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forn
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Rutsche (2) ES GIBT KEINEN GOTT
Jemand versetzte mir einen verhängnisvollen Stoß. Ich glitt mit schwindelerregender Geschwindigkeit eine schwindelerregende Rutschbahn hinab. Mathematisch beschleunigt. Interplanetarisch. In einem Neigungswinkel von 45 Grad mit dem Gefühl, mich in eine dieser Spindeln verwandelt zu haben, die, von den Sternen abgestoßen, eine Beschleunigung von einer Million Umdrehungen pro Sekunde erreichen. Alles war Strudel, Drehung, Gezisch, Schreie, Pfeilschüsse, das Herz schlug mir bis zum Hals, eine Menschenmenge schrie Hurra, Ruhm, Ungewißheit, Furcht, Kälte.
Ich zerschelle! Ich zerschelle!
Aber nie gelangte ich ans Ende meines
Falls. Immer mehr fühlte ich mich wie ein unaufhaltsamer
Schlitten innerhalb eines Schlittens.
Kreiselumdrehungen n-ter
Größenordnung.
Ein Sturz in der Thermometersäule.
Die
Kälte von Millionen von Sternen durchbohrt meine Nasenspitze.
Die
Schwerkraft war so übertrieben, daß ich zu lachen
anfing.
Heda! Heda! Schrie mir die für Momente aufgebrachte Menge zu.
Die Jahrhunderte waren Sekunden in diesem Schlitten, der die Gewalt eines
Mausergewehrs hatte.
Als ich schon verzweifelte, einen Halt finden zu
können, ereignete sich eine schreckliche Explosion. Es war der Planet Saturn,
der in einer Straßenbahn voller Kinder explodiert war.
Mit einem Mal spürte ich eine äquatorialische Gelassenheit. Ein Hermelinmantel
liebevoll über meine Schulter gelegt. Ein Sichberuhigen all meiner bis
dahin haargesträubten Eingeweide. Eine Schläfrigkeit. Eine Hand
oder ein Flügel, der sich auf meine Stirn legte. Und eine altehrwürdige
Stimme, die sagte: »Jetzt kannst du sterben.«
- (
bun
)
Rutsche (3)
Dieses schürfende Geräusch,
immer höher, voll Angst, bröselt, bricht, auf allem, nach unten |
- Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue
Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)
Rutsche (4)
Rutsche (5)
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