung ihres Willens bewegen konnten und vor deren Gebete keine Kraft der Erde fest genug war. Aber auch das sind erst die äußerlichen Triumphe des Geistes. Denn wem es ganz gelingt, seine Seele zu schauen, für den löst sich sein körperliches Leben, das nur ein zufälliges ist; es steht in den Büchern, daß solche direkt in ein höheres Reich der Seelen eingingen. - Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg 1965 (zuerst 1906)

Faden (3)  Ariadne war es müde, auf Theseus' Wiederkehr aus dem Labyrinth zu warten, auf seinen monotonen Schritt zu lauern und sein Gesicht unter all den flüchtigen Schatten wiederzuerkennen. Ariadne hat sich erhängt. An der aus Identität, Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen Schnur dreht sich ihr Körper nachdenklich um sich selbst. Der Faden ist gerissen, und Theseus kommt nicht wieder. Er rennt und rast, taumelt und tanzt durch Gänge, Tunnel, Keller, Höhlen, Kreuzwege, Abgründe, Blitze und Donner. - Michel Foucault, nach: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991

Faden (4)  Während er durch den Wald zurückging, begann er sich zu fürchten. Im Wald fürchtete er sich nachts immer ein bißchen. Er Öffnete die Zeltklappe, zog sich aus und lag dann, in die Decken gehüllt, ganz still in der Dunkelheit. Draußen war das Feuer zu einem Häufchen Glut heruntergebrannt. Nick lag reglos und versuchte einzuschlafen. Es war totenstill. Nick dachte, wenn er nur einen Fuchs bellen hören würde, oder den Ruf einer Eule, oder irgend etwas, dann wäre alles in Ordnung. Es war noch nichts Bestimmtes, wovor er Angst hatte. Aber die Angst wuchs.

Dann hatte er plötzlich Angst vor dem Sterben. Es war ein paar Wochen her, da hatten sie daheim in der Kirche einen Choral gesungen: «Und einmal reißt der Faden ab.» Während sie den Choral sangen, war Nick klargeworden, daß er eines Tages sterben mußte. Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken. Es war das erste Mal, daß ihm das klar wurde: irgendwann mußte er selber sterben.

An jenem Abend hatte er sich in die Diele gesetzt und versucht, im Schein der Nachtlampe ‹Robinson Crusoe› zu lesen, um seine Gedanken von der Tatsache abzulenken, daß der Faden einmal abreißen mußte. Das Kindermädchen hatte ihn dabei erwischt und gedroht, sie werde es seinem Vater sagen, wenn er nicht sofort zu Bett ginge. Er war zu Bett gegangen und hatte sich, -sobald das Kindermädchen in ihrem Zimmer war, wieder unter die Lampe in der Diele gesetzt und bis zum Morgen gelesen.

Gestern abend hatte ihn im Zelt die gleiche Furcht überfallen. Tagsüber geschah das nie: immer nur nachts. Zuerst war es mehr Begreifen gewesen als Fürchten, aber doch dicht an der Grenze der Furcht, und es war rasch zur Furcht geworden, nachdem es einmal angefangen hatte. - Ernest Hemingway, Drei Schüsse. In: E. H., Die Nick Adams Stories. Reinbek bei Hamburg 1973

Faden (5)  Die arme Minnu. Die Katze mußte schwere Zeiten durchmachen. Warum nur müssen kleine Jungen immerzu Katzen quälen? Ich erinnere mich, wenn es Hackbraten gab, wanderte der Faden, von dem er zusammengehalten wurde, in den Abfalleimer. Dort zerrte Minnu ihn heraus, kaute darauf herum und verschlang ihn dann ganz. Wenn er sich am nächsten Tag hinten wieder zu zeigen begann, traten wir auf das heraushängende Ende, was der armen Katze starke Schmerzen machte. - (wcwa)

Faden (6)  Die Begründer der Superstring-Theorie suchten nach einer Erklärung, warum Quarks in der Natur nie allein auftreten, und verfielen auf den Gedanken, daß die Quarks an den Enden von Strings haften: Wenn man einen String durchschneidet, erhält man zwei neue Enden und zwei neue Quarks. Als sich in den siebziger Jahren die Quantenchromodynamik als die neue Theorie der Quarks durchsetzte, weigerte sich John Schwarz, damals Forschungsassistent am Caltech, das faszinierende Reich der Strings zu verlassen. In Zusammenarbeit mit einer Reihe von Mitarbeitern - der jüngste ist Michael Green vom Imperial College in London - entwickelte er die Theorie weiter, so daß sie nicht mehr nur für Nukleonen, sondern für alle Elementarteilchen galt.

Ed Witten, Physiker aus Princeton, wurde bald einer der führenden Köpfe der Superstring-Revolution. Er nannte die Su-perstrings ein Stück Physik des 21. Jahrhunderts, das ins 20. Jahrhundert gefallen sei und das man vermutlich erst mit der Mathematik des 22. Jahrhunderts werde verstehen können. Das 21. Jahrhundert hatte folgende Aussage über das Universum zu machen: Die Raumzeit besitzt zehn Dimensionen, auch wenn man sein Auto leider nur in drei davon parken kann. Die Welt besteht aus kleinen Schleifen von string - wenn das Wort klein auf Einheiten anwendbar ist, die kleiner sind als die Maßstäbe der Geometrie. Sie hüpfen und winden sich wie eine Forelle auf dem Boden eines Fischerboots. Daß der Name das Wort »super« enthielt, rührte von der Tatsache her, daß sich die Supersymmetrie und damit alle Teilchen, die die Physiker lieben, natürlicherweise aus der Theorie ergaben - wenigstens im Prinzip. In der Praxis war es schwierig, mittels der Superstring-Theorie überhaupt eine Berechnung über die normale Welt anzustellen. Im Gegensatz zu den kosmischen Strings, die man sich als dünne Röhren vorstellen kann, die mit der Energie des primordialen falschen Vakuums gefüllt sind, haben die Superstrings keine innere Struktur. Sie sind nicht reduzierbar, wie ein geometrischer Punkt nicht reduzierbar ist.

Sie sind weder Materie noch Energie, noch Geometrie - sie sind die Elemente, aus denen all diese Dinge bestehen. - Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München 1993

 

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