utsch   Es steht außer Frage, daß es für denjenigen, der nicht mit seinem Herzen an Land ist, eine wahre Freude sein muß, zu sehen, wie sich ein kleines Fahrzeug zwischen den gewaltigen Seen seinen Weg bahnt. So werde ich nie die dreitägige Fahrt vergessen, die ich mit einer kleinen Vierhundert-Tonnen-Bark in einem schweren, langanhaltenden Sturm ungefähr zwischen den Inseln St. Paul und Amsterdam und Kap Otway an der australischen Küste erlebte. Der Himmel war grau, die See grün, also zweifellos schweres, wenn auch nach seemännischen Begriffen handliches Wetter. Die Bark schien vor beiden Untermarssegeln und gereffter Fock mit der langen gleichmäßigen See um die Wette zu laufen. Selbst in den Wellentälern verlor sie nicht den Wind aus den Segeln. Die mit feierlichem Donnern von achtern aufkommenden Brecher liefen in Relingshöhe an beiden Seiten des Schiffes mit wild kochender Gischt vorbei, zogen brüllend und zischend nach vorne, während das kleine Fahrzeug seinen Klüverbaum in den wirbelnden Schaum tauchte und dann in der glatten, gläsernen Senkung, dem tiefen Tal zwischen zwei Wellenbergen, die den Horizont nach vorn und achtern verdeckten, unentwegt weiterlief. Es lag soviel Zauber in dieser beherzten Gewandtheit, in dieser fortgesetzten Entfaltung makelloser Seetüchtigkeit, in diesem Abbild des Mutes und der Ausdauer, daß ich mich in den drei unvergeßlichen Sturmtagen nicht von dem Anblick trennen konnte. Auch mein Steuermann war so hingerissen, daß er diese Fahrt als einen »großartigen Rutsch« pries.  - (con)

Rutsch (2) Schließlich sah ich, wie ich an einem Abgrund stehen blieb. Es hatte sich dort durch Einsturz eine Art Krater gebildet, tief und mit glatten Wänden. Unten hatte sich das Wasser gesammelt und einen kleinen milchigen See geschaffen, gleich einem blinden Auge. Ich wußte nicht mehr, was ich machen sollte, und blickte ratlos in die Tiefe, Da sah ich am Rande des Sees eine winzige menschliche Figur hocken. Vor Freude achtete ich nicht darauf, wo ich stand, ich trat zu fest auf oder tat einen Schritt vorwärts, jedenfalls gab der Boden unter mir nach und ich kam ins Gleiten. Unaufhaltsam und immer rascher glitt ich bergab. Es war ein höchst lächerlicher Anblick, wie ich da rutschte und zappelte. Und es lachte auch jemand. Erst fern und fremd, dann immer näher und lauter. Und vor allem immer bekannter. Es klang wie freundlicher Hohn.  - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)

Rutsch (3)   Etwas geriet ins Rutschen. Da saß ich, warm und hell, ganz bei meiner Pfeife und der warmen hellen Mauer, als plötzlich irgendwo irgend etwas, etwas Kleines, etwas Winziges ins Rutschen geriet. Sch-sch-scht - HALT! Ich hoffe, das ist klar genug. Da ist eine große Sandalp, hundert Meter hoch, zwischen Kiefern und Ozean, und da, in der warmen mondlosen Nacht, wenn niemand lauert, niemand lauscht, rutschen die Körnchen in winzigen Päckchen von zwei oder drei Millionen, alle auf einmal, ein kleiner Rutsch von zwei oder drei Millimetern vielleicht, und dann halt, alle auf einmal, keines fehlt, und das ist alles, das ist alles für diese Nacht, und vielleicht alles für immer, denn am Morgen kann mit der Sonne eine kleine Brise vom Meer kommen und sie weit auseinanderblasen, oder ein Fußgänger sie mit seinem Fuß auseinanderstoßen, obwohl das weniger wahrscheinlich ist. Solcher Art war der Rutsch, den ich an jenem Dienstagnachmittag spürte, Millionen kiemer Dinge, die sich alle auf einmal von ihrem alten Platz fort zu einem neuen in der Nähe bewegten, heimlich, als ob es verboten wäre. Und ich bezweifle kaum, daß ich der einzige lebende Mensch war, der es bemerkte. Daraus zu schließen, daß es ein innerer Vorgang war, wäre meines Erachtens gewagt. Denn mein - wie soll ich sagen? - mein persönliches System war zu jener Zeit, von der ich spreche, so ausgedehnt, daß es keineswegs leicht war, zwischen dem drinnen Liegenden und dem draußen Liegenden zu unterscheiden. Alles, was geschah, geschah drinnen, und gleichzeitig geschah alles, was geschah, draußen. Ich hoffe, das ist eindeutig. Ich sah dies Etwas nicht, muß ich das sagen, und hörte es auch nicht kommen, aber ich nahm es durch eine so lebhafte Sinnes-empfindung wahr, daß im Vergleich damit die Eindrücke eines an Lissabons glorreichem Tag in Lissabon lebendig Begrabenen als eine kühle, künstliche Verstandeskonstruktion erscheinen. Die Sonne auf der Mauer, denn in dem Moment betrachtete ich ja gerade die Sonne auf der Mauer, erfuhr eine plötzliche und, ich wage zu sagen, radikale Veränderung. Die Sonne und die Mauer waren dieselben oder beide nur so wenig älter geworden, daß der Unterschied getrost außer acht gelassen werden kann, aber sie waren so verändert, daß ich das Gefühl hatte, ich wäre, ohne es gemerkt zu haben, in einen ganz anderen Hof, in eine ganz andere Jahreszeit und in ein fremdes Land versetzt worden. - (wat)

Rutsch (4)   »Es gibt in den Schriften einen Text. Er heißt: ›Wer Fragen stellt‹, beziehungsweise: ›Blick in den Spiegel‹ - »Die Veränderung, beginnt er, »worin bestand sie? Es ist schwer zu sagen. Etwas geriet ins Rutschen. Da saß ich, warm und hell, ganz bei meiner Pfeife und der warmen hellen Mauer, als plötzlich irgendwo irgend etwas, etwas Kleines, etwas Winziges in Rutschen geriet. Sch-sch-scht - HALT! Ich hoffe, das ist klar genug.‹ - Es hat keinen Sinn, daß ich dir jetzt den ganzen Text aufsage. Er läuft jedenfalls darauf hinaus, daß bestimmte Fragen nie gestellt werden dürfen, weil durch sie der gesamte Bestand gefährdet würde.«  - Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. Frankfurt am Main  1986 (zuerst 1979/1983)

Rutsch (5)
Bewegung Abwärts Glitschigkeit
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